Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Inspector Lok war der Geruch von Krankenhäusern schon immer verhasst gewesen.
Dieser penetrante antiseptische Gestank, der auch jetzt wieder in der Luft lag. Nicht, dass der Inspector schlechte Erinnerungen an Orte wie diesen hatte; der Geruch erinnerte ihn einfach zu sehr ans Leichenschauhaus. Lok war seit siebenundzwanzig Jahren bei der Polizei und hatte zahllose Leichen gesehen, doch an den Geruch würde er sich nie gewöhnen - aber wer, abgesehen von Nekrophilen, findet schon etwas an toten Körpern?
Lok seufzte. Sein Herz war ihm schwerer als bei jeder Autopsie.
In seinem ordentlichen blauen Anzug stand er neben dem Krankenbett und blickte niedergeschlagen auf den Patienten hinunter: einen weißhaarigen Mann, die Augen geschlossen, das faltige Gesicht unter der Atemmaske gespenstisch bleich. Feine Nadeln durchbohrten die altersfleckige Haut der Hände und verbanden den Mann mit mehreren Überwachungsgeräten. Ein Siebzehn-Zoll-Monitor über dem Bett zeigte seine Vitalparameter an. Die Linien, die sich gemächlich von links nach rechts durchs Bild bewegten, waren das einzige Anzeichen dafür, dass der Patient noch am Leben und kein wohlpräparierter Leichnam war.
Dieser Mann war jahrzehntelang Inspector Loks Mentor gewesen, derjenige, der ihm alles beigebracht hatte, was er über die Aufklärung von Verbrechen wusste.
»Lass dir eines gesagt sein, Sonny. Man löst keine Fälle, indem man sich stur an die Regeln hält. Natürlich ist das Befolgen von Befehlen in der Truppe ehernes Gesetz, doch für uns als Polizisten ist der Schutz der Zivilbevölkerung die oberste Pflicht. Falls die Regeln dazu führen, dass ein unschuldiger Mitbürger zu Schaden kommt, oder falls der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wird, ist die Missachtung dieser Regeln ein Gebot der Vernunft.«
Mit einem traurigen Lächeln erinnerte Lok sich an die Worte, die dem alten Mann in allen möglichen Variationen so oft über die Lippen gekommen waren. Seit seiner Beförderung vor vierzehn Jahren nannten ihn alle Inspector Lok, nur sein Mentor benutzte weiter diesen albernen Spitznamen, Sonny. In seinen Augen war Lok immer noch ein Kind. Vor seiner Pensionierung war Superintendent Kwan Chun-dok Leiter der Abteilung B des Central Intelligence Bureau gewesen, des internen Informationsdiensts der Polizei von Hongkong. Das CIB war für die Sammlung und Analyse der Polizeiberichte aus den sechs Regionalkommissariaten zuständig. War das CIB das Gehirn des Polizeiapparats, so war die Abteilung B der Frontallappen, jener Teil, der für die Auswertung zuständig war, dafür, die Informationen zu sieben und zu sortieren, um aus allen verfügbaren Hinweisen Erkenntnisse zu gewinnen, die womöglich selbst Augenzeugen verborgen geblieben waren. Kwan hatte 1989 die Leitung dieser Kerngruppe übernommen und war schnell zum Spiritus Rector des CIB geworden. Constable Sonny Lok war 1997 in die Abteilung B versetzt und bald Kwans »Schüler« geworden. Kwan war nur ein halbes Jahr lang Loks Vorgesetzter gewesen, setzte aber auch nach seiner Pensionierung die Arbeit bei der Polizei als Sonderberater fort, was ihm immer wieder die Möglichkeit verschaffte, den zweiundzwanzig Jahre jüngeren Sonny Lok unter seine Fittiche zu nehmen. Für den kinderlosen Kwan war Sonny wie ein Sohn.
»Sonny, die psychologische Kriegsführung gegen einen Verdächtigen gleicht dem Pokerspiel - man muss den Gegner täuschen. Sagen wir, du hättest zwei Asse auf der Hand; in dem Fall musst du deinen Gegner glauben lassen, du hättest nur Ramschkarten; ist die Lage jedoch aussichtslos, musst du bluffen wie ein Weltmeister. Du lässt ihn glauben, dein Sieg sei greifbar nahe. Damit bringst du ihn dazu, sich zu verraten.« Wie ein Vater, der seinen Sohn das Leben lehrt, gab Kwan alle seine Tricks an Sonny weiter.
Nach vielen gemeinsamen Jahren behandelte auch Lok Kwan wie seinen Vater, und er kannte seinen Mentor in- und auswendig. Während alle anderen Kwan nur mit »Sir« ansprachen, nannte Lok ihn »Shifu«, was im Kantonesischen »väterlicher Meister« heißt. Seine Kollegen bei der Truppe hatten für Kwan alle möglichen Spitznamen: »Aufklärungsmaschine«, »Das Auge von Hongkong«, »Superermittler«, »Das Genie«. In Loks Augen traf das, was Kwans verstorbene Frau einst über ihn gesagt hatte, am ehesten auf ihn zu: »Im Grunde ist er ein fürchterlicher Erbsenzähler. Wie wäre es, ihn Onkel Dok zu nennen?«
Im Kantonesischen ist »Onkel Dok« die Bezeichnung für den geizigsten aller Geizkragen. Außerdem stimmte »Onkel Dok« zufällig mit dem zweiten Teil von Kwans Rufnamen überein. Dass er ausgerechnet jetzt an dieses alte Wortspiel denken musste, entlockte Lok ein stilles Lächeln.
