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Geh, wirklich eine Wasserleiche? Es sah ganz so aus. Wenzel mochte keine Wasserleichen, wirklich nicht. Franzi hätte wohl gefrotzelt, dass einer, dem Leichen derart zuwider waren, vielleicht nicht unbedingt Hauptkommissar hätte werden sollen. Aber Wenzel Landauer hatte nichts gegen Leichen, also nicht per se. Er war ja Wiener. Nur die wässrigen, die machten ihm immer etwas zu schaffen.
Man wusste ja, wie schon eine halbe Stunde Badewanne die Leute zurichtete - Visage wie eine Mehlspeis hattest du danach, Finger wie erkaltete Sacherwürstel. Wenn du noch deutlich länger badetest, tja, unerfreulich.
Wenzel stand auf der Deichkrone und blickte hinab auf die Neue Donau. Eine Pontonbrücke führte hinüber auf die Donauinsel, an deren Ufer er im morgendlichen Dunst seine Kollegen ausmachen konnte. Einige von ihnen hantierten mit langen Stangen, stocherten im eisigen Wasser.
Wenzel schlug seinen Mantelkragen hoch, setzte sich in Bewegung. Die Sonne stand noch tief, Raureif verzierte die Bäume und die Walulisobrücke. Schnee lag aber keiner. Die ganz Alten meckerten, das bisserl Frost und Griesel sei kein echter Wiener Winter mehr. Für Nachgeborene wie Wenzel fühlte es sich trotzdem eisig an.
Er überquerte die Brücke und ging zur Uferböschung. Man hatte die Tote bereits herausgefischt, und er beugte sich vor, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. Aufs Knie ging er nicht, denn dabei hätte er sich die Anzughose eingesaut. Außerdem war er zu fett. Kam er nach seinem Kniefall nicht mehr hoch, hatten die Kollegen wieder was zu tratschen.
Die Tote sah nicht übel aus, also für eine Wasserleiche. Sie war nicht aufgequollen, nur entsetzlich blass. Wenzel schätzte sie auf Mitte zwanzig. Die Tote trug eine verwaschene Jeans, ein billiges T-Shirt, keine Schuhe. Letztere kamen ihnen immer abhanden, dasselbe galt für Kopfbedeckungen oder Jacken. In der Lobau, Wiens grüner Oase, floss die Donau relativ gemächlich dahin. Doch je nachdem, wo sie baden gegangen war, war die Tote an Stellen vorbeigekommen, an denen es heftiger zuging. Und da konnte dir die Strömung glatt die Socken ausziehen.
Woran das Mädchen gestorben war, ließ sich auf den ersten Blick nicht sagen - keine Einschusslöcher, kein eingeschlagener Schädel. Selbstmord?
Im Winter in die Donau zu gehen, war entsetzlich. Andererseits, was wolltest du sonst tun? Es war ja letztlich eine Frage der Optionen. Früher hatten sich viele von der Floridsdorfer Überführung auf die Autobahn gestürzt. Aber heutzutage erkannten die Selbstfahrer das Fallobst bereits, bevor es auf dem Asphalt aufschlug - ihr Autopilot leitete binnen Sekundenbruchteilen ein Ausweichmanöver ein. Da lagst du dann also auf der Schnellstraße, Haxen gebrochen, Wirbelsäule verdreht. Und der Achtzehntonner, der dein Charon hätte sein sollen, machte einen eleganten Schlenker um dich herum.
Gwion Bach, der neue Chefforensiker, stapfte unterhalb der steilen Böschung in Anglerhosen durch die Neue Donau, auf der Suche nach Gottweißwas. Wenzel winkte ihm zu. Bach kam herübergestakst.
»Fragen?«, fragte Bach.
»Schon«, erwiderte Wenzel.
»Es werden bald noch mehr sein.«
Wenzel überhörte die Bemerkung. Für jemanden, der quasi frisch von der Uni kam, erschien sie ihm reichlich altklug.
