Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten schaut Inspektor Héctor Salgado sich plötzlich um, fest davon überzeugt, dass ihm jemand folgt. Aber er sieht nur namenlose und gleichgültige Gesichter, Menschen, die wie er durch das Gedränge an der Gran Vía gehen und ab und zu vor einem der traditionellen Stände mit Spielzeug und Süßigkeiten stehen bleiben. Es ist der Abend vor dem Dreikönigstag, auch wenn man es kaum glauben mag, so angenehm sind die Temperaturen. Einigen Passanten ist das offenbar egal, sie haben sich der Jahreszeit entsprechend warm eingepackt, manche sogar mit Handschuhen und Schal, gleichwohl froh darüber, einen Scheinwinter zu erleben, dem die Hauptzutat fehlt: die Kälte.
Der Umzug hat schon stattgefunden, und unter den Girlanden aus glitzernden Lichtern wälzt sich der Verkehr wieder über die Fahrbahn. Menschen, Autos, dampfende Churros und heißes Fett, alles überwölbt von den ach so fröhlichen Weihnachtsliedern, deren Texte fast surrealistisch anmuten. Wie es scheint, hat sich niemand die Mühe gemacht, neue Lieder zu schreiben, so dass im Gedröhne der Lautsprecher die lieben Fischlein ein weiteres Jahr aus demselben verdammten Fluss trinken. Genau das ist es, was an Weihnachten so nervt, denkt Héctor: dass alles immer gleich abläuft, während wir uns verändern und älter werden. Für ihn grenzt es schon an Grausamkeit, dass diese Weihnachtsstimmung das Einzige ist, was sich Jahr um Jahr ohne Ausnahme wiederholt und unseren Verfall nur umso deutlicher zu Tage treten lässt. Und zum x-ten Mal in den letzten beiden Wochen wünschte er sich, er wäre vor dem ganzen Rummel in ein buddhistisches oder radikal atheistisches Land geflohen. Nächstes Jahr, sagt er sich, nächstes Jahr, immer wieder, wie ein Mantra. Und was sein Sohn dazu sagt, kann ihm gestohlen bleiben.
Er ist so mit sich beschäftigt, dass er nicht merkt, wie der langsam fließende Fußgängerstrom innehält. Héctor steht vor einem Stand mit Tüten voller Plastikfigürchen: Cowboys und Indianer, Soldaten in Tarnanzügen, bereit, aus dem Schützengraben zu feuern. Seit Jahren hat er diese Figürchen nicht mehr gesehen, und er erinnert sich, wie er ein paar für Guillermo gekauft hat, als der noch ein kleiner Junge war. Der Verkäufer jedenfalls, ein alter Mann mit arthritischen Händen, hat es geschafft, bis ins Detail eine grandiose Kriegsszene nachzustellen, die einem Film aus den Fünfzigern alle Ehre gemacht hätte. Es sind nicht die einzigen Figürchen, die er verkauft. Weitere Soldaten, die klassischen aus Zinn, größer und mit glänzenden roten Uniformen, marschieren auf der einen Seite; auf der anderen, historisch etwas desorientiert, eine Gruppe römischer Gladiatoren.
Der Alte winkt ihn heran, ermuntert ihn, die Ware in die Hand zu nehmen, und Héctor folgt der Aufforderung, mehr aus Höflichkeit denn aus wirklichem Interesse. Der Soldat ist weicher, als er dachte, fast wie menschliches Fleisch, und die Berührung ekelt ihn. Plötzlich nimmt er wahr, dass die Musik verstummt ist. Alle Passanten sind stehen geblieben. Die Wagen haben die Scheinwerfer ausgemacht, und die Weihnachtslichter, die nur noch matt flimmern, sind die einzige Straßenbeleuchtung. Héctor schließt die Augen und öffnet sie wieder. Die Menge um ihn herum löst sich auf, die Körper verschwinden, einfach so, verflüchtigen sich, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Nur der Verkäufer steht noch vor ihm. Mit einem Lächeln in seinem runzligen Gesicht holt er unter dem Verkaufstisch eine Schneekugel hervor.
»Für Ihre Frau«, sagt er. Und Héctor will gerade antworten, nein, Ruth hasst diese Glaskugeln, schon als Kind haben die sie nervös gemacht, genau wie die Clowns. Da sinken die aufgewirbelten Flocken zu Boden, und er sieht sich selbst vor einem Stand mit Plastiksoldaten, gefangen unter dem Glas.
»Papa. Papa …«
Scheiße.
Der Bildschirm des Fernsehers ein grauer Nebel. Die Stimme seines Sohns. Der Schmerz im Nacken, weil er in der ungünstigsten Haltung eingeschlafen war. Der Traum an diesem Dreikönigsabend war so wirklich gewesen.
»Du hast geschrien.«
Scheiße. Wenn dein eigener Sohn dich aus einem Albtraum weckt, ist der Zeitpunkt gekommen, als Vater abzudanken, dachte Héctor, während er sich stöhnend und mit einer Hundelaune aufrichtete.
»Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen. Und du, wieso bist du um diese Zeit noch wach?« Es war der absurde Versuch, seine väterliche Würde wiederherzustellen. Er rieb sich die linke Seite seines Halses.
Guillermo zuckte die Achseln und sagte nichts. Genau wie Ruth es gemacht hätte. Wie Ruth es so oft gemacht hatte. Unwillkürlich griff Héctor nach einer Zigarette und zündete sie an. Der Aschenbecher quoll über von Kippen.
