Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Laurits Kronberg öffnete die gläserne Schiebetür und trat nur mit einem Handtuch bekleidet auf die Terrasse. Vor ihm lagen die Ho Bugt, der Strand und das Wattenmeer. Eine leichte Brise wehte von der Nordsee an die Küste, doch der Himmel war wolkenfrei, und die ersten Sonnenstrahlen versprachen einen weiteren warmen Spätsommertag. An der Strandpromenade waren trotz der frühen Uhrzeit bereits erste Jogger zu sehen. An den dahinterliegenden Pfählen, die zur Messung der Gezeiten dienten, spielten ein paar Kinder Fußball.
An diesem Morgen herrschte Ebbe, und Laurits konnte von seinem Platz aus die dunklen Miesmuschelbänke erkennen. Ein schwarz-weißer Vogel kreiste auf Nahrungssuche über den mit Wasser gefüllten Vertiefungen, wo Fische, Quallen und Krabben lebten.
Laurits liebte die Nordsee mit ihren Gezeiten, wenn das Wasser ablief, sodass der darunterliegende Meeresboden zum Vorschein kam, nur um Stunden danach wieder seinen Höchststand zu erreichen. Schon als Kind war er mit seinem Vater stundenlang barfuß durchs Watt gelaufen, auf der Suche nach Muscheln und Wattwürmern, die sich tief im Sand vergruben.
Jetzt war sein Vater alt, die Kinder groß, und er selbst würde in ein paar Jahren das Rentenalter erreichen.
Laurits ging zurück ins Schlafzimmer und ließ dort das Handtuch von seinen Hüften gleiten, um sich anzuziehen. Auf dem Bettlaken war noch eine leichte Mulde von Esthers Körper zu erkennen. Sie musste früh aufgestanden sein. In der Luft hing noch ein Hauch ihres Parfüms. Leicht orientalisch und sinnlich.
Fünf Minuten später ging er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Sie hatten das Haus in Esbjergs Vorort Hjerting zwanzig Jahre zuvor nach ihren Wünschen und Bedürfnissen von einem Architekten planen lassen. Drei versetze Wohnebenen in einem kubischen Bau mit Flachdach und umlaufendem Balkon, weißer Fassade mit schwarzen Industriefenstern und einer Dachterrasse mit Meerblick. Das obere Geschoss beherbergte die Schlafräume und Badezimmer von ihm und seiner Frau sowie den drei Kindern, im ausgebauten Souterrain lebte sein Vater, das Erdgeschoss nutzten alle gemeinsam.
Die Küche, die direkt in den großzügigen Wohnraum überging, war nach oben hin offen und bot einen Blick zu den deckenhohen Bücherregalen auf der Galerie. Helles Holz, weiße Leinenstoffe und Sisalteppiche auf Eichenparkett, an den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotografien von Segelbooten.
Christian, sein jüngster Sohn und Nachzügler, saß am Küchentisch und löffelte Cornflakes.
Laurits verzog das Gesicht. Er konnte nicht verstehen, dass Esther das Zeug immer noch kaufte. Stärke, Kohlenhydrate und viel zu viel Zucker.
»Hej, Papa.« Chris schaufelte sich einen weiteren Löffel der Pampe in den Mund. Dabei lief ihm etwas Milch das Kinn hinunter.
»Chris«, ermahnte Laurits seinen Sohn.
Grinsend wischte sich sein Jüngster das Kinn mit einer Serviette ab.
Laurits nahm eine Tasse aus dem Regal, stellte sie unter den Ausguss des Kaffeevollautomaten und drückte den Startknopf. Es zischte einmal kurz, und die Tasse füllte sich mit dampfender Flüssigkeit.
»Wo steckt Mama?«
Ehe sein Sohn antworten konnte, kam Esther mit einem Tablett in die Küche und gab ihrem Mann im Vorübergehen einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Sie war wie jeden Tag elegant gekleidet, trug ein eng anliegendes flaschengrünes Kleid, das die Vorzüge ihres Körpers an den richtigen Stellen betonte. Ihr rotbraunes Haar fiel in leichten Wellen bis auf die Schultern. Sie war eine dieser alterslosen Schönheiten, die mühelos als Ende dreißig durchgingen, in Wirklichkeit aber über zehn Jahre älter waren. Sie hatten noch immer Sex, aber keine Nähe. Ihre Liebe war schon vor Jahren auf der Strecke geblieben.
Der Teller mit dem Rührei und die Tasse Tee auf dem Tablett, das Esther auf dem Küchentresen abstellte, waren unberührt.
»Wie geht es ihm?« Laurits griff nach seiner Kaffeetasse und deutete mit dem Kopf Richtung Souterrain.
»Fabelhaft.« Esther klang gereizt. Ihr deutscher Ursprung war ihrer Stimme auch nach all den Jahren noch anzuhören. »Er hat sich sein Frühstück selbst zubereitet.«
»Und das stört dich offensichtlich«, stellte Laurits fest. Er trank einen Schluck Kaffee. »Hat er gesagt, warum er nicht mit uns zusammen essen will?«
»Aksel ist ein störrischer alter Mann, dem man nichts recht machen kann.« Seine Frau zog ein Messer aus dem Messerblock, langte nach einem Apfel und zerteilte ihn auf dem Schneidebrett mit einem kräftigen Hieb in zwei Hälften. »Weder hier noch in der Firma.«
Laurits nickte. Sein Vater ging stramm auf die Hundert zu. Ein stolzes Alter, in dem sich die meisten Menschen, die es erreichten, zurücklehnten und die Fürsorge ihrer Enkel und Urenkel genossen, zumindest wenn sie nicht im Bett eines Pflegeheims wundgelegen vor sich hin dämmerten.
