Schweitzer Fachinformationen
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Im Zug erklärte Kishone den Mitreisenden die Topographie seines Gesichts.
»Ich habe das falsche Mädchen geküsst . Ich habe zu viele dumme Fragen gestellt.«
Nach einigen Stunden hatte er sich einen Vorrat an Ausreden zurechtgelegt.
»Ich bin zu Ihrem Glauben konvertiert, habe das Wort des Propheten mit glühender Zunge verkündet und mir dabei den Mund verbrannt«, sagte er zu einem einfältig aussehenden Menschen. Er fing sich eine Ohrfeige dafür. Auch vor der Türkei machte das Englische nicht halt, und in puncto Religion verstanden sie hier weniger Spaß als die gesamte Pushkarer Polizei mitsamt ihrem Ambassador.
Kishone verfolgte das vorläufige Ende seiner Reise auf der Karte. Izmit, Gebze, Pendik und wie all die Vororte hießen. Der Zug fuhr jetzt kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit. Lautstark priesen Händler ihre Waren, auf den Bahnsteigen der kleineren Stationen wurden Speisen, Tee und Zeitungen angeboten. Sie näherten sich der Stadt von Osten her, die Karte log nicht.
Endlich war der große Bahnhof erreicht, Haydarpasa Railway Station. Eine Stunde zu spät - überpünktlich für indische Verhältnisse. Aber er musste ja noch auf die andere, europäische Seite der Stadt, mit der Fähre über den Bosporus bis zum Bahnhof Sirkeci, wo die Züge nach Westen gingen. Kishone hoffte, dass Amitabh ihn bereits wie abgesprochen erwarten würde.
Lachende Gesichter, Männer begrüßten sich schulterklopfend, Kinder fielen ihren Müttern und Tanten in die Arme. Die Ankommenden wurden per Lautsprecherdurchsage begrüßt. Auf einem der Gleise wurde der Orient-Express zusammengesetzt. Wenn er Joan richtig verstanden hatte, hatte ihr Aufenthalt in Istanbul etwas mit diesem Zug zu tun. Glänzend blaue Wagen koppelten an eine schwarze, wie lebendig schnaufende Lokomotive. Bedienstete aus einem anderen Jahrhundert schwirrten wie rote Ameisen umher. Damen mit großen Hüten führten winselnde Hündchen an Leinen. Am Ausgang fand er den Freund.
Auch auf dem neuen Kontinent war auf Amitabh Verlass. Er hatte sich rasiert, vielleicht in der Absicht, dem Aussehen Jack Kerouacs näher zu kommen, dessen Konterfei auf der Rückseite des Taschenbuchs abgebildet war, das Joan ihm geschenkt hatte. Kishone hatte ihn seit Kindertagen nicht mehr rasiert gesehen, und sollte Amitabh tatsächlich das vermutete Ziel verfolgt haben, so hatte er es erreicht. Die Veränderung war kolossal, die Ähnlichkeit zu dem jungen Beatnik jetzt zu offensichtlich, um sie leugnen zu können, und dennoch sah Amitabh schlecht aus. Er wirkte krank. Zu seinem Erscheinungsbild passte die fahle Begrüßung: keine Umarmung, kein Händedruck. Ein kalter Empfang. Schweigend folgte Kishone ihm zur Bullet. Nach kurzer Fahrt hielten sie wieder. An einem Platz bei der Galatabrücke war der Teufel los. Kishone konnte sich nicht sattsehen an der fremden Welt. Junge Seekadetten in gesteiften weißen Uniformen, die Offiziere mit übergroßen Mützen. Ein Fahnenverkäufer, Halbmond und Stern flatterten auf blutrotem Grund im Bosporuswind. Eiswagen, Luftballons und Zuckerwatte. Kishone setzte sich auf eine der großen Stufen, die zur Brücke führten. Amitabh bat ihn, die