Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Tach. Da bin ich wieder. Fast fünf Jahre ist es her, dass ich die erste Gebrauchsanweisung für das Ruhrgebiet schrieb. Vielen Dank für die bundesweite Aufmerksamkeit und die guten Besprechungen in den großen Wochenblättern und überregionalen Magazinen, erst recht aber vielen Dank für die netten einheimischen Kommentare, Ergänzungen und Einladungen zu Lesungen umme Ecke! In fünf Jahren, sollte man meinen, passiert eigentlich gar nicht so viel. Das mag für die meisten Großstädte richtig sein. In Köln stürzt vielleicht mal das Stadtarchiv ein, in Hamburg wird über Nacht die HafenCity aus dem Boden gestampft, aber dass sich in Münchenberlinstuttgart groß etwas getan hätte, kann man nicht gerade behaupten.
Aber hier bei uns! Und wie. Kein Stein steht mehr auf dem anderen, hat man manchmal das Gefühl. Der Rhythmus, die Schlagzahl unseres Alltags scheinen sich zu verändern, schneller zu werden. Da wächst etwas, das gigantisch sein wird. Ich stehe manchmal mit offenem Mund da und denke, das kann doch alles nicht sein. Meine Heimat erfindet sich gerade neu, unsere Welt wird erneut von Menschenhand komplett umgestaltet, nun schon zum dritten Mal in 150 Jahren. Ich bin völlig fasziniert, finde aber nur schwer einen Weg, dieses Gefühl in ein noch so offenes Raster zu pressen. Hier explodiert gerade alles. Wow!
Wir sind Kulturhauptstadt! Wir sind U-Turm! Wir sind Zollverein! Wir sind aber auch Opel, wir sind Karstadt, wir sind arbeitslos. Wie viel positive und negative Energie unsere 4435-Quadratkilometer-Insel im Herzen Westeuropas, größer als Mallorca und Menorca zusammen, gerade durchpulst, das müsste man glatt aus dem Weltraum leuchten sehen können. Kann man sogar, es gibt Beweisfotos. Am 11. April 2006 jedenfalls entschied sich eine EU-Expertenjury für Essen und das Ruhrgebiet als Europäische Kulturhauptstadt 2010, wobei übrigens das Wort »Experte« im Ruhrgebietsdeutsch das genaue Gegenteil von »Fachmann« bedeutet: »Du bist mir vielleicht 'n Experte!« Seitdem drehen hier alle durch. Zieht man mal die üblichen Kloppereien um Geld, Macht und Einfluss ab, klammert man für einen Augenblick alle allzu abgedrehten Spinner und notorischen Bedenkenträger aus und vergisst knapp die Hälfte von allem, was je versprochen und geplant wurde - dann bleiben unterm Strich immer noch ein halbes Dutzend veritabler Großprojekte, von denen man die meisten eh dringend hätte in Angriff nehmen müssen, einige wunderschöne poetische Ideen wie die großen gelben Ballons, die als »Schachtzeichen« über unseren ehemaligen Grubeneinfahrten schweben werden, und zwei, drei Weichenstellungen, die das Leben im Ruhrgebiet in den nächsten Jahren entscheidend verändern.
