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Sie hat sie alle überlebt. Sie hätte etwas erzählen können – von meiner Mutter, meiner Großmutter, der Bukowina, von … Meine Tante Leni, meine kleine deutsche Tante Leni.
So leise atmet sie, dass ich im ersten Augenblick fast denke, dass sie gestorben ist, bis ich eine ganz leichte Bewegung unter der Decke wahrnehme. Leni liegt in ihrem kleinen, abgedunkelten Zimmer im Seniorenwohnheim in der Hamburger Blumenstraße; ich sitze still daneben. Ich sehne mich danach, endlich gehen zu können, an die frische Luft zu gelangen und diesem Wartezimmer des Todes den Rücken zu kehren – diesen wächsernen, entstellten Gesichtern, die geräuschvoll den wässrigen, weißen Spargel in sich hineinschlürfen. Die Haut über Lenis Gesicht ist gespannt und ihr Lächeln scheint völlig erloschen, jetzt bringt sie noch nicht einmal mehr die Kraft auf, ansatzweise zu lächeln. Diese Leni möchte nur eines – sterben. Und mich dabei an ihrer Seite wissen – zumindest glaube ich das. Sie hätte es sicher am liebsten, wenn ich mich neben ihr im Bett zusammenrollen und sie festhalten würde. Meine kleine Tante Leni, mit ihrem gebrechlichen Körper, den es bald nicht mehr geben wird, und ihrer dünnen, ergrauten Kleinmädchenfrisur.?
Leni (links im Bild) in der Blumenstraße.
Warum, ja, warum nur, habe ich ihr nie richtig zugehört?! Warum war ich nie richtig neugierig? Warum habe ich nie das Gespräch auf ihre Kindheit gebracht? Auf die schwarz gerahmten Bilder, diese Aquarelle in gedeckten blau-braunen Tönen, die neben der spärlichen Ausbeute an Dingen in ihrem kleinen Zimmer hingen und Motive eines längst entschwundenen Osteuropas zeigten, zum Beispiel? Dinge, die sie nach dem Mauerfall, als sie aus der Reginenstraße 14 in Leipzig hierher nach Hamburg kam, mitgebracht hatte.
Hat sie häufig gemalt, deine Mutter Emilie? Hat sie gesungen? Von ihrer Kindheit erzählt? Habt ihr, du und Mama, jemals eure Großmutter Cécilie kennengelernt? Hat Emilie Fritz aufrichtig geliebt, was meinst du? Wie groß war sie? Hatte sie blaue Augen? Euer Haus in Radautz, wie sah es aus? Wie habt ihr Weihnachten gefeiert? War eure Mutter gläubig? Seid ihr in die Kirche gegangen?
Mama war da ja schon nicht mehr am Leben, so unwiederbringlich für mich verloren, aber Leni, ihre kleine Schwester, lebte damals noch. Sie war sozusagen das wandelnde Gedächtnis unserer Familie, die Letzte aus Radautz und Leipzig, und als ich damit begann, sie Anfang der Neunzigerjahre im Altersheim zu besuchen, war sie bereits so gealtert, dass schon nichts anderes als diese Orte mehr für sie gegenwärtig waren.
Warum nur habe ich sie nie nach Emilie gefragt, ihrer heiß und innig geliebten kleinen maman, ihrer kleinen Mutsch, deren dunkles Haar schon so früh seine Farbe verlor und der ich – wie Mama mir erzählte – so ähnelte?
»Du bist genauso flink wie deine Oma Emilie«, hat sie gesagt.
Stattdessen sind heute, zwanzig Jahre später, meine weißen Haaren das einzige – völlig stumme – Bindeglied zwischen mir und meiner mir gänzlich unbekannten Großmutter, deren Stimme und Erzählungen ich jedoch anhand des noch vorhandenen brüchigen Quellenmaterials nachzuspüren versuche: Vergilbte Briefe, ein halb zerfallenes, fragmentarisches Tagebuch auf Französisch, ein Stoß Briefe und dann diese alten Fotos. Immerhin. Nachdem ich das halb aufgelöste, über hundert Jahre alte kleine Tagebuch mühsam entziffert habe, kann ich sie endlich hören, sehe ich sie lebendig vor mir: Emilie Redard, meine Großmutter. Mamas heiß geliebte Mutter.
Ich sehe sie vor mir mit ihren achtzehn Jahren, in einen schmal geschnittenen Rock und eine Bluse gekleidet, die den hübschen, schlanken Mädchenkörper nachzeichnen. Ihre Haare hat sie auf dem Oberkopf zu einem dicken, dunkelbraunen Knoten hochgesteckt – die Frisur einer erwachsenen Frau. Das neue Jahrhundert, das zwanzigste, hat gerade erst angefangen und sie macht sich auf, ihren Geburtsort, das Dorf Auvergnier bei Neuchâtel in der Schweiz, zu verlassen. Ein entzückendes kleines Dorf übrigens – ich habe es im Internet gefunden, an Sommerabenden spielen sie dort Jazzmusik auf dem Marktplatz. Hier sehe ich es in Emilies Fotoalbum mit hellbraunem Ledereinband, in dem man von zwei Seiten blättern kann – auf ein paar Schwarz-Weiß-Fotografien von 1902: Die eine Aufnahme zeigt einen Wagen, der von vier Pferden gezogen wird; in der weich geschwungenen hügeligen Landschaft im Hintergrund sind das Dorf mit der Kirche und ein paar niedrige Häuser zu erkennen. Hier ein Fluss, da die Brücke, auf der anderen Seite Häuser und ein winzig kleiner Zug, der am gegenüberliegenden Flussufer entlangfährt und weiße Dampfwolken ausstößt.
