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Der Regen ging unvermittelt in Graupel über. Die Hagelkörner prasselten auf Jim Chees Uniformhut, sprangen vom Kragen der Dienstjacke und ließen ihn frösteln. Es war der 3. November - so zeigte es der Kalender der First National Bank von Grants auf Chees Schreibtisch. Nach dem traditionellen Kalender der Navajo, der sich nicht so streng an Tagen orientierte, begann jetzt die »Zeit-wenn-der-Donner-schläft«. Nach beiden Kalendern allerdings war es zu früh für solches Wetter, selbst hier in etwa zweitausendvierhundert Metern Höhe am Hang des Mount Taylor. Howard Morgan hatte in seiner Wettervorhersage auf Kanal sieben mögliche Schneeschauer angekündigt, aber Chee hatte das nicht geglaubt und seine Winterjacke in der Polizeistation gelassen.
Er sah zu seinem Auto, einem weißen Chevrolet mit dem Siegel der Navajo Nation und dem Schriftzug »Navajo Police« auf der Tür. Sich in den Wagen zu setzen und die Heizung einzuschalten, wäre eine Möglichkeit gewesen. Eine andere, sich unter das Vordach der Villa von Benjamin J. Vines zu flüchten und in der Hoffnung, dass doch jemand auf ihn aufmerksam würde, noch ein paar Mal zu klingeln. Die Glocke machte ein seltsam singendes Geräusch, dessen angenehmes Echo er durch die schwere Tür hörte. Obwohl er bisher nichts damit erreicht hatte, war Chee versucht, noch einmal zu läuten, nur um diesen Klang zu hören. Als dritte Alternative blieb, den Kragen der Jacke hochzuschlagen, um den Graupelschauer abzuhalten, und weiter zu versuchen, etwas über dieses Haus herauszufinden.
Es war, hatte er gehört, nach Plänen von Frank Lloyd Wright gebaut und galt als das teuerste Haus in New Mexico. Und es machte Chee so neugierig wie alles andere, das zur Welt der Weißen gehörte. Im Augenblick war die Faszination besonders stark, weil er womöglich bald selbst zu dieser fremden Welt gehören würde. Bis zum 10. Dezember, in weniger als sechs Wochen also, musste er sich für oder gegen eine Anstellung beim FBI entscheiden und damit auch für oder gegen einen Platz in der Welt der singenden Haustürglocken.
Chee zog den Kragen seiner Jacke enger und die Hutkrempe tiefer und setzte seine Inspektion fort. Er stand neben einer angebauten Dreiergarage. Wie das Haus selbst war sie aus heimischem Granit und mit dem Hauptgebäude durch eine niedrige, geschwungene Mauer aus dem gleichen Baustoff verbunden. Gleich hinter der Mauer, auf einer knapp fünf Meter langen Grasfläche, standen zwei Gedenktafeln aus schwarzem Marmor, die Chees Aufmerksamkeit erregten. Grabsteine. Er beugte sich über die Mauer. In den Stein gleich rechts von ihm war der Name DILLON CHARLEY gemeißelt. Darunter hieß es:
Sein Geburtsdatum kannte er nicht
Gestorben am 11. Dezember 1953
Ein guter Indianer
Chee grinste. War der hämische Doppelsinn beabsichtigt? Hatte Vines - oder wer immer diese Inschrift hatte anfertigen lassen - General Sheridans Ausspruch gekannt, nur ein toter Indianer sei ein guter Indianer?
Auf dem Stein links von Chee stand:
MRS BENJAMIN J. VINES (ALICE)
Geboren am 13. April 1909
Gestorben am 4. Juni 1949
Eine treue Frau
Wem treu? B. J. Vines? Seltsam, so etwas auf einen Grabstein zu schreiben, aber letztlich kam Chee alles merkwürdig vor, was mit den Beerdigungsbräuchen der Weißen zusammenhing. Die Navajo kannten diese Sentimentalität gegenüber Toten nicht. Der Tod nahm dem Körper seinen Wert. Und selbst die Identität ging mit dem Verschwinden des chindi verloren. Was der Geist zurückgelassen hatte, musste so beseitigt werden, dass die Lebenden möglichst wenig Gefahr liefen, sich damit zu verunreinigen. Nie sprach jemand die Namen von Toten aus, und in Stein wurden sie ganz bestimmt nicht gemeißelt.
Chee sah sich noch einmal den Charley-Grabstein an. Der Name zerrte an seinem Gedächtnis. Es gab keine Charleys in Chees Stamm, dem Slow Talking Diné, und auch keinen bei den anderen Stämmen im Rough Rock Country, der Heimat seiner Familie. Aber hier, am östlichen Rand des Reservats, beim Salt Diné, beim Many Goats Diné, beim Mud Clan und beim Standing Rock Clan, war der Name ziemlich verbreitet. Und irgendein Charley hatte vor Kurzem etwas getan, woran Chee sich eigentlich erinnern müsste.
»Ein ziemlich ungewöhnlicher Platz für einen Friedhof, was?«, sagte jemand hinter ihm.
Es war eine Frau, etwa Mitte fünfzig, mit schmalem, hübschem, ernstem Gesicht. Sie trug eine teure Pelzjacke über ihren Jeans. Eine blaue Strickmütze bedeckte die Ohren. »Eine von B. J.s kleinen Verschrobenheiten, Leute neben der Garage zu beerdigen. Sind Sie Sergeant Chee?«
»Jim Chee«, stellte er sich vor. Die Frau sah ihn an, runzelte kritisch die Stirn und machte keine Anstalten, ihm die Hand zu geben.
