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Letzte Worte waren so eine Sache. Besonders, wenn sie zum Abschied fielen. Ich konnte mich nicht erinnern, was das Letzte war, das ich zu Mom gesagt hatte, bevor ich aus der Wohnung gestürmt war. Dabei war ich mir gestern noch absolut sicher gewesen, nie mehr zurückzukehren. Es wäre also gut möglich gewesen, dass diese Worte die letzten gewesen wären, die ich jemals an meine Mutter gerichtet hatte. Und ich hatte sie vergessen.
Vermutlich war es so etwas wie »Du siehst mich nie mehr wieder!« gewesen. Also eine Lüge. Auch das noch.
Mein Herz schlug schmerzhaft fest, als ich das alte Wohnhaus betrat und die Treppen hoch in den vierten Stock lief. Alles in mir sträubte sich dagegen, diese Wohnung zu betreten, und das aus gutem Grund: Hier drin folgte ein Streit auf den anderen. Mein Magen begann schon zu schmerzen, wenn ich nur daran dachte, meiner Mutter gegenüberzutreten. Aber es musste sein.
»Mom, ich bin wieder da.« Ich lauschte in die Stille. Dass meine Schwester nicht zu Hause war, wusste ich ja. Sie war über die Feiertage zu unseren Großeltern nach Baltimore gefahren. Ich hatte nicht mit ihr kommen wollen. Aus irgendeinem Grund kam sie einfach besser mit Dads Tod klar als Mom oder ich. Etwa vier Jahre war es nun her, dass er nicht von seiner Arbeit nach Hause gekommen war. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich ihn noch deutlich vor mir sehen. Ich wollte die Feiertage nicht mit seinen Eltern verbringen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Und das nur, damit sie uns in ein paar Tagen wieder hierher zurückschickten. »Mom, wo bist du?«
Langsam machte ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo ich sie vermutete. Obwohl es bereits hell war, war die Lichterkette am Baum noch eingeschaltet. Es handelte sich dabei um einen kleinen Baum aus Plastik, den sie jedes Jahr wieder aus dem Keller hervorkramte. Meine Schwester und ich hassten dieses Ding.
Meine Mutter schlief auf der Couch. Am Boden um sie herum lagen ein paar Flaschen Eierlikör verstreut. In der Wohnung stank es so stark nach Rauch, dass meine Augen zu brennen begannen.
Mit angehaltenem Atem zog ich den Stecker der Lichterkette aus der Steckdose und wandte mich dann zu meiner Mutter um. Etwas hilflos betrachtete ich sie. Wenn ich sie weckte, würde der nächste Streit nicht lange auf sich warten lassen. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee gewesen, einfach abzuhauen. Mit einem Mal erschien mir die Vorstellung, vor unserem Dauerkonflikt wegzulaufen, gar nicht mehr so feige und perspektivlos. Ich wusste ja, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr zu diskutieren, also warum sollte ich damit meine Zeit verschwenden?
In dem Buchladen, in dem ich arbeitete, verdiente ich zwar nicht viel, aber es würde schon irgendwie für eine Wohnung reichen, in der meine Schwester und ich leben konnten. Im Notfall müsste ich noch einen Zweitjob annehmen, aber alles war besser als das hier. In ein paar Wochen würde meine Schwester achtzehn werden, und schon bald war sie mit der Highschool fertig. Dann konnte sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und war nicht mehr von unserer Mutter abhängig.
»Mom, wach auf.« Vorsichtig rüttelte ich an ihrer Schulter. Egal, wie oft und intensiv wir beide auch stritten, ich konnte nicht gehen, ohne mich bei ihr zu verabschieden. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um mich machte. »Wach auf.«
Offensichtlich widerwillig blinzelte sie mir entgegen. Als ich merkte, dass sie sich aufrichtete, machte ich einen Schritt zurück.
»Wie spät ist es?«, wollte sie wissen.
Mein Blick wanderte zur Stereoanlage. »Kurz vor zehn.«
»Und da weckst du mich? Heute ist ein Feiertag, Claire.«
Wenn es darum ging, lange zu schlafen, war für sie jeder Tag ein Feiertag. Seit dem Tod unseres Vaters ging es mit ihr bergab. Sie hatte ihren Job verloren und verließ kaum noch das Haus.
»Ich muss mit dir reden.«
Meine Mutter musterte mich etwas verwirrt. »Warum bist du denn schon angezogen? Willst du wo hin?«
Hatte sie denn schon vergessen, dass ich die Nacht nicht zu Hause verbracht hatte? Oder war ihr einfach entgangen, dass ich die Tür laut hinter mir zugeknallt und die Flucht ergriffen hatte?
Ich atmete tief durch, auch wenn der Rauch in meiner Lunge kratzte. »Ja. Ich gehe, Mom. Ich ziehe aus, ich dachte, das solltest du wissen.«
Ich wartete ab und gab ihr Zeit, das Gesagte zu verdauen. Ihr Blick ging ins Leere, und ich hatte das Gefühl, sie würde nicht so recht begreifen, was ich eben gesagt hatte.
»Mom? Hast du mir zugehört?«
»Hab ich.« Ohne mich dabei anzusehen, erhob sie sich von der Couch. Sie schwankte ein wenig, und ich hatte Angst, sie würde gleich wieder umfallen und erneut einschlafen. »Das wird ja auch Zeit. Du bist zweiundzwanzig Jahre alt, Claire. Ich dachte schon, du würdest mir ewig auf der Tasche liegen.«
Auch wenn ich mir vorgenommen hatte, ihre Worte nicht mehr an mich heranzulassen, konnte ich nichts gegen den Schmerz tun, der sich in meiner Brust ausbreitete. Ich wollte mich noch davon abhalten, aber da war es bereits zu spät. Die Worte verließen meinen Mund, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.
