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? TURNU ROSU / MUNTII FAGARAS, RUMÄNIEN | 3. BIS 11. AUGUST 1989
? VARNA, BULGARIEN | 12. AUGUST 1989
Einen Schritt zurück. Erst an diesem Morgen des 12. August 1989 sind die vier mit dem Zug aus Bukarest über den Grenzübergang vom rumänischen Negru Voda ins bulgarische Kardam nach Varna an die bulgarische Schwarzmeerküste gefahren. Vier junge Männer, gelöst und heiter, sind nach zwölf Tagen strapaziöser Bergwanderung in Rumänien im entspannten Teil ihres Urlaubs angekommen. Sie hatten keine anderen Punkte mehr auf der imaginären Liste als: Zeltplatz erobern, Meer begrüßen.
Campingplätze gab es in Varna reichlich, auch in diesem Sommer hatten auch Deutsche ihre Zelte aufgeschlagen. Waren es mehr als sonst? Die vier hätten sich nicht darüber gewundert, hätten sie darüber nachgedacht: Es waren Sommerferien in der DDR. »Es bleibt ein unumstößliches Gesetz der Geschichte, daß sie gerade den Zeitgenossen versagt, die großen Bewegungen, die ihre Zeit bestimmen, schon in ihren ersten Anfängen zu erkennen.« (WVG, 406) Routiniert bauten sie die Zelte auf, in denen sie seit Anfang August Nacht für Nacht unter wechselnden Himmeln übernachtet hatten, auch er, obwohl er sich auf Abruf fühlte, jeden Tag einwarf, dass er bald abfahren würde, früher als die andern, in ein paar Tagen, übermorgen vielleicht. Er hörte es sich sagen, wieder und wieder, und glaubte doch selbst nicht daran. Zu perfekt der Sommer, der sie umgab, mit milder Wärme und strahlendem Blau zu beiden Seiten des Horizonts.
Es war die Zeitung, die den Urlaub in ein Davor und ein Danach zerschnitt. Eine Süddeutsche, sicher einige Tage alt, es konnte dauern, bis die Zeitung in den bulgarischen Urlaubsorten verfügbar war. Ihr Datum die erste zeitliche Orientierung seit Langem.
Er konnte nicht anders, als die Seite herauszureißen und einzustecken, etwas in ihm hatte sich entschieden. Er wurde ein anderer mit diesem Stück Zeitungspapier in der Tasche seiner Jeans.
Was hast du denn? Oles Frage, als die drei vom Baden zurückkamen. Zumindest ihm blieb die Veränderung nicht verborgen.
Schon der 12. August, hab ich auf der Zeitung gesehen. Ich glaub, ich fahr heute wieder. Ich hab mich mit dem Urlaub verkalkuliert. Dachte, wir wären Mitte des Monats längst zu Hause.
Er schämte sich, weil sein Vorwand so lächerlich unbeholfen klang.
Echt?
Nicht dein Ernst!
Verrückt. Kann auch bloß dir passieren.
OleRainerMarc. Noch nass vom Meer und betört vom makellos blauen Himmel auf ihren Handtüchern liegend, fehlten ihnen Kraft und Interesse nachzufragen. Ihre Irritation über seinen Aufbruch war spürbar. Unvorstellbar eigentlich, dass jemand dieses Paradies verlassen wollte, noch bevor seine Haut ein erstes Mal Meerwasser geschmeckt hatte. Doch sie mischte sich schnell mit dem betäubenden Flirren der Luft in der ungewohnten Helligkeit und Wärme und der Geräuschkulisse eines lebendigen Strandtags. Auf ihren vier Handtüchern lagen ihre Köpfe eng beieinander, von oben ein gleichmäßiger, vierzackiger Stern Mensch. In ihren Köpfen aber trieben sie weit auseinander, jeder mit eigenen Gedanken beschäftigt, die eine anstrengende Reise und die Wucht neuer Eindrücke ausgelöst hatten.
Und tatsächlich: Noch in den Abendstunden desselben Tages brach er auf. »Auch wenn es nicht leicht war, dieses Paradies zu verlassen«, wird er später erzählen. Man soll gehen, wenn es am schönsten ist.
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Noch einen Schritt zurück. Wenn er später von diesem Urlaub erzählen wird, wird er beschreiben, wie viele Extreme auf dieser Reise aufeinanderprallten: »Am 2. August 1989 haben wir vier den Grenzübergang vom ungarischen Lökösháza ins rumänische Curtici passiert. In Rumänien fuhren wir nach Sibiu, Hermannstadt, und von dort weiter nach Turnu Rosu, Schweinsdorf. Für uns war das eine sonderbare Zugfahrt, wie aus der Zeit gefallen: ein ganz altertümlicher Zug, draußen vor den Fenstern Schafherden, kleine Ortschaften, in denen die Menschen Hühner vor den Häusern hielten. Drinnen im Zug Rumänen, von denen einer offenbar von einem DDR-Urlaub zurückkam. Nie werde ich die Hingabe vergessen, mit der er den kleinen altmodischen Koffer auf seinen Knien öffnete und, immerzu lächelnd, in den Händen wog, was er mitgebracht hatte: Kaffee, Zucker, Schokolade, alles aus der DDR.« Ein seltener Blick von außen auf das Land, das er dabei war hinter sich zu lassen. Ein Moment, in dem er es vermisste. »Später, wenn wir spazieren gingen, konnten wir uns, obwohl so weit weg von der DDR, ein wenig mit der Bevölkerung austauschen: Meist wurde dort noch Deutsch gesprochen.«
Die vier fielen auf in Siebenbürgen, nicht nur, weil sie deutsch sprachen. Es kamen selten Touristen in diese abgelegene Gegend. »Tiefste Ceaucescu-Ära«, wird er die Atmosphäre später beschreiben, »fast alle waren schwarz gekleidet. Damals konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass es irgendwo noch weniger Farbe geben könnte als in der DDR. Es ging tatsächlich.« In Turnu Rosu packten die vier ihre Mitbringsel aus. Viele Päckchen DDR-Kaffee reihten sich in den Zelten aneinander, die Währung für diesen Teil des Urlaubs. »Das war extrem: Wir mussten unsere komplette Verpflegung und genug DDR-Kaffee im Gepäck haben, den wir gegen deren Lebensmittelmarken eintauschen konnten, damit wir dort Brot bekamen. Das ging, denn Brot hatten sie reichlich gegen Lebensmittelmarken, während Kaffee das Höchste für sie war. Den gab es dort nicht zu kaufen.« Die Organisation von Brot kostete die vier einige Zeit. In Rumänien standen die Menschen trotz der Lebensmittelmarken für Grundnahrungsmittel Schlange. Sein Kopf konnte gar nicht anders, als zu melden: Wie gut es uns geht. Ein Maßstab rückte sich zurecht.