Bei den Menschen, die ihre Pulle Export und ihre Packung Zaretten »anne Bude« kaufen, bei den Fans auf der Südtribüne, beim Oppa im Schrebergarten ist die Kulturhauptstadt kurz vor ihrem Start noch gar nicht richtig angekommen. Was das alles soll, was das wieder kostet, und wem das am Ende nützt?! Und doch bedingt das Motto der Kulturhauptstadt »Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel« ein Umdenken und Sich-neu-Erfinden, womöglich wird daraus sogar eine Blaupause für andere alte Industrieregionen, die den Strukturwandel noch vor sich haben. Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft lösen die industrielle Produktion ab, ausgerechnet im Ruhrgebiet, darauf muss man erst mal kommen. Heißt das, jeder Mensch kann Künstler? Und mit seiner Kreativität Geld verdienen? Demnächst also toll: Arbeitslose Opelaner informieren ihre Follower via Twitter über ihre Fortschritte als Fashiondesigner; die »Bread & Butter« findet ab sofort auf dem Bochumer Nokia-Gelände statt; Karstadt-Verkäuferinnen provozieren das einheimische Hörder Publikum mit Cyber-Installationen am Ufer des just gefluteten Dortmunder Phoenixsees; während ihrer Standzeiten am Hauptbahnhof entwerfen Taxifahrer immer neue Smartphone-Applikationen für ortsunkundige Städtetouristen; in verlassenen Stollen und Schächten züchtet derweil Prof. Dietrich Grönemeyer merkwürdige Heilpilze für gewinnbringende biomedizinische Anwendungen im »Medical Valley« an der Ruhr. Und Kreativdirektor Dieter Gorny zupft dazu versonnen den E-Bass.
Sie lachen? Warum? Bei uns im Ruhrgebiet ist alles möglich. Oder haben Sie auch gelacht, als die Süddeutsche Zeitung bereits im Oktober 2007 in einem zwölfseitigen Special zur Kulturhauptstadt erkannte: »Die Sonne ist längst nicht mehr verstaubt«? Es ging wie immer um Kohle, Stahl, Currywurst, Ruhrdeutsch und Brieftauben, aber auch um neue Landmarken und Leuchttürme. Ein Jahr später erschien der stern mit der Titelschlagzeile »Weltstadt Ruhrgebiet« und staunte in einer Zwanzigseiten-Strecke über den »iPOTT«, eine Wortschöpfung, auf die ich heute noch neidisch bin. Im selben Monat acht Seiten Süddeutsche unter der Headline »Hoffen auf die Strahlkraft«, im Januar 2009 dann ein düsteres ZEIT-Dossier über Bochum »Auf der Kippe«, gefolgt von sechs aufmunternden Seiten WELT im März ebenfalls über Bochum: »Neue Chancen der Stadt«. Nokia kaputt, Opel kaputt, aber von Chancen reden! Aber sie haben recht, genau das macht uns hier aus.
Das Getöse um die Kulturhauptstadt, die Diskussionen um die Kreativwirtschaft und die steigende Fremdwahrnehmung durch bundesweite Qualitätsmedien beeinflusst unsere Eigenwahrnehmung. Wir beschäftigen uns mit uns selbst, horchen in uns hinein, dröseln das Missverhältnis unserer Minderwertigkeitskomplexe und unseres Lokalstolzes auf. Dinge geraten ins Rutschen. »War schon immer so« und »Ham wa noch nie so gemacht« werden immer unglaubwürdiger. Zöpfe werden abgeschnitten. Neuerdings streiten die Jusos für ein neues Discoviertel in Dortmund, der Gelsenkirchener SPD-Oberbürgermeister fordert einen gemeinsamen Ruhr-OB, und selbst das Undenkbare wird denkbar: ein funktionierender Nahverkehr .
Verstreute Dörfer üben Metropole. Seien Sie live dabei, das müssen Sie erleben! Überall Aufbruch, überall Zukunft: gestern Stahlwerk, heute Baustelle, morgen Marina - der Phoenixsee auf einem alten Dortmunder Hoesch-Gelände. Gestern ein aufgegebener Duisburger Stadtteil, ein Migrantengetto, heute eine Prachtmoschee und das »Wunder von Marxloh«. Gestern Borussia Doofmund, heute Kloppomania. Gestern Schalker Kreisel, morgen Meister mit Magath. Gestern das Aus für Marabo, das älteste Stadtmagazin, und Galore, das spannende Interviewmagazin, heute unabhängiger Journalismus auf Ruhrbarone.de. Der Wandel erreicht sogar den eigenen Körper: Letzten Dienstag gab's noch schwer verdaulichen Eintopf für Malocher, volle Teller mit Fleisch, Kartoffeln und Soße - heute entwickelt der Köcheclub FC Ruhrgebiet die Neue Ruhrgebietsküche und bastelt am Pfefferpotthast 2.0.
