Schweitzer Fachinformationen
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Der Junge aus dem Flute Clan sah es zuerst. Er blieb stehen und starrte.
»Da hat jemand einen Stiefel verloren«, sagte er.
Albert Lomatewa war ein gutes Stück weiter entfernt, etwa fünfzehn Meter den Pfad hinunter, aber er erkannte sofort, dass der Stiefel nicht verloren gegangen war. Er war nicht auf den Boden gefallen, jemand hatte ihn dort hingestellt. Er stand mitten auf dem Pfad, sauber aufgerichtet, mit der Spitze zu ihnen gekehrt. Und dann entdeckte Lomatewa unter den abgestorbenen Zweigen eines Kaninchenbuschs gleich neben dem Pfad den zweiten Stiefel. Gestern waren sie hier vorbeigekommen, aber da waren die Stiefel noch nicht dagewesen.
Albert Lomatewa war der Sendbote, er hatte die Verantwortung. Eddie Tuvi und der Junge aus dem Flute Clan würden genau das tun, was er ihnen auftrug.
»Geht da nicht hin«, sagte Lomatewa, »bleibt, wo ihr seid.«
Er lud sich das schwere Bündel Fichtengeäst vom Rücken und legte es mit gebührender Ehrfurcht neben dem Pfad ab. Dann ging er auf den Stiefel zu. Er war fast neu, aus braunem Leder, ein Cowboystiefel mit geschwungenem hohem Absatz und floralen Steppnähten. Lomatewa warf einen Blick auf den anderen Stiefel unter den dürren Zweigen.
Das passende Gegenstück. Dahinter führte der Pfad in einem scharfen Bogen um einen verwitterten Granitblock. Lomatewa holte vernehmlich Luft. Hinter dem Felsen ragte ein Fuß vor, ein nackter Fuß, mit dem, das konnte Lomatewa sogar aus der Entfernung erkennen, etwas Schreckliches geschehen war.
Lomatewa wandte sich zu den beiden um, die seine Kiva ihm zur Seite gestellt hatte, damit er, als er sich auf den Weg machte, um die heilige Pflicht des Fichtenholzsammelns zu erfüllen, nicht ohne Geleitschutz wäre. Sie waren stehen geblieben, wie er es ihnen aufgetragen hatte. Tuvis Miene war ausdruckslos, das Gesicht des Jungen aber verriet gespannte Neugier.
»Bleibt, wo ihr seid«, rief er noch einmal, »hier ist jemand, und ich muss etwas tun.«
Der Mann lag auf der Seite, die Beine gekrümmt und steif, der linke Arm starr vorgestreckt, der rechte angewinkelt, die Handfläche neben dem Ohr. Er trug Bluejeans, eine Jacke aus Jeansstoff und ein blau-weiß kariertes Hemd mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln. Aber seine Kleidung nahm Lomatewa erst später wahr. Zunächst starrte er nur auf die Füße. Die Haut der Sohlen war abgeschnitten. Jemand hatte ihm die Socken aufgetrennt und nach oben geschoben, sie bauschten sich wie weiße Stulpen um die Knöchel. Dann hatte man ihm an beiden Füßen die Haut von der Ferse, vom Ballen und unter den Zehen abgezogen.
Lomatewa hatte neun Enkelkinder und einen Urenkel, er lebte lange genug, um vieles gesehen zu haben, aber so etwas hatte er noch nie gesehen. Wieder holte er vernehmlich Luft, atmete aus und schaute sich dann die Hände des Mannes an. Er ahnte es, bevor er es sah: Auch die Hände waren geschunden. Die Haut war weggeschnitten, genau wie an den Füßen. Danach erst sah Lomatewa dem Mann ins Gesicht. Er war noch jung gewesen. Kein Hopi. Ein Navajo, mindestens zu einem Teil. Über seinem rechten Auge war ein kleines Loch mit schwarzem Rand.
Lomatewa stand da, sah auf den Toten hinunter und überlegte, was zu tun war. Was immer sie unternahmen, das Niman Kachina durfte nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Obwohl es noch früh am Morgen war, brannte die Sonne bereits heiß, es roch nach Staub. Staub, immerzu Staub. Deshalb durfte das Zeremoniell keinesfalls gestört werden.
Seit fast einem Jahr war das Himmelsgeschenk des Regens ausgeblieben. Dreimal hatte Lomatewa sein Korn ausgedünnt, aber was geblieben war, stand trotzdem kümmerlich und dürr auf dem Halm. Die Trockenheit wollte kein Ende nehmen. Die Quellen versiegten. Es gab kein Weidegras für die Pferde. Das Niman Kachina musste in der vorgeschriebenen Weise abgehalten werden. Er drehte sich um und ging zu seinen beiden Weggefährten zurück.
»Ein toter Tavasuh«, sagte er. Das hieß so viel wie Dickschädel und war ein verächtlicher Ausdruck der Hopi für die Navajo. Lomatewa benutzte es absichtlich, um die beiden auf das einzustimmen, was er tun musste.
»Was ist mit seinem Fuß passiert?«, fragte der Junge aus dem Flute Clan. »Die Sohle ist weggeschnitten.«
»Legt die Holzbündel ab und setzt euch«, sagte Lomatewa. »Wir müssen darüber reden.« Wegen Tuvi machte er sich keine Sorgen, der war ein geachteter Mann in der Antelope Kiva, ein frommes Mitglied der One-Horn-Bruderschaft. Aber der Junge aus dem Flute Clan war noch ein halbes Kind. Obwohl er nun stumm dasaß, das Bündel neben sich, brannten die Fragen in seinen Augen. Lass ihn warten, dachte Lomatewa, lass ihn lernen, geduldig zu sein.
