Schweitzer Fachinformationen
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Beim ersten Klingeln schaltete er den Wecker aus. Acht Uhr morgens. Er lag schon seit Stunden wach, trotzdem wurden seine Glieder plötzlich schwer, und er musste sich einen Ruck geben, um aus dem Bett zu kommen und unter die Dusche zu gehen. Das kalte Wasser verscheuchte die Benommenheit und spülte auch einen Teil der Zeitverschiebung fort. Am Nachmittag zuvor war er gelandet, nach einem endlosen Flug Buenos Aires-Barcelona, der sich an der Gepäckermittlung im Flughafen noch hinzog. Die Schalterdame hatte seinen letzten Rest Geduld aufgezehrt.
Er trocknete sich ab und bemerkte verärgert, dass der Schweiß ihm schon wieder über die Stirn rann. So war der Sommer in Barcelona: feucht und klebrig wie ein zerlaufenes Eis. Mit dem Handtuch um die Hüften blickte er in den Spiegel. Er sollte sich rasieren. Scheiß drauf. Er ging zurück ins Zimmer und wühlte in dem halb leeren Schrank nach einer Unterhose. Zum Glück waren in dem abhandengekommenen Koffer nur Wintersachen, so dass er ohne Schwierigkeiten ein kurzärmliges Hemd und eine leichte Hose fand. Barfuß setzte er sich aufs Bett. Er atmete tief durch und war versucht, sich wieder hinzulegen, die Augen zu schließen und seinen Termin, den er um Punkt zehn hatte, zu vergessen, auch wenn er genau wusste, dass er dazu nicht in der Lage wäre. Héctor Salgado versäumte nie einen Termin. Und sei’s mit meinem Henker, sagte er sich und musste grinsen. Er tastete nach dem Handy auf dem Nachttisch. Der Akku war fast leer, und ihm fiel ein, dass das Aufladegerät in dem verflixten Koffer steckte. Er suchte im Telefonbuch nach der Nummer von Ruth und sah ein paar Sekunden aufs Display, ehe er die grüne Taste drückte. Er rief sie immer auf dem Handy an, wohl weil er sich nicht eingestehen wollte, dass sie auch eine Festnetznummer hatte. Eine andere Wohnung. Einen anderen Partner. Ihre Stimme, etwas heiser, noch bettschwer, brummte ihm ins Ohr:
»Héctor ...«
»Habe ich dich geweckt?«
»Nein ... Na ja, ein bisschen.« Im Hintergrund hörte er gedämpftes Lachen. »Aber ich musste sowieso aufstehen. Seit wann bist du zurück?«
»Tut mir leid. Seit gestern Nachmittag, aber die Idioten haben mein Gepäck verschusselt, und ich durfte einen halben Tag auf dem Flughafen zubringen. Mein Handy macht gleich schlapp. Ich wollte euch nur Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin.«
Es kam ihm auf einmal absurd vor. Er fühlte sich wie ein plapperndes Kind.
»Wie war der Flug?«
»Ruhig«, log er. »Und Guillermo schläft noch?«
Ruth lachte.
»Immer wenn du aus Buenos Aires kommst, hört man das«, sagte sie. »Guischermo ist nicht da, hatte ich es dir nicht gesagt? Er ist ein paar Tage an den Strand gefahren, zu einem Freund.«
»Aha.« Pause. In letzter Zeit kam er beim Sprechen immer ins Stocken. »Und wie geht es ihm so?«
»Ihm gut, aber ich schwöre dir, wenn die Pubertät noch lange andauert, schicke ich ihn dir zurück.« Ruth lachte leise. Er musste an ihre Art zu lachen denken, an diesen plötzlichen Glanz in ihren Augen. Ihr Ton schlug um: »Héctor? Sag mal, hat sich in deiner Sache etwas getan?«
»Um zehn muss ich zu Savall.«
»Na, erzähl’s mir später.«
Wieder Pause.
»Essen wir zusammen?« Héctors Stimme war nur ein Fädchen. Ruth brauchte etwas zu lange für die Antwort.
»Ich bin schon verabredet, tut mir leid.« Noch ehe er etwas sagen konnte, war das Handy ein Stück totes Plastik. Wie er dieses Ding hasste. Seine Augen wanderten zu seinen nackten Füßen. Und mit einem Satz, als hätte das kurze Gespräch ihm den nötigen Schwung gegeben, stand er auf und ging erneut zu dem halb leeren Schrank.
Héctor wohnte im oberen Stock eines Hauses mit drei Wohngeschossen in Poblenou. Nichts Besonderes, eins der vielen typischen Gebäude in diesem Viertel, nicht weit von der Metrostation und nur ein paar Straßen von jener anderen Rambla entfernt, die in keinem Touristenführer stand. Erwähnenswert an seiner Wohnung war allein die Miete, die nicht gestiegen war, als die Gegend sich etwas auf ihre bevorzugte Lage nahe dem Strand einzubilden begann, dazu eine Dachterrasse, die praktischerweise zu seiner Privatterrasse geworden war, weil der zweite Stock leer stand und im ersten die Vermieterin wohnte, eine fast siebzigjährige Frau, die keinerlei Interesse hatte, drei Treppen hochzusteigen. Er und Ruth hatten die alte Terrasse hergerichtet, einen Teil überdacht und ein paar Pflanzen aufgestellt, die jetzt vor sich hinwelkten, außerdem einen Tisch mit Stühlen, um im Sommer dort zu Abend zu essen. Er war kaum noch hinaufgegangen, seit Ruth ausgezogen war.
