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Ein paar Monate später als Brecht, am 18. Oktober 1898, wurde Lotte Lenya als Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, genannt Linnerl, in Wien geboren. Ihre Kindheit stand unter keinem guten Stern. Den Geburtsnamen sollte sie bald ablegen, weil er untrennbar mit dieser schrecklichen Zeit verbunden war. Dennoch benutzte sie ihn später bisweilen, um diese Zeit kurz wiederauferstehen zu lassen und so anderen und sich selbst bewusst zu machen, was aus dem unglücklichen Mädchen aus der Vorstadt geworden war.
Die berühmte Schauspielerin Elisabeth Bergner, die Lenya aus ihrer Züricher Zeit kannte, erlebte sie einmal in Berlin in ihrer Paraderolle in der Dreigroschenoper. Bergner konnte das kaum fassen - Lenya sagte: »Ja, Sie haben schon recht, ich bin's wirklich: Linnerl Blamauer!«
Auf den ersten Blick hin scheint es zwischen Brecht und Lotte Lenya durchaus Entsprechungen zu geben. Denn beide wuchsen ja im Arbeitermilieu, in einer Arbeitervorstadt auf. Augsburg wie Penzing, der Wiener Bezirk, in dem Lenya geboren wurde, waren Zentren der Textil- beziehungsweise Seidenindustrie. Das ist an Parallelen aber fast schon alles.
Augsburg, die einstige berühmte Reichsstadt und Handelsmetropole, die Stadt der Fugger und der Renaissance, hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre beste Zeit hinter sich. Zwar zeugen bis heute imponierende und einzigartige Baudenkmäler vom einstigen Reichtum und großbürgerlichen Repräsentationswillen, doch in der Gründerzeit begann eine rasante Industrialisierung der Stadt. Arbeiterviertel entstanden, immer mehr Fabrikgebäude prägten das Stadtbild. Bedeutende Firmen wurden gegründet oder ließen sich in Augsburg nieder, darunter die Maschinenfabrik M.A.N. und jene für Brechts Familie so wichtigen Haindl'schen Papierfabriken, aber auch eine große Anzahl von Kammgarnspinnereien und anderen Textilbetrieben.
Die Arbeiterschaft war gegen Ende des 19. Jahrhunderts gut organisiert, die Gewerkschaften konnten ihren »Tag der Arbeit« begehen. Aber vielleicht lag es auch an der letztlich doch noch überschaubaren Größe Augsburgs, dass es soziales Elend, so wie es in Wien in Penzing, in Berlin am Prenzlauer Berg und anderen »Kiezen« herrschte, in diesem Umfang nicht gab.
Hinzu kommt, dass Familie Brecht, als sie in die Arbeitervorstadt zog, dort von Anfang an einen Fremdkörper darstellte und das auch bleiben sollte. Schon zuvor war der Vater, aus einem soliden Handwerksbetrieb stammend, nie ein »typischer« Arbeiter. Die Mutter war krank und für ihr soziales Umfeld kaum wahrnehmbar. Quasi abgeschirmt saß sie bisweilen in ihrem Liegestuhl im Garten. Und Brecht selbst? Von ihm existieren im Frühwerk singuläre Bemerkungen über die Arbeiterschaft, aber von Berührungspunkten ist nichts überliefert. Er blieb auf Distanz, und seine intellektuellen Diskussionen, zum Beispiel mit dem Ehepaar Prem über die Weltrevolution, waren alles Mögliche, nur kein Zeugnis für eine größere Sympathie der Arbeiterbewegung gegenüber.
Lotte Lenya hingegen kam »mittendrin« im Elend, im Milieu zur Welt. Wien, seit 1558 Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, schien unter Kaiser Franz Joseph I. (1848 bis 1916) eine neue Blütezeit zu erleben, in vielfältiger Weise. Absolutistisch und zentralistisch regierte er, ließ repräsentative Straßen, Boulevards und Prachtbauten errichten, deren Stile, gemäß der Völkervielfalt, die in Wien herrschte, höchst unterschiedlich war. Auch soziale Errungenschaften machten von sich Reden. So gab es ab 1888 einen Anspruch auf Kranken- und Sozialversicherung, und zwar für jedermann.
Verschiedene Künstler aller Sparten versammelten sich in Cafés und Salons und prägten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Europas Moderne: Alban Berg, Arnold Schönberg, Gustav Mahler, Hans Richter, Egon Schiele, Gustav Klimt, Ludwig Wittgenstein, aber auch Vertreter der literarischen Décadence, allen voran Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal. Auch wenn die Ausprägung eine andere war: Als Kulturmetropole spielte Wien eine ähnliche Rolle wie Berlin, allerdings schon zwei, drei Jahrzehnte früher. Hinsichtlich seiner sexuellen Libertinage stand Wien Berlin in nichts nach, mit einem programmatisch zur Schau getragenen Erotizismus, der sich von der prüden Kleinbürgerlichkeit der »normalen Menschen« grell abhob.
