Schweitzer Fachinformationen
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Der Mond war über den Klippen aufgegangen. Sein fahles Licht fiel auf die Gestalt im trockenen Flusslauf, malte überlebensgroße, bizarre Formen auf den festen Sandboden. Bald ließ der Schatten den Umriss eines Reihers erahnen, bald sah er schmächtig und dünnbeinig aus wie die Strichzeichnungen auf den Felsmalereien der Anasazi. Manchmal, wenn der Ziegenpfad einen Bogen schlug und die Gestalt ihr Profil dem Mondlicht zuwandte, verwandelte sich ihr Schatten in Kokopelli. Der Rucksack wurde im Schattenspiel zum Buckel des Geistes, der Wanderstock war Kokopellis gekrümmte Flöte. Hätte in solchen Augenblicken ein Navajo von oben, von den Bergen aus, auf die Szene geblickt, wäre die Gestalt ihm wie der große yei erschienen, den sie in den Clans des Nordens Watersprinkler nannten. Und genauso hätte ein Anasazi ihn sehen müssen, als den Buckligen Flötenspieler, den gewalttätigen Raufbold, den sein verschwundenes Volk als Gott der Fruchtbarkeit verehrt hatte. Aber ein Anasazi konnte ihn nicht sehen, es sei denn, er wäre nach tausend Jahren Grabesruhe aus den Schutthalden unter den Ruinen der Felsenwohnungen auferstanden. Das Schattenbild aber war nur der Umriss von Dr. Eleanor Friedman-Bernal im Licht des Oktobermondes.
Jetzt legte sie eine Pause ein, setzte sich auf einen geeigneten Felsblock, nahm den Rucksack ab, massierte sich die Schultern, ließ sich von der kalten Luft der Bergwüste das verschwitzte T-Shirt trocknen und dachte über den langen Tag nach, der hinter ihr lag.
Niemand konnte sie gesehen haben. Sicher, als sie aus Chaco weggefahren war, hatten die Kinder sie bemerkt, die schon vor Tau und Tag auf den Beinen sein mussten, weil der Schulbus so früh fuhr. Und die Kinder hatten es bestimmt ihren Eltern erzählt. In der isolierten Welt des Park Service, in der ein Dutzend Erwachsene und zwei Kinder auf engem Raum lebten, sprach sich eben alles herum. Völlig ausgeschlossen, sich dort so etwas wie eine Privatsphäre zu bewahren.
Aber sie hatte alles gründlich vorbereitet. Sie war von Haus zu Haus gegangen und hatte dafür gesorgt, dass im Grabungsteam alle Bescheid wussten. Sie wollte nach Farmington fahren, hatte sie gesagt und sich die Post für die Sammelstelle am Handelsposten Blanco mitgeben lassen. Und sie hatte sich alles aufgeschrieben, was die Leute brauchten. Zu Maxie hatte sie gesagt, sie habe das Chaco-Fieber, müsse einfach mal weg, ins Kino, abends in einem Restaurant essen, Abgase riechen, andere Stimmen hören, zum Telefon greifen in der Gewissheit, dass es auch funktionierte, und anrufen, wo die Zivilisation zu Hause war. Einfach mal eine Nacht woanders schlafen, an einem Ort, an dem nichts an die eintönige Stille von Chaco erinnerte. Maxie konnte das gut verstehen. Falls sie sich überhaupt etwas dabei dachte, dann nur, dass Dr. Eleanor Friedman-Bernal sich wahrscheinlich mit Lehman träfe. Und das sollte Maxie ruhig denken.
Der Griff des Klappspatens, den sie am Rucksack befestigt hatte, drückte schmerzhaft. Sie blieb stehen, rückte das Tragegestell zurecht und zurrte die Gurte anders fest. Ab und an zerriss der Schrei eines Sägekauzes, der oben im Cañon Jagd auf Nagetiere machte, die Stille der Nacht. Eleanor sah auf ihre Armbanduhr. 10.11 Uhr, nein, 10.12 Uhr. Sie hatte Zeit genug.
In Bluff hatte niemand sie gesehen, dessen war sie sich sicher. Sie hatte von Shiprock aus angerufen, um sich zu vergewissern, dass niemand sich in Bo Arnolds altem Haus draußen am Highway aufhielt. Das Telefon war nicht abgenommen worden, und als sie ankam, lag das Haus im Dunkeln. Sie hatte kein Licht gemacht, nur unter dem Blumenkasten nach dem Schlüssel getastet, Bo versteckte ihn immer dort. Dann hatte sie sich genommen, was sie brauchte. Sie war sehr vorsichtig zu Werke gegangen, hatte nichts durcheinandergebracht. Später würde sie es zurückbringen, und Bo würde nie auf die Idee kommen, dass es weg gewesen war.
Nicht, dass das besonders wichtig gewesen wäre. Bo war Biologe. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Teilzeitbeschäftigter des Bureau of Land Management und verbrachte seine übrige Zeit damit, eine Dissertation zu schreiben - über Flechten in Wüstengebieten oder so. Schon in Madison hatte er nur seine Flechten im Kopf gehabt, und hier war es nicht anders.
Sie gähnte, reckte sich, langte nach dem Rucksack und beschloss, lieber noch ein wenig auszuruhen. Seit neunzehn Stunden war sie auf den Beinen, und ungefähr zwei Stunden lagen bis zum Ziel noch vor ihr. Dort würde sie den Schlafsack ausrollen und erst wieder herauskriechen, wenn sie sich erholt hätte. Jetzt musste sie sich nicht mehr beeilen.
