Schweitzer Fachinformationen
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Im Folgenden soll es darum gehen, Geschmacksunterschiede im Feld der populären Musik am Beispiel von Coverversionen genauer zu untersuchen. Unter Rückgriff auf Bourdieus Kultursoziologie soll gezeigt werden, dass eine Gesellschaft, die von kultureller, aber vor allem von materieller Ungleichheit geprägt ist, sich auch in der alltagskulturellen Praxis im Feld der Popkultur reproduziert. Während Bourdieu sich auf die Abgrenzung der legitimen Kultur von der populären Kultur konzentriert,1 soll hier dargelegt werden, dass sich in den Vorlieben für Popmusik kulturelle Differenzen bekunden, die eng mit dem kulturellen Kapital verknüpft sind, das im Elternhaus, in der Schule und an sonstigen Bildungsinstitutionen und im weitläufigen Kulturbetrieb erworben wird. Nicht nur in den folgenden Ausführungen zu Geschmacksdifferenzen im Hinblick auf Coverversionen in der Popmusik, sondern auch in den weiteren Kapiteln des vorliegenden Buches – vor allem im Kapitel »Pop-Theorie und Pop-Kritik« – wird immer wieder der Versuch unternommen, kulturelle Präferenzen geschmackssoziologisch zu objektivieren.2
Während im Jahre 2003 ein Musiker wie Martin L. Gore, ansonsten bekannt als musikalischer Kopf der britischen Gruppe Depeche Mode, mit seiner CD »Counterfeit2 «, die ausschließlich aus Coverversionen besteht, im avancierten Musikjournalismus lobende Anerkennung für seine Arbeit erhält,3 ist immer wieder heftige Kritik zu vernehmen, wenn es um Coverversionen geht, die sich in den hiesigen Single-Charts erfolgreich platzieren können. So droht in einem Internet-Forum, das offenkundig hauptsächlich von Musikfans genutzt wird, die mindestens 30 Jahre und älter sein dürften, ein User oder eine Userin mit drastischen Konsequenzen, wenn es demnächst jemand wagen sollte, auch eine Coverversion eines seiner/ihrer Lieblingsstücke, nämlich »Hotel California« von den Eagles, zu produzieren: »Ja, und der erste, der es wagt, Hotel California zu verdanceflooren oder zu vertechnoen, der bekommt von mir höchstpersönlich einen Killer auf den Hals gehetzt!«4
Man könnte glauben, die Fans der hier inkriminierten »verdancefloorten« Coverversionen seien nur wenig daran interessiert, ihre Vorliebe für solche Musik wortreich in Zeitschriften und Internet-Foren zu begründen. Das wird wohl für die große Mehrheit der Anhängerschaft dieser Musik auch zutreffen, doch die nicht nur marketingstrategisch sehr geschickte, sondern ungewollt auch geschmackssoziologisch aufschlussreiche Einrichtung der »Kundenrezensionen« z.B. bei Internet-Medienversandanbietern wie Amazon5 zeigt, dass auch diese Gruppe – auch wenn die entsprechenden Texte rhetorisch eher schlicht daherkommen – am wuchernden Diskurs über Sinn und Zweck von Coverversionen teilnimmt. In den Rezensionen zu Jan Waynes Album »Back Again« schreibt jemand: »Ich weiß nicht, was die kritischen Stimmen geritten hat, aber dieses Album ist total genial für den Zweck, für den es gedacht ist: Party!« Die Gegner der Coverversionen von Jan Wayne, die im üblichen Trance-Pop-Stil gehalten sind, ereifern sich über »akustischen Sondermüll«.6
Man kann nun zu Recht fragen, was den Streit über gute und schlechte Coverversionen von der gewöhnlichen, oft polemisch geführten Auseinandersetzung über Popmusik der unterschiedlichsten Genres unterscheidet. Ein wichtiger Unterschied besteht – so ist zu vermuten – wohl darin, dass im Streit um »total geniale« oder »allerübelste« Coverversionen die jeweilige musikalische Vergangenheit der Rezipientinnen und Rezipienten zur Disposition steht. Die besondere Fähigkeit von Musik, die wohl nur noch von Gerüchen übertroffen wird, auf wie auch immer nostalgische Weise Erinnerungen an frühere Phasen der je eigenen Lebensgeschichte aufkommen zu lassen, ist an Melodie, Klang und Interpretation der jeweiligen Musik gebunden.7 Werden nun in einer Coverversion starke Veränderungen am Originaltitel im Hinblick auf die genannten Parameter vorgenommen, so stellt sich schnell bei vielen Hörerinnen und Hörer, die eine starke affektive Beziehung zum Originaltitel aufgebaut haben, Abscheu und Empörung ein. In avantgardistischen Zirkeln hingegen verwandelt sich, wie weiter unten zu zeigen sein wird, gerade die konventionell abgelehnte deutliche Distanz mancher Coverversion gegenüber dem Originaltitel in eine ästhetische Errungenschaft. Zeichnet sich die Coverversion durch eine große Nähe zum Originaltitel aus, sind zweierlei Publikumsreaktionen üblich: Die Coverversion wird als bloße Kopie verworfen oder als Reverenz an einen verehrten, möglicherweise fast vergessenen großen Künstler bzw. Song betrachtet, wofür der Interpret der Coverversion Anerkennung erhält und dem Originaltitel und seinem damaligen Interpreten quasi-kanonischer Rang (»Klassiker«) zuerkannt wird.