Doch das interessierte in Penzing die Wenigsten, man hatte andere Probleme, litt Not. Wie in vielen europäischen Großstädten klaffte in Wien während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Ursprünglich ein Naherholungsziel, weil nicht weit vom Wiener Wald gelegen, wurde Penzing während der industriellen Revolution zunehmend zu einem der ärmsten Arbeiterviertel der Stadt. Seine Einwohnerzahl von 20 000 vergrößerte sich im Zeitraum zwischen 1880 und 1900 um mehr als das Doppelte. Ähnlich wie in Augsburg, doch wesentlich dichter beieinander, herrschte auch hier ein Anachronismus zwischen repräsentativen, älteren Bauwerken, meist des Biedermeier, und trostlosen Fabrikgebäuden. Hinzu kam noch ein Hauch von Ländlichkeit.
»Ein Tuberkulose-Sanatorium und eine Heilanstalt vervollständigten die Atmosphäre von Krankheit und Not; sieben Tage Arbeit war das übliche, und arm blieb man trotzdem. Außer an den wenigen offiziellen Feiertagen kamen diese Armen nur dann in den Genuß von Wärme, Ruhe und gutem Essen, wenn sie ins Krankenhaus eingeliefert wurden.«39
Karolines frühe Jahre sind, im Vergleich zur Kindheit und Jugend Brechts, wesentlich schlechter dokumentiert. Von Brecht existieren jenes Tagebuch No. 10 und zahlreiche Erinnerungen und Memoiren, nicht nur seines Bruders Walter, sondern auch einer ganzen Reihe von Freunden. Die Überlieferungslage bezüglich Lotte Lenya ist dürftig. Das liegt auch daran, dass Brecht schon fast als Halbwüchsiger von sich Reden machen konnte, spätestens im Alter von etwa achtzehn Jahren. In dieser Zeit nahm ein reger Briefwechsel mit Freunden, aber auch Kollegen und potenziellen Förderern seinen Anfang. Zur systematischen Vermarktung seiner Kunst gehörte eben auch sein Drang in die Öffentlichkeit hinaus und seine Kontaktfreudigkeit. Den Adressaten vieler Briefe erschloss sich bald, mit wem sie es zu tun hatten. Deshalb hoben sie die Dokumente auf.
Das war bei Lotte Lenya nicht so; zumindest nicht in ihrer frühen Zeit. Über sie weiß man nur aus ihren eigenen Erzählungen und aus ihren fragmentarisch gebliebenen Memoiren, zu denen sie als über Fünfzigjährige von ihrem zweiten Ehemann George Davis angeregt worden war. Erhellen im Fall Brechts verschiedene Quellen einander, so muss bei Lenya manches erschlossen und rekonstruiert werden. Letztlich muss man sich der Subjektivität ihrer Erinnerungen überlassen, und es ist nichts Neues, dass sie selbst, aber auch ihr Mann George Davis, bewusst am »Mythos Lenya« arbeiteten, vieles ausschmückten, sich ausdachten und stilisierten. Das ging so weit, dass Davis selbst Geschichten, Anekdoten über seine Frau erfand, die diese dann auch noch lange nach seinem Tod in Interviews wiedergab. Er verfasste zudem Zeitschriftenartikel, die in den fünfziger Jahren unter ihrem Namen erschienen. Dennoch entsteht, die Kindheit und frühe Jugend Lenyas betreffend, ein authentisch wirkendes, bedrückendes Bild größter Tristesse und schlimmsten Elends.
Das Leid, das Lotte Lenya als Kind erdulden musste, ist nicht allein in der großen Geldnot begründet. Gewiss, die Familie war unterprivilegiert, bedürftig, das Leben war hart, man gehörte aber keineswegs zu den Allerärmsten der Armen in Penzing. 1893, in dem Jahr, in dem Brechts Mutter nach Augsburg zog, um Arbeit zu finden, und ihren Mann kennenlernte, heirateten Karolines Eltern in einer katholischen Kirche. Die Mutter, Johanna Teuschl, damals fünfundzwanzig Jahre alt, stammte aus Ottenschlag, nicht weit von Melk und etwa 80 Kilometer von Wien entfernt. Ihr Vater war Schneider, Johanna kellnerierte zunächst in Ottenschlag, und wie ihre drei Schwestern zog sie in die Großstadt, nach Wien, um eine Anstellung zu finden. Sie arbeitete hier als Wäscherin und tat dies auch noch nach ihrer Heirat. Lenya selbst charakterisiert ihre Mutter als mit ungefähr 1,50 Meter sehr klein gewachsene, rundliche, robuste und abgeklärte Frohnatur mit slawischen Gesichtszügen. Außerdem habe sie, wie Lenya in ihren Erinnerungen hervorhebt, über eine enorme sexuelle Anziehungskraft verfügt. Diese lebte sie aus; zu einem hohen Preis, wie Lenya erzählt:
»Sie war überaus weiblich mit einer unterschwelligen Anziehungskraft, der kein Mann entrinnen konnte. Die Nachbarn pflegten zu sagen: >Die Blamauer muß nur Hosen auf der Leine sehen, und schon ist sie schwanger.< Worauf mein Vater erwiderte: >So viele Klöße in der Suppe sind, so viele müssen heraus.< All dies führte zu...
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