Schweitzer Fachinformationen
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Auf einmal war Will Hooper wieder sieben. Mit einem Plastik eimer in der Hand hüpfte er zum Strand von Hamlet Wick, während sein Vater noch einen Parkschein besorgte.
Heute Morgen würde Will eine Versteinerung finden. Ganz bestimmt. Im Frühjahr war er per Zufall auf einen Ammoniten gestoßen, der kaum größer als ein Knopf war, aber trotzdem sofort sein kostbarster Besitz überhaupt wurde. Anschließend war er so versessen darauf gewesen, noch einen zu finden, dass sie monatelang jeden Samstagvormittag nach Hamlet Wick gefahren waren, damit er den Strand absuchen konnte.
Jetzt im Oktober musste Will gegen einen frischen Herbstwind ankämpfen. Den Blick fest auf den Boden gerichtet, lief er über das rutschige, klappernde Schiefergestein Richtung Wasserrand, denn genau hier hatte er das Fossil entdeckt. Und hier würde gewiss auch noch eins sein.
Er eilte weiter, trippelte, so schnell er sich traute, bis unvermittelt ein loser Stein nach hinten schoss und er der Länge nach hinfiel.
Rasch rappelte er sich wieder auf, streifte Salz und Dreck von seinen Händen an der Hose ab und sah sich nach seinem Eimer um. Weit geflogen war er nicht. Aber Wills Interesse daran erstarb abrupt, als er erkannte, was dahinter lag.
Nur wenige Meter entfernt hatten die Wellen ein unförmiges Bündel aus dunklem Stoff aufgehäuft. Ein Dutzend Möwen stritten aufgeregt darum, schlugen mit den Flügeln und kreischten einander an.
Wie gebannt trat Will einen Schritt näher.
Die Möwen hörten ihn und schauten auf. Eine stieß einen wütenden Schrei aus und hüpfte davon. Bei seinem nächsten Schritt flogen die restlichen Vögel einer nach dem anderen auf und der Anblick gewann wie bei einer sich entwickelnden Polaroidaufnahme immer mehr an Konturen.
Will hörte seinen Dad, der ihm zurief, stehen zu bleiben, aber achtete nicht auf ihn. Er war nur noch eine Armlänge entfernt. Sobald die letzten Möwen verschwunden waren, sah er die verschlammten Haare, die beiden weit aufgerissenen, reglosen Augen und eine fahle, ausgestreckte Hand.
Starr vor Schrecken öffnete Will den Mund und spürte, wie eisige Luft in seine Lungen drang, bevor ihm ein gellender Schrei entfuhr.
Der klappernde Aufprall einer Eisenpfanne riss Will aus der zwölf Jahre alten Erinnerung.
Mit zitternden Fingern holte er einen Inhalator aus der Innentasche seines Dinnerjackets, schüttelte ihn energisch und nahm einen Zug. Er schloss die Augen und hielt einen Moment inne, um sich wieder zu fassen.
Er stand in dem schmalen Flur, der zur Rückseite von Hamlet Hall führte. Links hinter ihm befand sich die Küche des Hotels, aus der ihm der Duft des gebratenen Lammfleischs in die Nase stieg. Rechts vor ihm war die Eingangshalle, durch die leise Jazzmusik aus dem angrenzenden Speisesaal herüberdrang.
Ohne die Augen zu öffnen, nahm er noch eine Dosis aus dem Inhalator.
Dieser eine Tag stand ihm bis heute so lebendig vor Augen, er konnte kaum glauben, dass die Ereignisse inzwischen mehr als ein Jahrzehnt zurücklagen. Aber es war eben schwer, etwas zu vergessen, das man tagtäglich aufs Neue durchlebte.
Die Flashbacks kamen ohne Vorwarnung, oft auch ohne jeden erkennbaren Auslöser. Wann immer Will seinen Gedanken freien Lauf ließ, schienen sie automatisch diese Szene am Strand anzusteuern. Diesen einen Moment, der sein ganzes Leben seitdem gefangen hielt. Besonders heftigen Störungen gelang es bisweilen, ihn aus diesem Bann zu lösen. In der Schule etwa ein Lehrer, der ihn laut anfuhr, weil er während des Unterrichts herumträumte. Oder zu Hause sein Vater, der ihn fest an der Schulter packte.
Diesmal hatte Carl dafür gesorgt. Der Küchenchef von Hamlet Hall klapperte schon den ganzen Abend wild herum, benutzte Töpfe und Pfannen eher zum Krachmachen als zur Vorbereitung des Abendessens. Will kam in den Sinn, dass sich einer der Gäste über den Lärm beschweren könnte. Prompt begannen seine Hände zu schwitzen.
Bei seiner ersten Anfrage, ob er in Hamlet Hall eine Murder-Mystery-Nacht organisieren dürfte - wobei er schon über viele Wochen hinweg allen Mut zusammenraffen musste, um das Thema überhaupt zur Sprache zu bringen -, war Ian Davies, dem das Hotel gehörte, noch äußerst skeptisch gewesen. Doch das aufgeregte und beharrliche Drängen von Will blieb nicht ohne Wirkung, und schließlich willigte Ian ein. Sollte das Konzept funktionieren, würde er daraus einen regelmäßigen Termin machen. Das Ganze könnte sich als lukrative Möglichkeit entpuppen, um außerhalb der Touristensaison einheimische Gäste anzulocken.
Dass er den Umsatz dringend benötigte, war kein großes Geheimnis.