»Sie sind jünger, als ich dachte«, sagte sie. »Man hat mir erzählt, Sie sind so etwas wie ein Amtsträger in Ihrer Religion. Habe ich das richtig verstanden?«
»Ich möchte ein yataalii werden«, sagte Chee. Er benutzte das Navajowort, weil nur dieser Begriff richtig ausdrückte, was es bedeutete. Die Anthropologen nannten die yataalii »Schamanen«, die meisten Leute in der Umgebung des Reservats sagten »Singer« oder »Medizinmänner«, aber keine dieser Bezeichnungen passte wirklich zu der Rolle, die er bei seinem Volk einnehmen würde, falls er es je schaffen sollte, sie spielen zu können. »Sind Sie Mrs Vines?«, fragte er.
»Ja, sicher«, sagte die Frau. »Rosemary Vines.« Sie blickte auf den Grabstein. »Die zweite Mrs Vines. Aber jetzt raus aus diesem Schneeregen.«
Das Haus hatte Chee Rätsel aufgegeben. Die Front bestand aus einer schwungvollen, fensterlosen Krümmung und ließ an gewachsenen Fels denken. Aber als sie das massive Portal und die Eingangshalle hinter sich hatten, löste sich das Rätsel von selbst. Die Front war in Wirklichkeit die Rückseite. Die Decke erhob sich in einer aufsteigenden Kurve bis zu einer riesigen Glaswand. Jenseits der Glaswand fiel der Berghang steil ab. Gerade war die Sicht durch Wolken und böige Schneeschauer verhängt, doch Chee war klar, dass sie an einem normalen Tag sehr weit reichte, über die Reservate der Laguna und Acoma hinweg nach Süden und Osten; südlich auf das vierzig Meilen lange Meer aus erstarrter Lava, das Malpaís genannt wurde, bis zu den Zuñi Mountains; ostwärts über die Cañoncito Reservation bis zum gewaltigen blauen Buckel der Sandia Mountains hinter Albuquerque.
Der Raum war fast ebenso spektakulär wie die Aussicht. Ein Kamin beherrschte die Innenwand aus Naturstein links von Chee, mit einem Eisbärenfell auf dem Teppich neben der Feuerstelle. Von der Wand zur Rechten starrten aus den Köpfen von Jagdtrophäen unzählige Glasaugen auf ihn herab. Chee starrte zurück: Wasserbüffel, Impala, Gnu, Steinbock, Oryx-Antilope, Wapiti, Maultierhirsch und ein Dutzend anderer Spezies, deren Namen er nicht kannte.
»Man braucht eine Weile, um sich daran zu gewöhnen«, sagte Mrs Vines. »Die Schrecklichsten bewahrt er zum Glück in seinem Trophäenzimmer auf. Das hier sind die, die nicht zurückbeißen konnten.«
»Ich hörte schon, dass er ein berühmter Jäger ist. Hat er nicht sogar die Weatherby Trophy gewonnen?«
»Zweimal«, antwortete Rosemary Vines. »1962 und 1971. Das waren schlechte Jahre für alles, was Hauer, Fell oder Federn hat.« Sie warf ihren Nerz über eine Sofalehne. Darunter trug sie ein kariertes Männerhemd. Sie war eine schlanke Frau, die sich pflegte. Aber sie wirkte angespannt. Das zeigte sich in ihrem Gesicht, ihrer Haltung und ihrer Kiefermuskulatur. Und sie rang die Hände in Höhe des Gürtels.
»Ich brauche einen Drink«, sagte sie. »Wollen Sie auch einen?«
»Nein, vielen Dank.«
»Kaffee?«
»Wenn's keine Mühe macht.«
»Maria?«, sagte Mrs Vines in ein Sprechgitter neben dem Kamin. Das Sprechgitter surrte zur Antwort.
»Bring uns einen Scotch und Kaffee.«
Und wieder an Chee gewandt: »Sie sind ein erfahrener Ermittler. Stimmt doch, oder? Und Sie sind in Crownpoint stationiert. Und wissen alles über die Navajoreligion.«
»Ich bin dieses Jahr nach Crownpoint versetzt worden«, sagte Chee, »und ich kenne mich ein bisschen in den Bräuchen meines Volkes aus.« Es war nicht der geeignete Moment, dieser arroganten Weißen zu erklären, dass die Navajo keine Religion hatten, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem sie dieses Wort verstand. Dass sie nicht einmal ein eigenes Wort für Religion kannten. Zuerst musste er herausfinden, was sie von ihm wollte.
»Setzen Sie sich.« Rosemary Vines wies mit der Hand auf ein riesiges blaues Sofa und nahm selbst auf einem Sessel aus Stahl und glattem Leder Platz.
»Verstehen Sie auch was von Hexerei?« Sie rutschte auf die Sesselkante, lächelnd, angespannt, und rang die Hände jetzt im Schoß. »Von solchen Sachen wie Navajowölfen oder Skinwalkers oder wie man die nennt. Verstehen Sie viel davon?«
»Etwas schon«, antwortete Chee.
»Dann möchte ich Sie engagieren«, sagte sie. »Sie haben noch Urlaub gut .«
Eine ältere Frau - eine Pueblo-Indianerin, aber Chee war sich nicht sicher, von welchem Pueblo - kam mit...
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