»Auf der Tasche liegen? Machst du Witze? Wer von uns geht arbeiten? Wer von uns macht den Einkauf und kümmert sich um Rose? Das bin ich, nicht du!«
Ohne mir eine Antwort zu geben, wandte meine Mutter mir den Rücken zu und stapfte aus dem Wohnzimmer und in die Küche. Fassungslos sah ich ihr hinterher. Das musste ich mir nicht bieten lassen! Ich ließ meine Tasche auf den Boden fallen und lief ihr hinterher. Am Küchenfenster hatte sie bereits ihren üblichen Platz eingenommen und griff nach der Packung Zigaretten, die dort bereitlag.
»Mom. Verstehst du, was ich sage? Ich gehe. Von nun an musst du dich selbst um alles kümmern. Du musst dir einen Job suchen und dein Leben auf die Reihe bekommen.«
Desinteressiert pustete meine Mutter den Rauch durch die Küche, und ich hatte das Gefühl, meine Brust würde vor Wut zerspringen. Hörte sie mir denn gar nicht zu? Glaubte sie, ich machte Witze? Ich konnte diese Gleichgültigkeit nicht mehr ertragen. Am liebsten hätte ich sie bei den Schultern gepackt und so lange geschüttelt, bis ihr altes Ich wieder zum Vorschein kam! Doch ich wusste, dass das keinen Sinn hatte.
Ich musste fest blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten, die leider nicht alle vom Zigarettenrauch stammten. Meine Hand zitterte, als ich den Haustürschlüssel aus meiner Hosentasche hervorzog. Mit voller Wucht schlug mein Herz gegen meine Rippen. Wenn ich das hier durchzog, dann gab es kein Zurück mehr. Dann war meine Entscheidung endgültig.
»Wie du willst«, sagte ich und legte meinen Schlüssel auf dem Fensterbrett neben ihrem Aschenbecher ab. »Hier, den brauche ich nicht mehr. Ich wünsche dir alles Gute.«
Nur langsam wandte ich ihr den Rücken zu und machte mich auf den Weg zur Wohnungstür, um meiner Mutter die Chance zu geben, es sich anders zu überlegen. Ich wusste, dass es töricht war, aber ich war bereit, es noch einmal mit ihr zu versuchen, sollte sie die Gelegenheit nutzen, um sich zu entschuldigen. Oder zumindest etwas zu sagen, ganz egal, was. Vor der Tür verharrte ich noch eine Sekunde, doch nichts kam.
Mit fest zusammengebissenen Zähnen trat ich durch die Tür und schloss sie leise hinter mir, um die Nachbarn nicht zu wecken. Immer noch brannten meine Augen, diesmal war ich mir sicher, dass es nicht am Rauch lag. Wie konnte sie nur so sein? Wie konnte ihr alles so egal sein? Sie war doch unsere Mutter!
Ich hatte kaum drei Stufen hinter mich gebracht, als ich erschrocken in meiner Bewegung einfror. Meine Tasche. Ich hatte meine Tasche in der Wohnung vergessen! Wie hatte mir das passieren können?
Ich fuhr herum und starrte auf die verschlossene Tür vor mir. Alles, was ich besaß, war in dieser Tasche: mein Handy, mein Geld, alles! Und den Schlüssel hatte ich vor nicht einmal einer Minute zurückgegeben.
Langsam machte sich Panik in meiner Brust breit. Was sollte ich nur tun? Ich konnte nicht zurück! Ich konnte nicht an dieser Tür klingeln und meine Mutter darum bitten, mich noch einmal kurz in die Wohnung zu lassen. Mal ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin nicht aufmachen würde. Am Ende nahm sie auch noch mein erarbeitetes Geld, um ihr Weinregal neu aufzufüllen. Allerdings war das im Moment meine geringste Sorge.
Ich dachte an gestern Nacht und die Kälte, die so tief in meinem Körper geschmerzt hatte. Das konnte ich nicht noch einmal durchstehen. Jamie würde mich bestimmt kein zweites Mal aus dem Schlamassel ziehen. Ich musste mich um mich selbst kümmern.
Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte, hob ich die Hand und klopfte gegen die fest verschlossene Tür.
»Mom!«, rief ich dabei. »Ich bin es. Ich weiß, der Moment ist beschissen, aber bitte mach die Tür auf. Ich hab meine Tasche vergessen. Ohne die muss ich heute Nacht auf der Straße übernachten.«
Vorsichtig legte ich meinen Kopf gegen die Tür, um zu lauschen. Es war absolut still in der Wohnung. Entweder Mom hatte mich nicht gehört, oder sie ignorierte mich. Vermutlich eher Letzteres.
»Mom, bitte.«
Leise Schritte drangen zu mir vor, und mein Herzschlag beschleunigte sich. Sie befand sich im Wohnzimmer, sie musste mich gehört haben! Vermutlich holte sie gerade die Tasche, denn ihre Schritte wurden lauter. Sie näherten sich der Tür.
Ich konnte meine Erleichterung kaum in Worte fassen. Auch wenn wir oft stritten, waren wir doch immer noch eine Familie. Es war also nicht zu spät, um die...
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