Hamlet Hall war zwar ein eindrucksvoller Bau, aber nie als Hotel gedacht gewesen. Das alte Schlösschen stand bereits seit drei Jahrhunderten in Hamlet Wick und war von einem der ersten Earls of Hamlet als Familiensitz errichtet worden. Damals herrschte im Hafen noch reges Leben und die nahe gelegene Marktstadt zählte zu den vornehmsten in ganz Devon. Rein äußerlich hatte sich an der Pracht wenig geändert. Besuchern fielen zuerst die mächtigen Eichentüren ins Auge, dazu die efeubewachsenen Steinmauern und die großzügigen Erkerfenster, die auf den Bristol Channel hinaussahen. Alles strotzte vor Atmosphäre, versprach Behaglichkeit und Luxus.
Doch ein kurzer Blick auf Tripadvisor genügte, um zu erkennen, dass der romantische Traum für die meisten Gäste hier auch schon endete. Große Teile des Mauerwerks waren renovierungsbedürftig, die Holztäfelungen stumpf, und den Zimmern fehlte Doppelverglasung. Noch häufiger beschwerten sich die Leute über funktionale Mängel: defekte Kaffeemaschinen, wackliges WLAN - vorausgesetzt, man fand überhaupt ein Netz - und haufenweise altes Mobiliar, das dringend hätte ersetzt werden müssen.
In jeder anderen Branche hätte man es bei so viel Kritik vermutlich als Erleichterung empfunden, sich nur das halbe Jahr all den Ärger aufzuhalsen, dachte Will. Aber für ein ums Überleben kämpfendes Hotel in einem kaum bekannten Nest an Englands Südwestküste dürfte das fast völlige Ausbleiben von Gästen in den Herbst- und Wintermonaten ebenso entmutigend sein wie der Dauerhagel an Beschwerden im Sommer.
Will wusste von all den Versuchen, die Ian unternommen hatte, um in der Nebensaison Leute aus der Gegend anzulocken. Er hatte zum Nachmittagstee geladen, Tanzveranstaltungen angeboten oder abends Filme vorgeführt. Soweit Will das beurteilen konnte, hatte nichts funktioniert.
Das einzige Angebot von Hamlet Hall, das zumindest ein gewisses Interesse zu erregen schien, blieb das Restaurant. Carls Kochkünste waren hochangesehen in den umliegenden Ortschaften, aber allein mit sonntäglichen Mittagstafeln konnte Ian die sechs Monate unmöglich profitabel überbrücken. Aus diesem Grund hatte er sich überlegt, einmal etwas Neues auszuprobieren, und Will erlaubt, Hamlet Hall zum Schauplatz seiner Murder-Mystery-Party zu machen.
Die absolute Stille, die der Ankündigung der Veranstaltung folgte, war beängstigend gewesen. Zwei Wochen vergingen, ohne dass irgendjemand Interesse gezeigt hätte. Dann gingen wundersamerweise plötzlich Buchungen ein. Innerhalb einer Woche hatten sich acht Teilnehmer angemeldet.
Nun fand auch Ian Gefallen an der Sache und förderte die Party nach Kräften. Den ganzen Abend würde Sekt ausgeschenkt werden. Carl wurde beauftragt, ein exquisites Drei-Gänge-Menü zuzubereiten. Für Gäste, die gerne über Nacht bleiben wollten, bot er sogar Zimmer zu Sonderpreisen an, eine Offerte, der jedoch - wie Will bemerkte - kaum jemand Beachtung schenkte.
Will selbst hatte sich in der Zwischenzeit darum bemüht, für jede erdenkliche Schwierigkeit gerüstet zu sein, auf die sie im Verlauf des eigentlichen Spiels stoßen konnten. So hatte er vorgesorgt für den Fall, dass einer der Gäste nicht erschien, dass Hinweise zu kompliziert waren, um erkannt zu werden, oder dass einer der Schauspieler sein Stichwort oder die vorgegebene Anweisung vergaß, um die Handlung des Rätsels weiterzuführen.
Nicht eingeplant hatte er allerdings, dass Carl mit all dem Lärm, den er gerade in der Küche produzierte, die Atmosphäre komplett zu zerstören drohte.
Wills Angst davor, einer der Gäste könnte sich beschweren, wurde immer größer, und als sich unvermittelt eine Tür neben ihm öffnete, fuhr er erschrocken zusammen. Dass es bloß Ian war, der aus seinem Büro trat, konnte ihn nicht wirklich beruhigen.
Seit Wochen bereiteten sie gemeinsam diese Party vor, und Will hatte Ian in dieser Zeit nur mit missmutiger Miene erlebt. Die Falten, die unterhalb seines zurückweichenden roten Haaransatzes quer über die Stirn dieses quadratischen, rotwangigen Schädels liefen, schienen dort so fest eingegraben zu sein, als hätte sie jemand voller Zorn in einen Klumpen feuchten Ton geritzt. Und der Anblick von Will, der sich hier im Flur herumdrückte, vertiefte diese Furchen noch zusätzlich.
»Ich bin nur rasch raus, um die Schauspielerin zu begrüßen«, beeilte sich Will zu erklären. »Sie wollte noch ein Glas Wasser, bevor sie zu Jack und Theo in den Salon geht.«
Ian brummte etwas, das weitgehend unverständlich blieb, obwohl Will sich ziemlich sicher war, am Ende die Worte »zu nichts zu gebrauchen« verstanden zu haben. Dann schlug der Hotelbesitzer die Bürotür hinter sich ins Schloss und marschierte in Richtung Eingangshalle.
Will folgte ihm nicht sofort, sondern führte erst noch einmal seinen Inhalator an den Mund. Mit zusammengepressten Augen atmete er tief ein.
Er musste ganz ruhig sein. Musste alles unter...
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