»Keine Sorge, ich schlafe hier nicht noch mal ein. Geh ins Bett. Und denk dran, morgen müssen wir früh los.«
Sein Sohn nickte. Während er ihm nachsah, wie er barfuß in sein Zimmer ging, dachte er daran, wie schwer es war, ohne Ruth Vater zu sein. Guillermo war noch keine fünfzehn, aber manchmal hätte man meinen können, er sei viel älter. In seinem Gesicht lag eine verfrühte Ernsthaftigkeit, die Héctor mehr wehtat, als er sich eingestehen mochte. Er nahm einen tiefen Zug an der Zigarette, und ohne dass er wusste, warum, drückte er die Fernbedienung. Er konnte sich nicht mal erinnern, was er am Abend eingelegt hatte. Bei den ersten Bildern, diesem schwarz-weißen Standfoto von Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg, wusste er es wieder: Außer Atem. Ruths Lieblingsfilm. Ihm war nicht danach, ihn noch einmal zu sehen.
Zehn Stunden vorher, im Sprechzimmer des Psychologen, hatte Héctor die weißen Wände angestarrt, Wände eines Raums, den er gut kannte, und ihm war ein wenig unbehaglich gewesen. Wie üblich nahm der Typ sich Zeit, bevor er mit der Sitzung begann, und Héctor hatte immer noch nicht herausgefunden, ob diese schweigsamen Minuten dazu dienten, seinen Gemütszustand einzuschätzen, oder ob sein Gegenüber einfach nur schwer in die Gänge kam. An diesem Morgen jedenfalls, sechs Monate nach seinem ersten Besuch, war Inspektor Salgado nicht in Wartelaune. Er räusperte sich, schlug die Beine übereinander und nahm sie wieder herunter, bis er sich schließlich vorbeugte und sagte:
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir anfangen?«
»Natürlich nicht.« Und er sah von seinen Unterlagen auf, auch wenn er nichts weiter hinzufügte.
Er saß schweigend da, befragte den Inspektor mit dem Blick. Er machte einen zerstreuten Eindruck, und zusammen mit seinem jugendlichen Gesicht erinnerte er an eins dieser Wunderkinder, die mit sechs Jahren komplizierte Gleichungen lösen, aber keinen Ball treten können, ohne auf die Nase zu fallen. Ein falscher Eindruck, das wusste Héctor. Der Junge war ein müder Schütze, gewiss, aber wenn er mal schoss, traf er ins Schwarze. Die Therapie jedenfalls, die als dienstliche Auflage begonnen hatte, war für ihn zu einem Routinetermin geworden, zuerst wöchentlich, dann alle vierzehn Tage, danach hatte er sie aus freien Stücken fortgesetzt. So dass er an diesem Morgen, genau wie er es gelernt hatte, tief durchatmete, bevor er antwortete:
»Entschuldigen Sie. Der Tag hat nicht besonders gut angefangen.« Er lehnte sich zurück und sah in eine Ecke. »Und ich glaube nicht, dass er viel besser endet.«
»Schwierigkeiten zu Hause?«
»Sie haben keine halbwüchsigen Kinder, oder?« Es war eine absurde Frage. Um einen Sohn in Guillermos Alter zu haben, hätte sein Therapeut mit fünfzehn Jahren Vater werden müssen. Er schwieg, dachte nach, und in mattem Ton fuhr er fort: »Aber das ist es nicht. Guillermo ist ein guter Junge. Das Problem ist, glaube ich, dass er nie Probleme gemacht hat.«
Das stimmte. Und auch wenn viele Eltern über einen solchen äußerlichen Gehorsam froh gewesen wären, beunruhigte Héctor, was sich dahinter verbarg, denn was im Kopf seines Sohnes vorging, war ein Geheimnis. Nie beklagte er sich, seine Schulnoten waren leidlich, und seine Ernsthaftigkeit hätte Jungs, die verrückter oder verantwortungsloser waren als er, ein Beispiel sein können. Héctor merkte jedoch, besser gesagt, er ahnte, dass hinter dieser völligen Normalität etwas Trauriges steckte. Guillermo war immer ein ruhiges Kind gewesen, doch jetzt, voll in der Pubertät, war er zu einem introvertierten Jungen geworden, dessen Leben sich, wenn er nicht in der Schule war, hauptsächlich in den vier Wänden seines Zimmers abspielte. Er sprach wenig, hatte nicht allzu viele Freunde. Letzten Endes, dachte Héctor, ist er gar nicht so anders als ich.
»Und Sie, Inspektor, wie geht es Ihnen? Können Sie immer noch nicht schlafen?«
Héctor zögerte, bevor er es zugab. Bei diesem Thema waren sie sich nicht einig geworden. Nach mehreren Monaten der Schlaflosigkeit hatte der Psychologe ihm leichte Schlafmittel empfohlen, die zu nehmen er sich jedoch weigerte. Zum Teil, weil er sich nicht an sie gewöhnen wollte; zum Teil, weil sein Kopf gerade in den frühen Morgenstunden auf Hochtouren lief, und er wollte nicht auf seine produktivsten Stunden verzichten. Außerdem zog ihn der Schlaf in ungewisse Bereiche, und das waren nicht immer die angenehmsten.
Der junge Mann ahnte, was es mit seinem Schweigen auf sich hatte.
»Sie machen sich unnötigen Stress, Inspektor. Und ohne es zu wollen auch den Menschen in Ihrer Umgebung.«
Héctor hob den Kopf. Nur wenige Male wandte er sich ihm direkt zu. Der junge Mann hielt dem Blick gelassen stand.
»Sie wissen, dass ich recht habe. Am Anfang, als Sie in die Sprechstunde kamen, haben wir ein ganz anderes Thema behandelt. Ein Thema,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.