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(1725-1732)
John Newton wachte auf. Um ihn herum herrschte undurchdringliche Finsternis. Er blieb reglos liegen, die vom Schlaf verklebten Augen halb geschlossen. Im Haus herrschte absolute Stille. Niemand rührte sich, weder das alte Ehepaar, das im Raum nebenan schlief, noch die Magd unten in der Spülküche. Doch da war etwas, das ihn rief und ihn drängte, unter der steifen Baumwolldecke hervorzukriechen, die sein Vater von einer seiner vielen Seereisen mitgebracht hatte. Alexandria? Venedig? John konnte sich nicht mehr erinnern. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Er strampelte die Decke zur Seite und schlich sich in die Dunkelheit. Er musste sich sputen. Schließlich passierte es nicht jeden Tag, dass ein Junge eine Leiche zu Gesicht bekam.
Das Zimmer war ihm fremd, doch er zündete keine Kerze an. Seine Flucht war gut vorbereitet. Am Abend zuvor hatte er seine Kleider ordentlich zurechtgelegt. Seine gelben Wollstrümpfe, seine dunkle, samtene Kniehose mit Spangen, den langen Mantel, von dem die Leute sagten, er sehe darin aus wie eine Miniaturausgabe seines Vaters. Geräuschlos zog er sich an, um niemanden im Haus zu wecken. Er hatte keine Ahnung, was sie tun würden, wenn sie bemerkten, dass er so früh schon auf war. Sie waren nette Leute, gute Menschen, die mit seiner Mutter befreundet waren. Vielleicht hätten sie kein Problem damit, dass ein sechsjähriger Junge sich allein auf die Straßen Londons hinauswagte, aber es war besser, es nicht darauf ankommen zu lassen. Das Abenteuer war das Risiko wert, denn es wurde gemunkelt, dass die Leiche, die am Galgen hing, einer der zurzeit berüchtigtsten Piraten sei.
Tastend schlich er sich die Treppe hinunter. Als er auf die Straße trat, hatte die tiefe Schwärze des Himmels gerade begonnen, einem bläulichen Grau zu weichen. John kannte sich in den Straßen von Wapping weit besser aus als in dem Haus, in dem er lebte, seit sich die Gesundheit seiner Mutter verschlechtert hatte, und so lief er rasch durch die engen Straßen und Gassen. Vorbei an stillen, leblosen Häusern, von denen er wusste, dass dort Tischler und Schiffszimmerleute, Fassbinder, Abdichter und Bootsbauer lebten - Männer, mit denen sein Vater Geschäfte machte, wann immer er zu Hause war. Sorgfältig achtete er darauf, nicht in die Abwasserbäche zu treten, die von den Straßen in die Themse strömten. Er wusste nur zu gut, welch fauligen Geruch sie im Lauf dieses Sommertages verbreiten würden. Die Leute nannten das den »üblen Gestank« und er war einer der Gründe dafür, dass er beschlossen hatte, seinen Ausflug bereits bei Tagesanbruch zu unternehmen, wenn die Luft noch kühl war. Es gab jedoch noch weitere Gründe, etwa den, dass sich so früh am Morgen noch keine Menschenmengen gebildet hatten. So kam er nah genug an den Leichnam heran, um ihn in seiner ganzen gefolterten Pracht zu sehen. Und wenn es nötig war, könnte er ohne Schwierigkeiten weglaufen.
Nach wenigen Minuten bog er um die letzte Ecke und stand direkt vor der Themse. Der Fluss war stark angeschwollen, wie fast immer. So oft hatte er das schon gesehen, dennoch konnte er nicht vorbeigehen, ohne anzuhalten und auf das fließende Reich zu blicken, das sich vor ihm ausbreitete. Hunderte Schiffe aller Größen und Bauarten tummelten sich auf dem Fluss. Brigs und Snows, einmastige Schaluppen und Zweimastschoner, alle für ihren besonderen Zweck gebaut und ausgerüstet. Für jedes dieser Handelsschiffe standen vier oder fünf Schleppkähne bereit. Einige von ihnen beförderten Zollbeamte, die sicherstellten, dass die Zölle korrekt bezahlt wurden, andere brachten Versorgungsgüter auf die Schiffe, die darauf warteten, weiterfahren zu können. Dem florierenden britischen Seehandel waren keine Grenzen gesetzt.
Während John seinen Blick über die Szenerie schweifen ließ, registrierte er jede Veränderung gegenüber dem Tag zuvor. Er kannte einige der Schiffe beim Namen und die, die er nicht kannte, konnte er lesen wie die Worte in einem Gesangbuch. Als Sohn eines Kapitäns fiel es ihm leicht, die Schiffe, die in der Nordsee oder dem Mittelmeer Handel trieben, von jenen zu unterscheiden, die bis zu den Ostindischen Inseln fuhren und Seide und Gewürze mitbrachten. Am einfachsten zu erkennen waren die Schiffe, die nach Süden an die guineische Küste Afrikas fuhren, bevor sie ihre menschliche Fracht über den Atlantik beförderten und sich beladen mit Zucker, Rum und Tabak von den Passatwinden nach Hause treiben ließen. Mit den eingezäunten Quartieren an Deck und den Netzen, die die Menschen davon abhalten sollten, über Bord zu springen, waren die Sklavenschiffe die einzigen, die wie schwimmende Gefängnisse aussahen.