Aksel Kronberg war ein anderes Kaliber. Mit seinen neunundneunzig Jahren ging er noch immer aufrecht und war bei wachem Verstand, hielt mit bewundernswerter Beharrlichkeit am Leben und an seiner Firma fest.
Sein Vater hatte Oricon Medical Care, ein Unternehmen für Medizintechnik, Anfang der Neunzehnhundertfünfziger-Jahre aufgebaut. Mittlerweile beschäftigte OMC mehr als dreihundertachtzig Mitarbeiter und vertrieb seine medizinischen Produkte nicht nur in ihrem Hauptabsatzmarkt im Inland, sondern zunehmend auch im Ausland. Aksel hatte die Geschäftsleitung schon vor Jahren in die Hände seines Sohnes gelegt, doch als Hauptanteilseigner und Aufsichtsratsvorsitzender besaß er noch immer ein Mitspracherecht, und das setzte er auch ein. Alle hatten nach seiner Nase zu tanzen. Dabei hielt sein Vater an Altbewährtem fest, sprach sich gegen Neuerungen aus und stemmte sich mit aller Kraft gegen den Aufschwung. Immer häufiger kam er zudem auf absurde Gedanken oder »Flausen«, wie Esther es nannte, die dem Unternehmen eher schadeten, als es voranzubringen.
Es wurde Zeit, dass sein Vater das Zepter komplett an die jüngere Generation abgab, damit die Firma die Chance bekam, weiter zu wachsen und zu einer ernsthaften Konkurrenz für die weltweit führenden Anbieter zu werden.
Laurits fiel auf, dass seine Frau unter ihrem dezenten Make-up ungewöhnlich blass war. Hoffentlich machte sie nicht schlapp. Er brauchte sie an seiner Seite.
Esther hatte ein unvorhersehbares Temperament, und ihre Wankelmütigkeit hatte bereits für viel Zündstoff in ihrer Ehe gesorgt. Trotzdem waren er und seine Frau unlösbar miteinander verbunden, nicht nur wegen der Kinder.
Während er der solide Unternehmer war, der Konten und Bilanzen im Auge behielt und die strategisch richtigen Entscheidungen traf, war Esther das Herz der Firma. Sobald sie einen Raum betrat, zog sie nicht nur sämtliche Aufmerksamkeit auf sich, sondern bezirzte potenzielle Auftraggeber zielstrebig mit Intelligenz und Charme. Zahlreiche ihrer Geschäftsbeziehungen hatte OMC allein ihr zu verdanken, und sie war es auch, die sich für eine knallharte Rationalisierung und eine Umstellung und Auslagerung der Produktion ins Ausland aussprach, um ein noch größeres Wachstum zu generieren. Zudem war sie die einzige Person, die sich traute, seinem Vater die Stirn zu bieten.
Vielleicht konnten er und Esther nicht über ihre Ehe reden, doch die Firma war ihr gemeinsames Projekt, und sie beide waren ein eingespieltes Team.
»Soll ich mal mit meinem Vater sprechen?«, bot er halbherzig an.
»Gib dir keine Mühe.« Esther spülte das benutzte Messer im Spülbecken ab. »Er ist gerade in ein Taxi gestiegen. Keine Ahnung, was er jetzt wieder vorhat.«
Die siebzehnjährige Freja schlenderte in die Küche. Sie war eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter, allerdings nicht, was die Kleidung betraf. Ihr Jeansrock war zu kurz, das T-Shirt zu knapp und das Make-up zu großzügig aufgetragen.
»Ist hier dicke Luft? Dann verziehe ich mich gleich wieder.« Freja schnappte sich eine der Apfelhälften und blickte argwöhnisch von einem Elternteil zum anderen.
»Nein, setz dich und iss.« Esther schob ihrer Tochter die Cornflakes und die Milchtüte neben ihre Müslischüssel.
Laurits kippte den Rest Kaffee hinunter. »Ich fahr schon mal in die Firma. Wir sehen uns dann später dort.«
Esther nickte, ohne ihn anzusehen.
Er ging in den Flur, griff nach seiner Arbeitstasche, die er am Vorabend dort abgestellt hatte, und verließ das Haus.
Kurz darauf lenkte Laurits seinen Wagen die Küstenstraße Richtung Esbjerg entlang. Ein strahlend blauer Himmel lag über der Ho Bugt und präsentierte Hjerting als schönste Postkartenidylle. Ein unruhiges Gefühl machte sich in ihm breit.
Um Punkt neun Uhr stieß Rasmus in vorgeschriebener Schutzkleidung die Tür zum Obduktionssaal der Kieler Rechtsmedizin auf.
Gekachelte Wände, Metallregale, Obduktionstische aus rostfreiem Edelstahl. Die Institute sahen überall ähnlich aus. Die klimatisierte Luft und die Desinfektionsmittel, die den stechenden Verwesungsgeruch nie gänzlich überdeckten, waren nahezu identisch. Nur die Menschen unterschieden sich. Die Lebenden wie die Toten.
»Moin, Rasmus«, begrüßte ihn Vibeke Boisen, die bereits neben dem Obduktionstisch stand, auf dem die entkleidete Leiche eines Mannes lag.
»Hej!« Rasmus nickte der Rechtsmedizinerin zu, die genau wie ihr assistierender Sektionsarzt in einen grünen Kittel mit Plastikschürze gekleidet war. »Rasmus Nyborg von der Polizei Esbjerg.«
Graue Augen zwischen Mundschutz und Haube...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.