Maschine mit dem Gepäck im Auge zu behalten, und verschwand in der Menge. Kishone sah all die Angler auf der Brücke, Hunderte mussten es sein. Das andere Ufer mit den Häusern im Hang, aus denen hinter einem Vorhang aus rußigen Schiffsabgasen der Turm aufragte, in dessen Nähe Joan auf ihn wartete. Rotnackige Touristen, weiße Hütchen, surrende Aufnahmen in Super-8. Die Fremdenführer wiesen mit Regenschirmen den Weg. Jeder benutzte den gleichen Trick, lediglich die Farbe der Schirme variierte. Eine alte Frau mit Kopftuch verkaufte Körner und Mais. So fette Tauben pickten in Indien nicht danach. Die mächtigen Moscheen respekteinflößend, ganz anders als die verspielten Pushkarer Tempel. Amitabh kehrte zurück. Auf einem goldenen Tablett brachte er Tee und setzte sich neben Kishone. Gemeinsam schlürften sie das Gebräu. Zwei Stufen unter ihnen saß eine Verrückte. Die Frau hatte sich durch die immergleichen Kreisbewegungen auf dem rauen Stein den rechten Handballen wundgescheuert. Wie in Trance wiederholte sie ohne Unterlass ihre Worte. Ihr Blut zog auf dem groben Stein rote, ineinander übergehende Mantra-Kreise. Kishone fotografierte sie, ohne dass sie es merkte. Den Film hatte er von Joan. Wie viele Minuten noch bis zu ihr? Auch von Amitabh machte Kishone ein Bild. Der Sucher seiner Kamera diente ihm als Deckung, denn bisher hatte er vermieden, Amitabh direkt anzusehen. Amitabhs Augen glänzten fiebrig, seine Lider waren geschwollen.
»Alles okay?«, fragte Kishone.
Amitabh bewegte seinen Kopf von der einen Schulter zur anderen. Er wollte Gelassenheit signalisieren. Sein Lächeln blätterte ihm wie alte Farbe vom Gesicht.
»Serge ist wieder da.«
Vor vier Tagen war noch alles gut gewesen, bestens beinahe. Nachdem sie sich am Morgen in Teheran die Bäuche mit Omeletts vollgeschlagen und die Enfields betankt hatten, war es vor der Herberge zu einem letzten herzlichen Treffen mit den Deutschen gekommen. Touristen-Einmaleins: Austausch der Adressen, dazu die Beteuerung, sich gegenseitig zu besuchen, in Deutschland, in Indien, wo auch immer. Peter absolvierte mit Amitabh eine Probefahrt im R4 um den Block. Noch immer war die Windschutzscheibe ein Sorgenfall, beide lachten sich schlapp darüber, dass die Sonne jetzt geometrische Lichtfiguren ins Wageninnere warf. Heute war es nicht Peter, sondern Udo, der schmollte. Aber nur so zum Spaß. Den aufgekratzten Frauen gefiel das. Im Übermut küsste Monika Kishone in dem Moment auf den Mund, als Joan um die Ecke bog. Sie war auf einem Fahrrad unterwegs, was Kishone nicht nur angesichts der Hügel Teherans bemerkenswert fand. Es war eine mintgrüne Rennmaschine der Marke Bianchi, deren weißumwickelten Lenker sie an seinen Enden gepackt hatte wie einen Stier bei den Hörnern. Im ersten Augenblick war Kishone Joans Erscheinen unangenehm, zumal Monikas Kuss auf seinen malträtierten Lippen brannte, aber später konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Sache auch ihr Gutes hatte. Joan legte das Rad behutsam auf die Seite und tat, als habe sie den Kuss nicht bemerkt oder als messe sie ihm keinerlei Bedeutung zu. In ihrem Gesicht und auf den Schultern bildete der Schweiß kleine Perlen. Mao und Monika lächelten zu alledem nett und naiv.