Obwohl die hiesige Bevölkerung sie vor den Gefahren im Gebirge gewarnt hatte, obwohl eine ältere Frau ihnen eingeschärft hatte, es sei lebensgefährlich, wagten die vier den Aufstieg, um tagelang in den Muntii Fagaras, einem Gebirge in den Karpaten, zu wandern. Die Nächte verbrachten sie in ihren Zelten auf Almwiesen. Schnell wurde es ein Urlaub der Hätten-wir-vorher-gewusst-dass-Gedanken: »Je weiter unsere mehrtägige Wanderung fortschritt, desto schwieriger wurden die Wege.« Oft liefen sie über schmale Stege, die sie nur hintereinander betreten konnten. »Wir haben geschwitzt wie noch nie, hatten Rückenschmerzen, weil wir ja immer die Rucksäcke bei uns tragen mussten. Sicherheitsmaßnahmen, etwa Drahtseile, Geländer, ausgezeichnete Wege oder gar eine Bergwacht, gab es nicht. Undenkbar, dass ein Hubschrauber zur Stelle gewesen wäre, wenn einem von uns etwas passiert wäre. Heute würde ich dieses Risiko nicht mehr eingehen.« Damals war jeder der vier bereit dazu. Zu viel ungenutzte Kraft, zu viel unausgesprochene Wut, zu viel Druck ohne Ventil. »Das war schon ein bisschen lebensmüde, ja. Das hat gepasst, in diesem Sommer.«
Ole, Rainer, Marc und er, im Gebirge auf schmalen abschüssigen Pfaden einen Schritt vor den anderen setzend, schwiegen. Zwei Freunde vor ihm, einer hinter ihm. Sie redeten längst nicht mehr, weil das Laufen ihre ganze Konzentration forderte. Die schweren, breiten Rucksäcke richteten Barrieren zwischen ihnen auf, ließen den Abstand zu groß werden, als dass sie neben dem eigenen atemlosen Keuchen auch das des Vorder- oder Hintermannes hätten hören können. Zwischen Ole, Rainer und Marc und doch allein. Einmal rutschte er ab, zum Schrecken aller. Es blieb beim Schrecken, der in seinem Kopf die Dinge verrückte. Mit einem Mal lag ein Gedanke frei: Kann man mit Gott handeln? Wenn ich das hier schaffe, dann schaffe ich es auch über .
Er machte es allein mit der Musik im Kopf aus. Kate Bush. »If I only could I'd make a deal with god.« Die Erinnerung an ihr Lied blieb bruchstückhaft, doch die Bruchstücke wurde er nicht los. »Be running up that road be running up that hill.« Die Platte hing, der Kopf drohte zu zerspringen.
Noch einen Schritt weiter zurück. Wenn er später von diesem Urlaub erzählen wird, wird er bei den Vorbereitungen anfangen: Vier Kollegen, die ihren Urlaub gemeinsam organisierten. Die CSSR und Ungarn sollten als Transitländer für die Zielländer Rumänien und Bulgarien fungieren. Am 25. Juli 1989 tauschte er Geld bei der Staatsbank Erfurt, vorgegebene Tagessätze, über die der finanzielle Handlungsspielraum in den wenigen zugelassenen Urlaubsländern gesteuert wurde. Zwei Urlaube in einem sollten es werden, zuerst Rumänien, eine fordernde Zeit im Gebirge, dann Bulgarien, ein entspannter Badeurlaub am Schwarzen Meer. »Für uns der pure Luxus, ein Urlaub, wie ich ihn bisher noch nicht erlebt hatte. Zu Hause hatten wir nur die kalte Ostsee, in Urlauben häufig den Balaton, der ja auch nur ein See war.« Man wird, wenn er davon erzählt, seiner Stimme anmerken, dass es ihm heute noch leidtut, im Paradies gar nicht angekommen zu sein, nur für einen Tag auf der Schwelle gestanden zu haben, während ihm der anstrengende Teil des Urlaubs noch in den Knochen saß. Ein Doppelspiel mit harten Regeln. »Ich musste erst den Urlaub mitmachen, sonst hätte ich das meinen Kollegen nicht klarmachen können mit dem Abbruch der Reise. Die hätten vielleicht Meldung gemacht, bevor ich zu Fuß die Grenze erreicht gehabt hätte. Einer von uns war nicht ganz so staatskritisch, manche meiner Freunde hatten den Verdacht, dass er bei der Stasi war. Bei so einem Plan geht man natürlich auf Nummer sicher und sagt es niemandem.«
Ob das glaubhaft war? Ob es die gleiche Blindheit für den Augenblick war, die Ole, Rainer und Marc nicht weiterfragen und ihn, der er im Kopf so weit war,...
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