Um zu bestimmen, welchen Stellenwert Coverversionen in der Abgrenzung zwischen verschiedenen Publikumsfraktionen einnehmen, soll nun zunächst Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals für die Zwecke einer Analyse kultureller Vorlieben im Feld der Popkultur genutzt werden. Daran schließt sich die Diskussion folgender Fragen an: Wie lässt sich »popkulturelles Kapital« als spezifische Ausprägung kulturellen Kapitals im Hinblick auf Coverversionen bestimmen? Wer hat die diskursive Macht, Unterscheidungen zwischen künstlerisch wertlosen und künstlerisch wertvollen Coverversionen mit einer gewissen Verbindlichkeit vorzunehmen?
In seinen Forschungen zur Logik der feinen und auch groben Unterschiede hat Bourdieu stets darauf hingewiesen, dass Musikgeschmack und vor allem musikalische Praxis, die auf Beherrschung eines Musikinstruments und Notenkenntnis etc. beruht, in besonderer Weise dazu geeignet sind, ästhetische Distinktion zu markieren.8 Die Abgrenzung über ästhetische Vorlieben hat für Bourdieu eine klare soziale Funktion: Sie dient der Naturalisierung klassengesellschaftlicher Differenzen, sorgt also dafür, dass sich soziale und ökonomische Ungleichheit der politischen Thematisierung entzieht.
Dass geschmackssoziologisch relevante Unterscheidungen zwischen dem Hohen (high) und dem Niedrigen (low) auch im heterogenen und ausdifferenzierten Feld der populären Kultur selbst große Relevanz besitzen, hat verschiedene Autorinnen und Autoren dazu bewegt, in Anlehnung an Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals ein Pendant für die Erfassung kultureller Distinktionen in der Produktion und Rezeption bzw. Aneignung von populärer Kultur zu konzipieren. Popkulturelles Kapital oder terminologisch ähnliche Begriffe sollen das Wissen über Popkultur und den habitualisierten Umgang mit ihr bezeichnen. Ein Blick auf bisherige Ausführungen zu diesem Komplex, wie sie sich bei John Fiske und z. T. mit leichten Variationen bei anderen Autoren im Feld der Cultural Studies finden lassen, zeigt, dass der Begriff des popkulturellen Kapitals bislang nur recht vage umrissen worden ist. So hat man sich vorläufig noch nicht die Mühe gemacht, die von Bourdieu im Hinblick auf das legitime kulturelle Kapital vorgenommenen Spezifikationen9 auf ihre Brauchbarkeit für das popkulturelle Kapital hin zu überprüfen.
In einem ersten tastenden Versuch, dieses Defizit zu beseitigen, ließen sich folgende Unterscheidungen vornehmen. Inkorporiertes popkulturelles Kapital dürfte u.a. folgende Dimensionen umfassen: empirisches Wissen über Musikstile, das durch das Hören von Musik, den Besuch von Live-Veranstaltungen, Lektüre von Zeitschriften und Büchern, das eigene Herstellen und Aufführen von Musik etc. erworben wurde, wie auch immer elaboriertes theoretisches Wissen, mit dem Verknüpfungen zwischen popmusikalischen Phänomenen und sozialen, kulturellen und politischen Kontexten hergestellt werden können, Selbstdarstellung als popkulturell inspirierte Person durch entsprechendes Styling (Kleidung, Frisur), körperliches Gebaren (Gang, Mimik, Gestik) und durch einen wie auch immer dezent von Szenesprache durchsetzten sprachlichen Ausdruck. Wenig problematisch ist die Bestimmung des objektivierten popkulturellen Kapitals: Tonträger, Zeitschriften, Fanzines, Bücher, Musikvideos, Musikfernsehen generell, Fotos, Kleidung, Accessoires, mythisch überhöhte Orte der Popkultur (Clubs, Konzerthallen, Festivals etc.). Damit ist man beim institutionalisierten popkulturellen Kapital angelangt. Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass es mangels einer institutionalisierten Beschäftigung mit Popkultur und Popmusik natürlich auch kein derartiges popkulturelles Kapital geben könne. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich Folgendes: Zum einen lässt sich z.B. über die Mitarbeit bei angesehenen Zeitschriften, Fanzines und Labels, aber natürlich für aktive Musikerinnen und Musiker über das Spielen und Auftreten in angesehenen Bands bzw. als Solomusikerin quasi-institutionelles popkulturelles Kapital akkumulieren, zum anderen kommt mittlerweile auch im wissenschaftlichen Betrieb allmählich eine intensive Beschäftigung mit popkulturellen Phänomenen in Gang, die den Erwerb von zumindest prinzipiell ökonomisch verwertbaren Qualifikationen ermöglicht.10
Was ist nun mit diesen Erläuterungen zum Begriff eines popkulturellen Kapitals gewonnen? Zunächst einmal ist offenkundig, dass der allerdings wenig planbare, meist nur recht kurzfristige kommerzielle Erfolg im Pop-Business wesentlich davon abhängt, popkulturelles Kapital...
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