Zur Sicherheit hatte Joan Kishone und Amitabh die Adresse ihres Hotels gleich auf zwei Zettel notiert. Unser Wiedersehen ist ihr wichtig, dachte Kishone. Über Nacht hatte sie für ihn einen Schwarzweißfilm besorgt. Amitabh schenkte sie eine zerfledderte, mit durchsichtigem Klebeband geflickte Taschenbuchausgabe von >On the Road<. Dass der Kuss, den sie Amitabh auf die noch bärtige Wange drückte, bevor sie wieder aufs Rad stieg, einen Moment zu lang ausfiel, interpretierte Kishone ebenso zu seinen eigenen Gunsten wie den Umstand, dass Joan ihn noch immer Mister Kishone nannte. Zu Amitabh hingegen sagte sie Kerouac. Sie will mir den Kuss heimzahlen, dachte Kishone, sie nimmt mich ernst.
»Serge ist wieder da?«
»Ja.«
»Ich dachte, ihr hättet euch geeinigt, euren Frieden gemacht, eine Abmachung getroffen.«
»Genau das ist das Problem. Er hat mich daran erinnert.«
»Was ist das?«
»Wir haben einen Stromausfall. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Mich wundert, dass es dich noch wundert.«
Kishone steht auf, um in die Küche zu gehen. Das Licht der auf der Straße vorbeifahrenden Autos huscht durch das Zimmer. Es ist nicht vollständig dunkel, aber wenigstens leise, weil die sonst allgegenwärtige Musik und Lautsprecherbeschallung der Geschäfte und Verkaufsbuden fehlt. Sax geht ans Fenster. Binnen Sekunden hat Mumbai an Hektik verloren, und der neue Zustand steht der Stadt gut. Wo sonst nachts Tausende Watt Hotelnamen in den Himmel blinken, klebt ein großer schwarzer Fleck. Auch die Menschen wirken ruhiger, als nährte sich ein Teil von ihnen ebenfalls von Elektrizität.
»Willst du noch eine Cola-Rum, bevor uns die Eiswürfel davonlaufen?«, fragt Kishone aus der Küche.
»Ja, gerne«. In der Nachbarschaft starten stotternd die ersten Dieselgeneratoren. Sax schaut sich jetzt ungeniert im Zimmer um, unter Kishones Blick hat sie sich zuvor wie eine Voyeurin gefühlt. Der Raum ist sauber, geradezu steril, der weißgeflieste Boden glänzend wie in einem Krankenhaus. Der hölzerne Tisch und die Stühle passen weder zusammen noch zur länglichen Kommode an der Wand. Die restliche Einrichtung indischer, als Sax sie erwartet hatte. Bronzene Götter, Masken, Tücher an den Wänden zwischen den Drucken des Tourismusbüros. Ein kleiner Gebetsschrein, ein blauer Ganesh inmitten halbverwelkter Blüten und Räucherstäbchen. Sax wundert die völlige Abwesenheit privater Fotografien.
»Vimala ist Hinduistin?«, ruft Sax und fragt sich gleichzeitig, ob es das Wort Hinduistin überhaupt gibt, vielleicht hieß es ja Hindu oder Hindi.
»Ja, hatten wir noch nicht darüber gesprochen?« Kishone kehrt aus der Küche zurück und stellt ein Tablett auf den Tisch: eine Flasche Cola, eine Flasche Old-Monk-Rum, ein paar brennende Teelichter, zwei bereits gefüllte Gläser, einen Eiswürfelbehälter, einen weißen Tablettenportionierer. Die drei kleinen Fächer sind auf Deutsch mit Morgens, Mittags, Abends beschriftet. Der Wachsgeruch und die noch immer anhaltende Stille haben etwas Weihnachtliches. Kishone reicht Sax ihr Getränk. Beim Zuprosten klirrt das Eis in den Gläsern.
»Schön, dass du da bist«, sagt er zum wiederholten Mal,...
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