Sie dachte an Lehman. Ein Koloss. Hässlich. Schlau. Grauhaarig. Sexy. Lehman kam sie bald besuchen. Sie würde ihm ein gutes Essen und guten Wein vorsetzen und ihm zeigen, was sie hatte. Das musste Eindruck auf ihn machen, es konnte nicht anders sein. Er würde zugeben müssen, dass sie recht gehabt hatte. Sie war nicht darauf angewiesen, jedenfalls nicht für die Veröffentlichung. Aber aus anderen Gründen legte sie Wert darauf. Sie brauchte seine Anerkennung. Was eigentlich ein Widerspruch in sich war. Und während sie das feststellte, musste sie an Maxie denken. An Maxie und Elliot.
Sie lächelte und strich sich übers Gesicht. Es war still hier, nur ein paar Insekten summten. Kein Windhauch war zu spüren. Kalte Luft sank in den Cañon. Fröstelnd griff Eleanor nach dem Rucksack und schlüpfte in die Trageriemen. Das heisere Bellen eines Kojoten, weit entfernt, am Berghang über dem Comb Wash. Dann stimmte ein zweiter ein; auf der anderen Seite des Cañons, noch weiter weg, heulte er den Mond an.
Sie ging rasch auf dem festen Sandboden, hob bei jedem Schritt die Beine, um die Muskeln zu lockern, und zwang sich, nicht an das zu denken, was sie heute Nacht vorhatte. Sie hatte lange genug darüber nachgedacht. Vielleicht zu lange. Stattdessen dachte sie wieder an Maxie und Elliot. Kluge Köpfe, alle beide. Und trotzdem Narren. Der Sohn aus gutem Haus und die Aufsteigerin. Ein Mann, dem alles gelang, was er anfasste. Und der besessen war von einer Frau, die ihm sagte, was immer er anfasse, zähle nichts. Armer Elliot! Dieses Spiel konnte er nicht gewinnen.
Am östlichen Horizont zuckte ein Blitz - weit weg, den Donner hörte man nicht, und aus einer Richtung, aus der kein Regen drohte. Der Sommer bringt sich ein letztes Mal in Erinnerung, dachte sie. Der Mond hing jetzt höher, sein bleiches Licht dimmte die Farben des Cañons zu verschiedenen Grautönen herunter. Die Thermounterwäsche und das schnelle Gehen hielten sie warm, doch ihre Hände waren eiskalt. Sie musterte sie. Nicht gerade die Hände einer Dame. Stumpfe, abgebrochene Fingernägel. Raue Haut, narbig, schwielig. Von Anthropologenhaut hatten sie im Studium gesprochen. So wird die Haut, wenn man dauernd draußen in der Sonne ist und mit den Händen im Boden wühlt. Ihre Mutter hatte sich immer darüber aufgeregt - genau wie über alles andere an ihr. Dass Eleanor Anthropologin wurde und nicht Ärztin. Und keinen Arzt heiratete. Nein, ein Archäologe musste es sein. Aus Puerto Rico. Und nicht mal ein Jude. Den sie dann an eine andere Frau verloren hatte.
»Zieh um Himmels willen Handschuhe an, Ellie«, hatte ihre Mutter gepredigt, »du hast ja die Hände einer Bäuerin.« Und obendrein ein Bauerngesicht, hatte Eleanor gedacht.
Der Cañon war so, wie sie ihn in Erinnerung hatte, von jenem Sommer, in dem sie beim Vermessen und Kartografieren geholfen hatte. Eine Fundgrube für alle, die sich für Felszeichnungen begeisterten. Gleich drüben hinter den Pappeln, an der steilen Sandsteinwand vor dem scharfen Knick, gab es eine Menge davon. Die Wand hieß Baseball Gallery, wegen der dominierenden Gestalt eines Schamanen. Jemand war auf die Idee gekommen, er sehe aus wie die Karikatur eines Baseballschiedsrichters.
Das Mondlicht fiel nur auf einen Teil der Sandsteinwand und war so schwach, dass man kaum etwas erkennen konnte. Trotzdem blieb sie stehen und betrachtete die Malereien. Im diffusen Licht wirkte die breitschultrige, nach unten verjüngte Gestalt des mystischen Schamanen der Anasazi farblos und düster. Über ihm befanden sich tanzende Figuren, Strichzeichnungen, abstrahiert: Kokopelli, der nirgendwo fehlen durfte, unter der Last seines Buckels gebeugt, die Flöte beinahe bis zum Boden gesenkt; ein fliegender Reiher; ein stehender Reiher; eine farbige, im Zickzack verlaufende Linie, die eine Schlange darstellte. Dann entdeckte sie das Pferd.
Ein gutes Stück links von dem großen Baseballschamanen war es auf die Felswand gemalt, schwer zu erkennen, weil das Mondlicht diesen Teil kaum beleuchtete. Offensichtlich eine spätere Zeichnung von einem Navajo, denn die Anasazi waren, als die ersten Spanier auf ihren Pferden auftauchten, schon seit dreihundert Jahren verschwunden. Es war ein stilisiertes Pferd mit plumpem Rumpf und steifen Beinen, keine Zeichnung nach Art der Navajo, die sich stets bemühten, in allen Abbildungen Schönheit und Harmonie widerzuspiegeln. Der Reiter sollte wohl Kokopelli sein, den die Navajo Watersprinkler nannten - er schien jedenfalls auf einer Flöte zu spielen. War das Bild früher schon da gewesen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Es kam vor, dass die Navajo Felszeichnungen der Anasazi durch eigene Darstellungen ergänzten, aber diese hier gab ihr Rätsel auf.
Dann entdeckte sie an dreien der vier Pferdebeine jeweils eine winzige liegende Figur, bestehend aus einem Kopf in Form eines Kreises und einem davon getrennten Körper....
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