»Zunächst die Basics, bitte«, sagte er.
Bach nickte und begann, die Böschung hochzuklettern. Oben angekommen, lehnte er sich keuchend an eine kahle Schwarzpappel am Ufer, sagte: »Sie ist seit zehn, zwölf Stunden im Wasser.«
»Ertrunken? Oder schon vorher tot?«
Anstatt zu antworten, zog Bach mit seinen behandschuhten Fingern den Kiefer der Toten auseinander. Ihre Zunge war so schwarz wie des Teufels Füße.
»Vergiftet?«
»Kein Zweifel.«
»Hatte sie Papiere? Sonst was in der Datenbank?«
Bachs Mundwinkel zuckten. Hatte er auch etwas gegen Wasserleichen? Dann hätte er seinen Beruf noch mehr verfehlt als Wenzel.
»Nichts. Namen haben wir noch nicht.«
»Aber?«
»Ich kann dazu erst was sagen, wenn ich sie im Labor habe.«
Der Unterton verriet Wenzel, dass der junge Forensiker durchaus schon etwas hätte sagen können, sich aber zunächst rückversichern wollte. Früher wäre ihm derlei enorm gegen den Strich gegangen, und er hätte Bach die Information an Ort und Stelle abgepresst. Inzwischen war Wenzel jedoch altersweise geworden oder vielleicht auch einfach müde. Wozu der ganze Heckmeck? Tote hatten es nicht eilig und Beamte schon gar nicht.
Der Fundort nahe der Donauinsel befand sich in der Nähe eines Areals, in dem sich im Sommer die Nackerten tummelten. Außer Wenzels eigenen Leuten, der Sektorpolizei, waren noch die Dorfbullen von der Mira vor Ort. Auf dem asphaltierten Weg am Nordufer standen unweit der Brücke ein paar Gaffer, schauten herüber. Sehen konnten sie allerdings nichts. Der Tatort war umgehend herausholografiert worden, auf Sicherheitsebene natürlich. Mit handelsüblichen Strippergoggles kam man da nicht durch. Die Schaulustigen sahen folglich das Donauinselufer, minus Leiche, minus Polizisten, minus forensischer Markierungen. Trotzdem harrten sie aus. Vielleicht hofften sie, es werde mehr zu gaffen geben, wenn man die Leiche über die Brücke zum Parkplatz trug. Doch auch daraus würde nichts werden. Wenzel hatte der Gvardiya Mira aufgetragen, alles abzuriegeln.
»Ansonsten fertig, Gwion?«
»Ja, fast.«
»Gut. Ich fahre jetzt. Wir sehen uns gleich.«
Wenzel überquerte erneut die Brücke und den Deich, lief zum Parkplatz. Keuchend wuchtete er dort seinen schweren Leib in den Fond des Dienstmoduls, legte umständlich den Gurt an. Ein paar Kilo mussten runter, besser ein paar mehr. Vielleicht sollte er doch den Rat seines Töchterchens beherzigen und sie ins Hyperkukolni-Fitnessstudio begleiten. Nicola zufolge war das auch etwas für Unsportliche. Wenzel korrigierte sich. Nicht Nicola, sondern Polly, sie hieß jetzt Polly. Mit achtzehn wechselten sie alle die Namen, so war das heutzutage.
Das Modul setzte sich in Bewegung. Wenzel rieb sich seine eisigen Hände. Er träumte von einem dampfenden Einspänner in seinem Lieblingscafé, aber ein Blick auf den vor ihm schwebenden Kalender sagte dem Kommissar, dass es eher Automatenbrühe werden würde. Es war der siebte Dezember 2095, ein Donnerstag, sein verdammter Schurfix-Tag: Treffen mit den Kollegen aus dem Wiener Morddezernat, danach die wöchentliche Schalte mit SePo-Ermittlern aus den Sektoren Alpe-Adria und Balkanien. Als krönender Abschluss folgte am Nachmittag eine mehrstündige Holokonfi mit der Ochrana Soyuza, dem EURUS-Unionsschutz. Den Kollegen Denninger, einen großen Witzbold vor dem Herrn, hatte die wöchentliche Schalte mit der Geheimpolizei zu folgendem Vers inspiriert: »Und am Donnerstag kommt immer - die Gestapo, was ist schlimmer.« Das war ein wenig daneben, aber leider nicht völlig.