Die Tür im ersten Stock ging gerade auf, als er vorbeikam, und Carmen, die Hausbesitzerin, grüßte ihm lächelnd hinterher. Seit Héctor allein wohnte, schaute er manchmal morgens auf einen Kaffee bei ihr vorbei, aber heute hatte er weder Zeit noch Lust.
Aktenzeichen 1231-R
H. Salgado
Laufendes Verfahren
Drei kurze Zeilen, notiert mit schwarzem Filzstift auf einem gelben, an einer gleichfarbigen Mappe klebenden Post-it. Um sie nicht sehen zu müssen, schlug Kommissar Savall die Mappe auf und ging noch einmal die Akte durch. Als würde er sie nicht auswendig kennen. Aussagen. Vernehmungsprotokolle. Ärztliche Gutachten. Fotos der Wunden von diesem Dreckskerl. Fotos des armen nigerianischen Mädchens. Fotos der Wohnung im Raval, wo sie die jungen Frauen zusammengepfercht hatten. Sogar mehrere Zeitungsausschnitte, darunter ein paar – wenige, Gott sei Dank – ziemlich perfide, in denen man eine eigene Tatversion zum Besten gab und mit Begriffen wie Rassismus, Polizeibrutalität und Machtmissbrauch nicht sparte. Er schlug die Mappe wieder zu und sah nach der Uhr auf dem Schreibtisch. Zehn nach neun. Fünfzig Minuten. Er kippte gerade den Stuhl zurück, um die Beine auszustrecken, als jemand an die Tür klopfte und sie fast gleichzeitig öffnete.
»Ist er schon da?«, rief er.
Die Frau, die in sein Dienstzimmer trat, schüttelte den Kopf und stützte, ganz langsam, beide Hände auf die Lehne des Stuhls vor dem Tisch. Sie schaute ihm in die Augen und kam gleich zur Sache:
»Was willst du ihm sagen?« Die Frage klang wie ein Vorwurf, eine Salve aus fünf Wörtern.
Savall zuckte kaum merklich mit den Achseln.
»Wie die Dinge stehen. Was soll ich ihm schon sagen?«
»Genial.«
»Martina ...« Er wollte harsch klingen, aber er schätzte sie zu sehr, als dass er ihr wirklich böse sein konnte. Und leiser: »Mir sind die Hände gebunden, verdammt noch mal.«
Sie gab nicht auf. Sie zog den Stuhl zurück, setzte sich und schob ihn wieder an den Tisch.
»Das könnte denen so passen. Der Kerl ist längst aus dem Krankenhaus, ist wieder zu Hause und macht ungerührt weiter mit seinen Geschäften, während ...«
»Mach mich nicht fertig, Martina!« Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Noch am Morgen hatte er sich vorgenommen, ruhig zu bleiben. Er öffnete die gelbe Mappe, nahm die Fotos heraus und legte sie auf den Tisch wie vier Asse beim Poker. »Der Kiefer gebrochen. Zwei gebrochene Rippen. Prellungen an Schädel und Unterleib. Ein Gesicht wie aus dem Schlachthaus. Und alles nur, weil Héctor den Kopf verloren hat und bei diesem Arschloch auftauchen musste. Und er hat noch Glück gehabt, keine inneren Verletzungen. Er hat ihn nach allen Regeln der Kunst verdroschen.«
Das alles wusste sie. Sie wusste auch, dass sie genau dasselbe gesagt hätte, wenn sie auf dem Stuhl gegenüber säße. Aber wenn eins die Unterinspektorin Martina Andreu auszeichnete, dann die unbedingte Loyalität zu ihren Leuten: zu ihrer Familie, ihren Kollegen, ihren Freunden. Für sie teilte sich die Welt in zwei klar getrennte Seiten, ihre Leute und die anderen, und Héctor Salgado gehörte ohne Zweifel zur ersten Gruppe. Mit einer Stimme, die ihren Chef mehr verstörte als der Anblick der Fotos, konterte sie:
»Warum holst du nicht die anderen raus? Die von dem Mädchen. Warum sehen wir uns nicht an, was dieser schwarze Hexenmeister der Kleinen angetan hat?«
Savall seufzte.
»Vorsicht von wegen schwarz.«
Martina verdrehte die Augen, aber Savall ließ sich nicht beirren.
»Das fehlte uns gerade noch. Und das mit dem Mädchen rechtfertigt gar nichts. Du weißt es, ich weiß es, Héctor weiß es. Und was noch schlimmer ist, der Anwalt von diesem Arschloch auch. Vorgestern war er hier.«
Martina zog eine Augenbraue hoch.
»Ja, der Anwalt von ... wie immer er heißt. Ich habe Klartext mit ihm gesprochen: Entweder er zieht die Anzeige gegen Salgado zurück, oder sein Mandant hat noch auf dem Weg zum Klo einen Polizisten an den Hacken.«
»Und?«
»Er hat gesagt, er müsse sich mit ihm beraten. Ich habe ihm eingeheizt, sosehr ich konnte. Off the record. Er wollte mich heute Morgen anrufen, vor zehn Uhr.«
»Und wenn er darauf eingeht? Was hast du ihm dafür versprochen?«
Savall blieb keine Zeit für eine Antwort. Das Telefon auf seinem Schreibtisch schrillte wie eine Alarmglocke. Er bedeutete der Unterinspektorin zu schweigen und nahm ab.
»Ja?« Erst machte er ein erwartungsvolles Gesicht, doch dann war seine Miene nur noch Ärger. »Nein. Nein! Ich bin im Gespräch. Ich rufe sie später zurück.« Statt aufzulegen, ließ er den Hörer einfach los, und mit einem Blick zu Martina fügte er hinzu: »Joana Vidal.«
Sie schnaubte genervt.
»Schon wieder?«
Der Kommissar zuckte die Achseln.
»In...
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