John blieb am Themseufer stehen, bis sich die Sonne in den Himmel erhob. Als er ihre Strahlen auf dem Gesicht spürte, wandte er sich ab. Flussaufwärts lag der Rest von London, aber er hatte kein Interesse am Parlament oder den Palästen. Flussabwärts war es, wo er hinwollte. Irgendwann würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten, über den Ozean fahren und den Rest der Welt entdecken. Aber zuerst würde er an den Ort gehen, der ihn den ganzen letzten Tag beschäftigt hatte: das Execution Dock - der Hinrichtungsplatz am Ufer der Themse.
John ging, so weit er konnte, an der Themse entlang, bevor die Straße ihn wegführte. Er passierte Geschäfte und Gärten, die ihm so vertraut waren wie die wärmende Umarmung seiner Mutter. Als die Luft von dem Gestank nach Schweiß und Tabak, Rum und Zucker erfüllt wurde, beschleunigte er seine Schritte. Auch wenn sich sein Vater weit entfernt auf dem Mittelmeer befand und für Monate nicht zurückkehren würde, verspürte John nicht den Wunsch, sich in der Nähe von Kapitän Newtons Lieblingskaffeehaus aufzuhalten. Sein Instinkt hatte ihn gelehrt, die großmäuligen Männer mit dem stechenden Blick, die sich dort häufig aufhielten, zu meiden, wann immer es möglich war.
Der Seehandel wurde von großen Männern mit lauten Stimmen und derber Sprache beherrscht, die ihre Stellung mittels einschüchterndem Gehabe zu verteidigen wussten. John war vom Tag seiner Geburt an von ihnen umgeben gewesen. Er hatte gelernt, dass ein Mann, der draußen auf dem Meer Macht besaß, der Mannschaften von rebellischen Matrosen befehligte und mit Piraten und Freibeutern umzugehen wusste, mit Ehrfurcht und Respekt behandelt werden wollte. Selbst in seinem eigenen Haus. Besonders von seinem einzigen Sohn. So hatte John gelernt, seinen Vater niemals anders als »Sir« anzusprechen, in der Öffentlichkeit stets zehn Schritte hinter ihm zu gehen und seinen Blick schnell auf den Boden zu richten, wenn der Zorn seines Vaters aufflammte. Eines der Geschenke, die der Vater John gegeben hatte, war die Furcht. Dazu eine steife Baumwolldecke, die zum Zudecken in etwa so gemütlich war wie ein Tuchsegel.
John näherte sich dem Execution Dock zum zweiten Mal in ebenso vielen Tagen. Doch der Anblick, der sich ihm jetzt, am frühen Sonntagmorgen, bot, hätte nicht unterschiedlicher sein können als der gestern Nachmittag. Am Samstag hatten sich dort Tausende jubelnder, ausgelassener Menschen gedrängt. Sie waren über die gesamte Länge des Docks und die Treppen unterhalb davon geströmt, um sich dann in der Hoffnung auf eine bessere Sicht am nahe gelegenen Flussufer aufzureihen. John hatte versucht, sich zwischen ihnen hindurchzuzwängen, doch ohne Erfolg. Er wurde von allen Seiten eingekeilt wie ein Schiff, das im bitterkalten Norden im Eis feststeckt. Er war gezwungen gewesen, von einem Platz weiter flussabwärts die Ereignisse so gut wie möglich aus einiger Entfernung zu verfolgen.
Mit all den jubelnden und lachenden Menschen hatte sich die Prozession eher angehört wie ein Karnevalsfestzug als wie ein Todesmarsch, während sie sich vom Tower of London zur London Bridge hinunterbewegte. John hatte nur einen kurzen Blick auf den Obersten Hofmarschall erhascht, der die Prozession als Zeichen seiner Autorität mit einem silbernen Stab in der Hand anführte. Hinter ihm, vermutete John, fuhr der Wagen mit dem todgeweihten Mann und dem Kaplan, falls der Verurteilte den Wunsch verspürte, seine Sünden zu beichten.
John hatte nicht sehen können, wie sich der Mann dem Galgen näherte. Er hatte nicht hören können, ob er Worte an die Menge richtete oder nicht. Doch er hatte das Jubeln der Menge gehört, als sich die Schlinge zuzog und der Strang seinen Zweck erfüllte.
Nach dem Ende des gestrigen Unterhaltungsprogramms war John nun fast allein, als er sich dem Dock näherte. Es herrschte Ebbe. Auf dem breiten Streifen, von dem sich das Wasser zurückgezogen hatte, waren dunkler Schlamm, Gesteinsbrocken und Abfall zu sehen. Weiter oben am Ufer, jedoch nah genug am Fluss, um bei Flut fast komplett im Wasser zu versinken, ragten die Galgen empor. John war fast täglich dort vorbeigegangen, doch er hatte noch nie gesehen, dass jemand daran hing. Oft hatte er auf die glitschigen Algen gestarrt, die sich um die Pfähle schlangen und sie aussehen ließen, als seien sie Überbleibsel eines lange verlassenen Schiffswracks. Er hatte seiner Mutter unzählige Fragen gestellt - warum die Galgen so nah am Wasser gebaut worden waren und welche Verbrechen die Männer begangen hatten, die dort bestraft wurden. Ihr Antworten waren stets sehr knapp gewesen, während sie mit ihm daran vorbeigeeilt war.
Jetzt war da keine Mutter, die ihn aufhielt. Und keine Menge, durch die er sich hindurchkämpfen musste. Keine Körper, die sich an ihn drängten und drohten, ihn von den Stufen zu werfen, die von der Straße hinunter ans Ufer führten. Da waren nur die Galgen, eine Handvoll Menschen, die auf den nahe gelegenen Treppen umherliefen, und ein toter Körper, der sich am Ende des Seils...
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