Schweitzer Fachinformationen
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«Ihr könnt jetzt rein.»
Erik Flodin wandte sich zu dem großen weißen, zweistöckigen Haus um. Fabian Hellström, der Kriminaltechniker aus Karlstad, der mit ihm hergekommen war, stand auf der Terrasse und deutete auf das Gebäude. «Wir sind gleich fertig.»
Erik hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und richtete seinen Blick erneut auf die offene Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete.
Es war schön hier.
Der saftige Rasen, der sich bis zur Steinmauer erstreckte. Dahinter Äcker, die darauf warteten, dass das Frühjahr weiter voranschritt, und die in das dunkle Grün der Nadelbäume übergingen, denen seit kurzem die Laubbäume mit ihrem zarten, hellen Frühlingsgewand Konkurrenz machten. Über dem freien Feld segelte ein Mäusebussard und unterbrach die Stille mit seinem klagenden Kreischen.
Erik überlegte, ob er Pia anrufen sollte, ehe er hineinging. Sie würde ohnehin erfahren, was passiert war, und verzweifelt sein. Es würde die ganze Kommune betreffen.
Ihre Kommune.
Aber wenn er jetzt anriefe, würde sie Fragen stellen.
Alles wissen wollen.
Und er wusste selbst nicht mehr als das, was er von den Kollegen erfahren hatte, die bei seiner Ankunft bereits vor Ort gewesen waren.
Was hätte es also für einen Nutzen?
Keinen.
Pia musste warten, beschloss er. Er warf einen letzten Blick auf den Sandkasten, der auf der rechten Seite ein Stück vom Haus entfernt stand. Der Regen am Wochenende hatte auf der Ladefläche eines gelben Plastik-LKWs eine Pfütze hinterlassen. Daneben lagen ein Spaten, ein sandiger Transformer und zwei Dinosaurier.
Erik seufzte und ging zum Haus und zu den Toten.
Fredrika Fransson hatte neben dem Streifenwagen gestanden und schloss sich ihm nun schweigend an. Sie war als Erste eingetroffen und hatte ihn bei seiner Ankunft mit knappen Worten über das informiert, was sie wusste. Er kannte sie noch von früher. Sie hatten zusammengearbeitet, ehe er zum Kommissar mit besonderer Dienststellung befördert wurde und seine neue Position in Karlstad angetreten hatte. Fransson war eine gute Polizistin, sorgfältig und engagiert. Sie war fast zwanzig Zentimeter kleiner als Erik mit seiner Länge von einem Meter und fünfundachtzig Zentimetern und wog mindestens zehn Kilo mehr als er, und er brachte achtundsiebzig Kilo auf die Waage. Über sie hinwegzuspringen sei leichter, als um sie herumzulaufen, hatte er einmal boshafte Kollegen über sie sagen gehört. Sie selbst sprach nie über ihr Übergewicht, genauso wenig wie über andere Dinge. Fredrika war nicht gerade redselig.
Erik glaubte Schmauchgestank zu riechen, als er das Haus betrat und das erste Opfer sah. Doch es war nicht möglich, das wusste er. Der Gerichtsmediziner hatte ihm einen vorläufigen Todeszeitpunkt genannt, nachdem er die Toten kurz untersucht hatte: Sie waren vor ungefähr vierundzwanzig Stunden gestorben. Nach einer so langen Zeit gab es keine Geruchsrückstände mehr, zumal die Haustür offen gestanden hatte, als die neunjährige Nachbarstochter gekommen war, um einen Spielkameraden zu finden.
Erik zog Schuhüberzieher und Handschuhe an, ehe er das Haus betrat. Er schob einige Zweige des Osterstrauchs mit den bunten Eiern beiseite, die in einer Vase neben dem Schuhregal standen, und kniete sich neben die Frau, die rücklings auf dem groben Steinboden lag. Offensichtlich war sie das erste der vier Opfer.
Vier Tote.
Zwei Kinder.
Eine Familie.
Noch waren sie nicht zweifelsfrei identifiziert, aber Karin und Emil Carlsten besaßen und bewohnten dieses Haus zusammen mit ihren Söhnen Georg und Fred, weshalb Erik sicher war, Karin Carlsten vor sich zu haben. Sprach er mit Kollegen aus Stockholm oder Göteborg, ja selbst aus Karlstad, wunderten sie sich immer darüber, dass er nicht alle Bewohner von Torsby kannte. Schließlich stamme er doch von dort. Sei das nicht bloß ein kleines Kaff mitten im Wald? Normalerweise seufzte Erik dann nur entnervt. In der gesamten Kommune wohnten fast zwölftausend Menschen. In der Kreisstadt fast viertausend. Wer kannte in Stockholm schon viertausend Menschen? Niemand.
Nein, er war den Carlstens nie begegnet. Aber hatte er nicht schon von ihnen gehört? Waren sie nicht erst kürzlich in irgendeine polizeiliche Angelegenheit verwickelt gewesen?
«Kennst du die Carlstens?»
Er blickte zu Fredrika hinüber, die sich draußen auf der Terrasse mit den Schuhüberziehern abmühte.
«Nein.»
«Ich meine mich zu erinnern, dass wir im Winter mit ihnen zu tun hatten?»
«Schon möglich.»
«Kannst du das überprüfen?»
Fredrika nickte, entfernte den blauen Plastikschutz wieder, den sie gerade unter erheblichen Anstrengungen über ihre Schuhe gestülpt hatte, machte kehrt und steuerte auf den Wagen zu. Erik richtete seinen Blick erneut auf die braunhaarige Frau auf dem Boden, die schätzungsweise Mitte dreißig war.