Die Currywurst lebt trotzdem weiter. Helge Schneider stirbt nicht, der Bolzplatz stirbt nicht, der Ruhrgebietshumor stirbt nicht. Das Ruhrgebiet wird weiter hilfsbereit und gastfreundlich sein, am Horizont sieht man immer irgendwas wie Kühlturm, Stahlwerk oder Schlot, und wie herrlich ist ein frisch Gezapftes! Ich freue mich, wenn Sie mich durchs Ruhrgebiet begleiten wollen - herzlich willkommen!
Aber vielleicht erzählen Sie erst mal etwas von sich. Sind Sie von hier? Ach was. Dann kennen Sie sich ja hier aus. Gehen Pommes-Rotweiß essen, stellen Ihren Liegestuhl am Rhein-Herne-Kanal auf und schleppen jährlich Ihren Eimer Fettkohle zu den Ruhrfestspielen, wie damals, nach dem Krieg, als Hamburger Schauspieler in Recklinghausen Theater für die ausgebombten Ruhrgebietler gemacht haben und mit Kohle bezahlt wurden, mit der das kalte Theater geheizt werden konnte. Oder Sie fahren mit der Straßenbahn durch Vororte mit hohen Mietshäusern, kaufen Ihre Tomaten beim Türken und schwenken in Süd- und Ostkurven schwarz-gelbe und blau-weiße Fahnen. Bestimmt haben Sie mindestens einmal mit Rusty im »Starlight Express« mitgefiebert, und Sie wissen, dass eine Menge Leute von außerhalb kommen, um sich Ihre ollen Zechen anzusehen. Soll'nse doch! Und wenn Sie Ihren Kindern am Wochenende den Familienopel leihen, ist am nächsten Morgen der Tank leer. Denn die Blagen fahren die ganze Nacht zwischen Dortmund und Duisburg hin und her, um in Fabrikhallen zu tanzen.
Oder kommen Sie etwa gar nicht aus dem Ruhrgebiet? Dann haben Sie aber doch sicher trotzdem längst eine genaue Vorstellung davon, wie's hier zugeht. Sie wissen, dass seit der Kohlezeit den Ureinwohnern zwischen Rhein und A 1 Grubenlampen auf der Stirn wachsen und verrußte Wäsche tot von der Leine fällt. Sie sind sicher, dass der hiesige Menschenschlag Brieftauben züchtet und in seinem maulfaulen Dialekt sämtliche Wortendungen verschluckt. Er ist natürlich mehrheitlich arbeitslos, probt aber nach Jahrzehnten in selbst gebuddelten Stollen nunmehr den aufrechten Gang: eröffnet Universitäten, Shopping Malls und Technologiezentren, wird ab und zu Fußballmeister und nimmt zwanzig Meter von jeder Klümpchenbude entfernt reihenweise Comedy-CDs auf. Die Frauen im Ruhrgebiet werden von ihren Männern »Mutti« genannt, tragen saure Dauerkrause und lesen die Fachzeitschrift Für Ihr. Und Sie wissen auch: Seit die Ruhrgebietler entdeckt haben, dass sich der Tanz um den gepressten Schachtelhalm wirtschaftlich lohnt, dem die pittoreske Industrielandschaft ihr schwarzes Gold verdankt, geben sie sich plötzlich irgendwie kulturell wertvoll. So richtig mit Weltkulturerbe und RuhrTriennale.
Es macht großen Spaß, im Ruhrgebiet zu leben. Wenn Sie auf dem Markt am Fischstand stehen und auf den Seeteufel zeigen, sagt der Oppa neben...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.