Und nun musste er sich auch noch um die Wasserleiche kümmern. Wenzel sah sein Mittagessen in Gefahr.
Neben der Praterbrücke schwebte ein gigantisches grünes »K«, das Logo von Kusotschek. Wenzel beschloss, sich dort gegen die Bedrohung eines Mittags ohne Mahlzeit zu wappnen. Er befahl dem Modul, sich in die Drive-in-Schlange einzufädeln, bestellte einige Sachen - eine Gulaschsuppe, ein paar Semmeln, außerdem zwei gefüllte Kipferl.
Letztere verspeiste Wenzel noch während der Fahrt und las dabei in der frisch angelegten Akte der Toten. Unbekannte Person, weiblich, kaukasisch, gefunden von einem Spaziergänger mit Hund. Was täte die Polizei bloß ohne die?
Ansonsten hatte niemand etwas gesehen. Schleifspuren am Ufer gab es keine. Es schien folglich wahrscheinlich, dass man die Tote weiter flussaufwärts ins Wasser geworfen hatte.
Wenzel tippte auf ein Foto, vollführte mit den Händen eine Bewegung. Das Bild verwandelte sich in ein dreidimensionales Holo der Frau. Er fand, dass sie osteuropäisch wirkte - hohe Wangenknochen, feines hellbraunes Haar. Unwahrscheinlich war das nicht. Zwar schien halb Westeuropa auf dem Weg nach Sibirien zu sein, aber im Gegenzug kamen auch einige Ostler nach Wien, Paris oder London. In diesen entvölkerten Städten gab es reichlich Platz, die Mieten waren günstig.
An der Unionsbrücke querte sein Ventura die Donau, nahm Kurs auf das Hauptquartier der Sektorpolizei. Kurz darauf stieg Wenzel aus. Die Tüte von Kusotschek in der Rechten ging er zur Pathologie, die in einem Nebengebäude lag. Bach und die unbekannte Tote warteten dort bereits auf ihn. Anscheinend hatte der Forensiker noch nicht mit der Obduktion begonnen. Wollte er, dass der Kommissar dem Spektakel beiwohnte? Darauf konnte Wenzel gerne verzichten.
»Du hättest nicht warten müssen, Gwion.«
Bach fuhr sich mit der Hand durch die schulterlangen, dunklen Haare. Er war ein ganz schöner Schönling. Hatte er wohl einen Schlag bei den Frauen? Oder nahmen sie Reißaus, wenn sie seinen Beruf erfuhren?
»Wir haben hier ein Problem«, sagte Bach.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ich habe sie durch die Datenbank gejagt, zwecks Identifikation.«
»Und?«
Bach winkte Wenzel zu sich. Vor ihnen erschienen zwei Fotos. Das eine war unten am Fluss aufgenommen worden. Auch das andere Foto zeigte eine Tote. Sie glich der Lobau-Leiche aufs Haar.
»Zweimal die Gleiche? Wo ist das?«
»Ein Stück hinter Bratislava. Schon der nächste Sektor, deshalb nicht auf meinem Tisch gelandet. Sie wurde verscharrt, aber ein Spaziergänger hat sie gefunden, vor zwei Tagen. Name unbekannt, trotz biometrischem Abgleich.«
An der Polizeihochschule hatte man ihnen seinerzeit erzählt, in Zukunft werde es praktisch keine...
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