Ein Loch im Brustkorb. Groß. Fast einen Dezimeter. Zu groß für eine Waffe mit gezogenem Lauf wie eine Pistole oder eine Büchse. Es passte eher zu einer doppelläufigen Flinte. Die Blutmenge auf dem Boden deutete auf ein entsprechend großes Austrittsloch hin. Erik vermutete einen aufgesetzten Schuss, eine auf den Körper gepresste Mündung. Die Pulvergase hatten sich zwischen der Haut und dem Brustbein gesammelt, und der hohe Druck hatte die Haut aufplatzen lassen und auf dem weißen Strickpullover der Frau rund um das Eintrittsloch schwarze Schmauchspuren hinterlassen. Der Tod musste sofort eingetreten sein.
Erik warf einen Blick zum Eingang. Die Frau lag einen knappen Meter davon entfernt. Als hätte sie die Haustür geöffnet, und jemand hatte ihr, ehe sie reagieren konnte, sofort ein Gewehr an die Brust gesetzt und abgedrückt. Die Wucht des Schusses hatte sie nach hinten geworfen.
Anschließend musste der Täter über sie hinweggestiegen und weiter ins Haus vorgedrungen sein.
Der erste Raum nach dem Flur war die große Küche, deren Ausstattung ein Makler sicherlich als «rustikalen Bauernstil» bezeichnet hätte. Ein gemauerter offener Kamin mit Abzug in der einen Ecke. Ein robuster Kieferndielenboden, ähnlich breite Holzlatten an der Decke. Ein Brotschieber und ein Küchenwerkzeug, das er nicht kannte, über einer Küchenbank. Zwischen den ansonsten modernen Küchengeräten ein alter schwarzer Holzfeuerofen.
Auf dem großen Kiefernholztisch standen noch immer die Reste des Frühstücks. Ein Teller mit Joghurt und Haferkissen an der Schmalseite. Der Stuhl davor war umgefallen. Ein Junge, schätzungsweise acht oder neun, lag auf dem Boden. Im Schlafanzug.
Es waren Osterferien.
Kein Unterricht hatte die Kinder gezwungen, in die Schule zu gehen. Leider, dachte Erik.
Er sah seine Theorie von der Schrotflinte erneut bestätigt, als er den Jungen eingehender betrachtete. Der eine Arm war fast gänzlich von der Schulter abgetrennt worden, und er hatte kleinere Perforierungen am Hals bis hinauf zur Wange. Weit stiebender Schrot. Wie groß war die Entfernung, wenn der Mörder von der Tür aus geschossen hatte? Zwei Meter? Drei? Jedenfalls hatten die tödlichen Projektile ihre Wirkung über den Körper ausbreiten können. Vielleicht waren sie nicht unmittelbar tödlich gewesen, aber der Junge musste dennoch schon nach wenigen Minuten verblutet sein.
Und dann?
Jemand war durch den Raum gerannt, nachdem der Junge erschossen worden war. Ein weiteres Kind. Kleine Fußabdrücke waren in dem Blut rund um den Stuhl zu sehen. Erik blickte hinüber zu dem Raum neben der Küche. Ein kleineres Wohnzimmer. Mit Fernseher und DVD-Player. Hatte der andere Sohn dort gesessen und ferngesehen? Und den Schuss gehört? Vielleicht war er schon beim ersten Knall aufgesprungen. Hatte in der Tür gestanden und gesehen, wie sein Bruder erschossen wurde. War losgerannt. Wohin? Die Spuren führten zur Treppe ins Obergeschoss.
Warum war er nicht auch in der Küche ermordet worden? Musste der Schütze sein Gewehr neu laden? Erik sah sich auf dem Boden um. Soweit er erkennen konnte, lagen hier keine Patronenhülsen. Er musste daran denken, nachher Fabian zu fragen, ob der sie eingesammelt hatte.
«Jan Ceder.»
Erik musste sich beherrschten, um nicht zusammenzuzucken. Fredrika hatte sich ihm lautlos von hinten genähert.
«Carlstens haben ihn im Dezember bei der Polizei angezeigt», fuhr Fredrika fort, den Blick auf den toten Jungen am Boden geheftet.
«Und weshalb?»
«Verstoß gegen das Jagdgesetz.»
«Welcher Art?», fragte Erik geduldig.
«Sie haben einen Film abgegeben, der zeigt, dass Ceder einen toten Wolf auf seinem Grundstück hatte.»
«Also wurde er verurteilt?»
«Bußgeld», bekräftigte Fredrika.
Erik nickte vor sich hin.
Ein Jäger.
Eine Flinte.
Natürlich bewies das rein gar nichts, denn in dieser Gegend gab es zahllose Jagdscheine und Gewehre, aber es war immerhin ein Anfang.
«Erst letzten Dienstag hat er ihnen noch gedroht.»
Damit wurde Erik aus seinen Überlegungen gerissen. Hatte er sie richtig verstanden? Mitunter war das nicht so leicht, weil Fredrika nie mehr Informationen von sich gab als unbedingt notwendig, und bisweilen nicht einmal das.
«Ceder?», fragte Erik, um sich zu vergewissern. «Hat den Carlstens noch am Dienstag gedroht?»
Fredrika nickte und drehte sich zum ersten Mal, seit sie in die Küche gekommen war, zu Erik um.
«Vor dem Schwimmbad. Mehrere Zeugen.»
Erik verarbeitete die Informationen schnell. Konnte es so einfach sein? Konnte jemand so ungeschickt sein? Beide Fragen ließen sich eindeutig mit Ja beantworten. Nur weil eine Tat brutal und gewalttätig war, musste sie noch lange...
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