Erschreckend kompetent, erbittert autark, obsessiv detailversessen - all das kennzeichnete den schrulligen Charakter, der die Arbeiteraufstände Ende der Sechziger überstanden hatte, die Korruption bei der Polizei in den Siebzigern, die brutalen Verbrechen der Achtziger, den Übergang der Staatshoheit in den Neunzigern, die gesellschaftlichen Umwälzungen zur Jahrtausendwende. Über viele Jahrzehnte hinweg hatte er still und leise Hunderte von Kriminalfällen gelöst und sich ebenso leise in der Geschichte der Polizei von Hongkong verewigt.
Doch nun stand diese Legende mit einem Fuß im Grab. Das Hochglanzimage des von ihm wesentlich geprägten Polizeiapparats von Hongkong hatte längst begonnen zu verblassen, und jetzt, im Jahr 2013, litt der Ruf seiner Profession sichtlich.
Nachdem es der Polizei von Hongkong Ende der Siebziger gelungen war, sich von der Korruption zu befreien, hatte sie sich den Ruf einer uneigennützigen, zuverlässigen Behörde erworben. Es mag auch danach noch das ein oder andere schwarze Schaf gegeben haben, doch der überwiegende Teil der Bevölkerung sah in diesen eine Ausnahme. Den großen Wandel brachte die Politik. 1997, nach der Übergabe der Kronkolonie von England an China, wurde eine Gesellschaft, die zuvor stets in der Lage gewesen war, die verschiedensten Wertesysteme friedlich in sich zu vereinen, allmählich in einzelne politische Lager zerrissen. Die Demonstrationen und Proteste wurden zunehmend hitziger, und der harte Kurs gegen Demonstranten warf die Frage auf, auf wessen Seite die Polizei in Wirklichkeit stand. Von der Polizei wurde Neutralität erwartet, doch als bei den Zusammenstößen auch Regierungseinrichtungen angegriffen wurden, schien die Polizei sich zurückzuhalten, anstatt mit der gewohnten Effizienz zu agieren. Erste Stimmen wurden laut, in Hongkong würden die Mächtigen die Gerechtigkeit mit Füßen treten und die Polizei sei deren Handlanger, die immer dann ein Auge zudrückten, wenn es um regierungsnahe Gruppierungen ging, und die nur noch den Politikfunktionären dienten.
Früher hatte Inspector Lok solche Kritik stets zurückgewiesen. Inzwischen fing er allerdings selbst an zu argwöhnen, an den Vorwürfen könnte etwas dran sein. Es gab immer mehr Kollegen, die ihre Position nur noch als Job betrachteten und nicht mehr als höhere Berufung. Sie hielten sich stur an die Regularien wie jeder andere Lohnempfänger auch.
Immer wieder vernahm Lok den Satz: »Je mehr du tust, desto mehr Fehler machst du, also halt lieber die Füße still.« Als er 1985 der Truppe beitrat, war das Ansehen eines Polizeibeamten für ihn die wesentliche Motivation gewesen - ein Polizist war jemand, der sich dazu verpflichtet hatte, den Frieden zu bewahren und für Gerechtigkeit zu sorgen. Für die Beamten der neuen Generation waren Vorstellungen wie Gerechtigkeit offensichtlich nur noch theoretische Größen. Ihre Ziele bestanden darin, sich ein einwandfreies disziplinarisches Führungszeugnis zu bewahren, möglichst schnell die Leiter hinaufzuklettern, trockenen Fußes die Pensionierung zu erreichen und sich dann auf ihrer üppigen Pension auszuruhen. Weil die Öffentlichkeit allmählich Wind von dieser immer weiter um sich greifenden Haltung bekam, sank das Ansehen der Polizei in den Augen der Bevölkerung immer weiter.
»Sonny, selbst . selbst wenn die Öffentlichkeit uns hasst, wenn unsere Vorgesetzten uns zwingen, gegen unser Gewissen zu handeln, und wir von allen Seiten unter Beschuss stehen . vergiss nie, was unsere Pflicht ist, unsere Mission . triff die richtige Entscheidung .«, hatte der Superintendent erst neulich nach Atem ringend gekeucht, ehe er wieder einmal das Bewusstsein verlor, und sich dabei an Loks Hand gekrallt.
Lok wusste sehr wohl, was mit »Pflicht« und »Mission« gemeint war. Als Leiter des Regionalkommissariats Ost-Kowloon hatte er nur einen einzigen Auftrag: die Bevölkerung zu beschützen, indem er Verbrecher fing. Wenn die Wahrheit verborgen war, bestand seine Aufgabe darin, Ordnung ins Chaos zu bringen, Ordnung als letzten Verteidigungswall der Gerechtigkeit.
Heute würde er seinen Mentor darum bitten, den letzten Funken Leben, der noch in ihm steckte, darauf zu verwenden, ihm bei der Lösung eines Falls zu helfen.
Weit unten funkelte das Licht der Nachmittagssonne auf der azurblauen Bucht und fiel blendend durch die raumhohen Fenster. Außer den gleichmäßigen Geräuschen der Apparate, die besagten, dass der Patient noch lebte, war im Zimmer nur das Klappern einer Tastatur zu hören. Es kam von der jungen Frau, die konzentriert in einer Ecke saß.
»Sind Sie so weit, Apple? Sie werden bald hier sein«, sagte Inspector Lok.
»Bin gleich fertig. Hätten Sie mir früher gesagt, dass Sie noch Änderungen an dem Programm wünschen, gäbe es jetzt nicht ein solches Durcheinander. Es ist zwar nicht schwer, die Schnittstelle zu verändern, aber die Programmierung...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.