Ein Zug, der sie in die weite Welt hinausbringen wird; womöglich mit ihrem Fotoalbum, ihrem Tagebuch, ihrem mit Kleidern und Büchern gefüllten Gepäck. Denn Emilie stammt aus dem französischsprachigen Teil der Schweiz, in dem ein so geschliffenes Französisch gesprochen wurde, dass selbst Mädchen aus den unteren Schichten als Gouvernanten für europäische Adelsfamilien in Betracht kamen. Und Emilie wird jetzt bis nach Rumänien, nach Bukarest reisen, wo sie offenbar in einem Pensionat unterrichten soll; ganz sicher bin ich mir da aber nicht, denn ihr Tagebuch gibt keinen Aufschluss darüber. Und Leni und Mama sind tot, und es gibt auch sonst keinen mehr, den ich danach fragen könnte.
Da sitzt sie jetzt also in dem kleinen Zug. Ängstlich? Garantiert. Aufgeregt? Keine Frage. Aber sicher auch glücklich, als sie das Dorf hinter sich im Zugqualm immer kleiner werden sieht. Denn war das nicht der Traum aller Mädchen zu jener Zeit, zu Beginn des neuen Jahrhunderts – aus dem Dorf herauszukommen?
Wenngleich es da natürlich noch ihre Mutter Cécilie gab (ja, ja, wir alle mit unseren Müttern …). Das Heimweh nach ihr muss wohl doch schon nach wenigen Kilometern eingesetzt haben.
»Meine Mutter …«, schreibt Emilie in einem ihrer letzten Briefe an ihre älteste Tochter Charlotte, der aus einer ganzen Serie von eng beschriebenen Briefen, die ihre Lebensschilderung enthalten, stammt. Sie schrieb diese Briefe nicht, weil sie sie nicht dem Vergessen preisgeben wollte, sondern weil ihre heimatlose, entwurzelte älteste Tochter Charlotte – Lolotte, Lottie – sie danach gefragt hat.
»Wie war das damals, maman, kannst Du mir nicht davon erzählen?«, muss Charlotte ihrer Mutter Emilie geschrieben haben. Erzähl's mir! Und Emilie, wie sie da so im Sterben in ihrem Krankenbett lag, muss um ein paar zusätzliche Kissen als Rückenstütze gebeten, sich halb aufgesetzt und zur Feder gegriffen haben, und schreibt also, dass ihre Mutter, Charlottes Großmutter, eine fantastische Frau gewesen sei: »Cécilie Emma Redard, geborene Pfeiffer, war allerliebst, gütig und bescheiden, hatte bewundernswert kastanienbraune Haare, große, blaue Augen und ein perfekt oval geschnittenes Gesicht«, lese ich in Emilies Brief an ihre Tochter.
Aber was sollen diese Worte heißen? Zuerst denke ich, dass sie sich bis über beide Ohren verliebt hat, aber als ich meine Französischexpertin danach frage, behauptet sie, da stünde, dass sie sich in den See verliebt habe – amoureuse du lac – was so viel heißt wie »hat ihr Herz an den See verloren«.
»Meinst du wirklich?«, hake ich skeptisch nach. Aber sie beharrt darauf: Sie meint den See. Seltsame Frau, meine Uroma. Sie kam also aus den Bergen und verlor ihr Herz an einen See. Und um diesen See jeden Tag sehen zu können, lässt sie sich von einem attraktiven und geschickten jungen Mann den Kopf verdrehen und die beiden heiraten. Der See wird zu ihrem Halt im Leben und schenkt ihr Trost, als sich herausstellt, dass sich der gutaussehende junge Kerl immer häufiger sinnlos betrinkt, während sie von der Horde Kinder, die sie zur Welt bringt – alle zwei Jahre eines, die sie jeweils zwölf bis fünfzehn Monate stillt –, ganz entkräftet wird. Zehn von vierzehn Kindern überleben.
»Ich habe nie gehört, dass sie sich beklagt hätte«, bringt Emilie für ihre Tochter zu Papier, »habe nur einen gelegentlichen Stoßseufzer vernommen, sah, wie ihre großen Augen sich weiteten und sie unverwandt auf den See hinaussah, hinter dem sich das Panorama der Alpen erstreckte. Ein Moment Schweigen – dann nahm sie die Prüfung auf sich und hob, erneut lächelnd, den Blick.«
Ach ja, die Frauen damals, solche Optimistinnen, die sich durch nichts erschüttern ließen. Make the best of it, habe ich die Stimme meiner Mutter noch im Ohr.
Da ist allerdings eine Erinnerung, an der Emilie uns teilhaben lässt, wodurch das positive Bild, das sie von ihrer Mutter gezeichnet hat, Risse bekommt: Sie entsinnt sich, dass sie eines Abends so gegen zehn Uhr davon wach wurde, wie ihr Vater sternhagelvoll (nein, so drückt sie sich natürlich nicht aus, das schreibe ich) – und ohne einen Mucks von sich zu geben, denk' ich mir – mit ansieht, wie ihre Mutter ihrem Vater eine Tracht Prügel verpasst. Wenngleich vergebens. Und mir fällt auf, dass das das einzige Mal ist, dass Emilie ihren Vater erwähnt – überhaupt erwähnt.
Emilie Redard im Alter von 21 Jahren.
Und diese Frau, die sich in einen See verguckt...
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