»Dreimal hat Sotuknang die Welt zerstört«, begann Lomatewa schließlich. »Die erste Welt hat er durch Feuer zerstört, die zweite Welt durch Eis und die dritte durch eine Flut. Jedes Mal hat er die Welt zerstört, weil sein Volk nicht tun wollte, was er von ihm verlangt hatte.« Lomatewa behielt, während er sprach, den Jungen aus dem Flute Clan im Auge.
Der hatte die Schule in Flagstaff besucht und war jetzt bei der Post. Es hieß, er pflanze seine Getreidestreifen nicht in der vorgeschriebenen Weise und verstehe es nicht, sich der Gemeinschaft der Kachina anzupassen. Er brauchte Anleitung. Und der Junge hörte ihm zu, als habe er die alte Sage nicht schon tausendmal gehört.
»Sotuknang hat die Welt zerstört, weil die Hopi ihre Pflichten vernachlässigten. Sie vergaßen die Gesänge, die gesungen, die pahos, die Gebetsstäbe, die dargebracht, und die Zeremonien, die getanzt werden müssen. Jedes Mal wurde die Welt vom Bösen infiziert, und die Menschen stritten in einem fort. Sie wurden powaqas - Magier - und bekämpften sich mit Zauberei. Die Hopi wichen vom vorgeschriebenen Weg des Lebens ab, nur wenige gab es noch in den Kivas, die das Richtige taten. Und jedes Mal warnte Sotuknang die Hopi. Er hielt den Regen zurück, sodass die Menschen seinen Groll erkennen konnten, aber niemand scherte sich darum. Alle jagten weiter dem Geld nach, stritten, führten böse Reden und vergaßen den rechten Weg des Lebens. Und so wurde Sotuknangs Geduld immer wieder mit Füßen getreten. Nur wenige Hopi rettete er, einige der Besten, bevor er alles andere zerstörte.«
Lomatewa blickte dem Jungen fest in die Augen. »Verstehst du das alles?«
»Ja«, sagte der Junge, »ich verstehe es.«
»Diesen Sommer müssen wir das Niman Kachina richtig abhalten«, fuhr Lomatewa fort. »Sotuknang hat uns gewarnt. Unser Getreide verkümmert auf den Feldern. Es gibt kein Gras mehr. Die Brunnen trocknen aus. Die Wolken hören uns nicht mehr, wenn wir nach ihnen rufen. Wenn wir das Niman Kachina nicht in der vorgeschriebenen Weise abhalten, wird Sotuknang abermals die Geduld verlieren. Dann wird er auch die vierte Welt zerstören.«
Lomatewa warf rasch einen Blick auf Tuvi, dessen Miene unergründlich war. Dann wandte er sich wieder dem Jungen zu. »Bald wird für die Kachinas die Zeit kommen, da sie dieses Erdenstück verlassen und heimkehren in die San Francisco Peaks. Wir bringen unsere Bündel in die Kivas, und sie werden das Holz nehmen, um alles für die Heimkehrtänze feierlich herzurichten. Tagelang wird es in den Kivas rastlos zugehen, denn die Gebete müssen ausgewählt und die pahos, die Gebetshölzer, vorbereitet werden. Alles muss in der rechten Weise getan werden.« Lomatewa schwieg, damit die Stille die Bedeutung seiner Worte unterstreichen konnte. »Unser aller Denken muss in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Wenn wir aber diesen Toten melden, diesen hingemetzelten Navajo, kann nichts in der rechten Weise getan werden. Die Polizei wird kommen, die bahana-Polizei, und uns Fragen stellen. Ousm Sothe Kivas werden sie uns nennen. Alles wird gestört. Alle werden an die falschen Dinge denken, an Tod und Zorn, während doch ihre Gedanken nur auf heilige Dinge gerichtet sein sollten. So wird das Niman Kachina nicht gelingen, so wenig wie die Heimkehrtänze. Niemand wird seine Gedanken zum Gebet sammeln.«
Wieder schwieg er und richtete seine Augen auf den Jungen aus dem Flute Clan. »Wenn du der Sendbote wärst, was würdest du tun?«
»Ich würds der Polizei nicht sagen«, antwortete der Junge.
»Und würdest du in der Kiva darüber reden?«
»Ich würd nicht drüber reden.«
»Du hast die Füße des Navajo gesehen«, sagte Lomatewa. »Weißt du, was das zu bedeuten hat?«
»Dass ihm die Haut abgeschnitten wurde?«
»Ja. Weißt du, was das bedeutet?«
Der Junge senkte den Blick. »Ich weiß es«, antwortete er.
»Darüber zu reden wäre das Schlimmste, was du tun könntest. Die Menschen würden an das Böse denken, obwohl ihre Gedanken sich mit dem Guten beschäftigen sollen.«
»Ich werde nicht darüber reden«, sagte der Junge.
»Nicht vor den Niman-Tänzen. Nicht bevor die Zeremonie vorüber ist und die Kachinas verschwunden sind«, schärfte Lomatewa ihm ein. »Danach kannst du darüber reden.«
Lomatewa nahm sein Bündel aus Fichtengeäst auf, streifte sich die Träger über die Schultern und zuckte zusammen, weil seine Gelenke schmerzten. Er spürte jedes einzelne seiner dreiundsiebzig Jahre und hatte noch fast dreißig Meilen vor...
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