Kapitel 2
Nach einer sehr kurzen Nacht saß ich im Büro und ging meine E-Mails durch. Einige Händler hatten sich bereits zurückgemeldet und ihren Preis für die Chrysler-Ersatzteile genannt. Jetzt musste ich ihnen antworten. Doch ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Immer wenn ich heute Nacht die Augen zugemacht und mich darum bemüht hatte einzuschlafen, war Joshua da gewesen.
Ich bekam ihn einfach nicht aus dem Kopf. Vielleicht sollte ich ihn noch mal besuchen? Nein, was für ein absurder Gedanke. Energisch schüttelte ich den Kopf und nahm die Tasse. Kaffeeduft umschmeichelte meine Nase, doch dann vermischte er sich mit Joshuas Geruch, obwohl er gar nicht hier war. Genervt trank ich einen Schluck und blickte über den Rand der Tasse hinweg in die Werkstatt, die um diese Zeit noch leer war. Als Kane gestern über Scarlett gesprochen hatte, hatte er unglaublich glücklich ausgesehen. Niemals hätte ich gedacht, dass der große Mann mit dem versteinerten Gesichtsausdruck zu so einem Grinsen fähig wäre. Wie dem auch sei .
Ich stellte die Tasse ab. Wenn ich die ganze Zeit darüber nachdachte, würde ich Joshua niemals aus dem Kopf bekommen. Ich musste mich ablenken. Also wandte ich mich wieder meinem Laptop zu.
»Hugh, ist der Preis dein Ernst? Vergoldest du deine Ersatzteile?«, murmelte ich, während ich auf Antworten klickte. Ich würde ihm eine deutliche E-Mail schicken. Der Typ hatte sie doch nicht mehr alle. Wir arbeiteten schon Jahre mit ihm zusammen, waren gute Kunden und zahlten immer pünktlich. Da konnte er uns schon etwas entgegenkommen. Auch mein Groll auf Hugh hielt mich nicht davon ab, wieder an Joshua zu denken und ich nahm die Finger von der Tastatur. Vielleicht sollte ich doch zu ihm ins Krankenhaus fahren? Wenn ich ihn noch mal sehen würde, könnte ich ihn vielleicht ein für alle Mal aus dem Kopf bekommen? So meine Theorie, die es zu überprüfen galt. Also schaltete ich den Laptop ab und rollte etwas mit dem Bürostuhl zurück. Meine rationale Seite sagte mir, dass diese Theorie Quatsch war. Süchtige sollten sich von dem, was sie süchtig machte, fernhalten, und offensichtlich war ich bereits nach einer Dosis angefixt. Nein, ich war nicht süchtig, ich war nur . ach, was auch immer.
Entschlossen erhob ich mich. Ich strich über mein Sommerkleid, steuerte den kleinen Spiegel an, der über dem Aktenschrank hing, um den Zopf zu überprüfen, zu dem ich mein langes Haar geflochten hatte. Ich wollte sehen, ob mein Gesicht so müde wirkte, wie ich mich fühlte.
Was machte ich da eigentlich? Es war egal, ob ich gut aussah. Es ging nicht um ein Date, zum Teufel, sondern ich besuchte eine lebendige Leiche. Joshua würde nicht mal wissen, dass ich da war.
Hastig nahm ich meine Tasche vom Schreibtisch und stürmte aus dem Büro in Richtung Parkplatz. Während ich die Werkstatt durchquerte, kramte ich den Wagenschlüssel aus der Tasche.
Eineinhalb Stunden später lief ich auf das Krankenhauszimmer zu, in dem Joshua lag. Ich hatte den New Yorker Verkehr um diese Zeit vollkommen unterschätzt und war von einem Stau in den anderen geraten. Neben der Sicherheitstür stand der Katzenwächter, der das Zimmer gestern schon bewacht hatte.
»Du Ärmster, warst du die ganze Nacht da?«, fragte ich mitfühlend. Okay, mein Mitgefühl war etwas geschauspielert, um ihn für mich einzunehmen, da mir Blake nur gestern gestattet hatte, Joshua zu besuchen. Ich scheute mich davor, eine weitere Erlaubnis von ihm einzuholen. Wahrscheinlich hätte er eine Erklärung für mein plötzliches Interesse an Joshua verlangt, und darauf konnte ich verzichten. Ich vermochte ja nicht mal, es mir selbst zu erklären.
»Nein, ich habe den Kollegen, der die Nachtschicht hatte, vor einer Stunde abgelöst. Jetzt darf ich bis Mittag den Wachhund für den Kerl spielen und das die ganze Woche. Als hätte ich nichts Besseres zu tun.« Mein Gegenüber verzog missmutig das Gesicht. Dann sah er mich peinlich berührt an. »Verzeih mir den Wachhund«, murmelte er.
»Weil zwischen unseren tierischen Pendants und Hunden ein gewisses Verwandtschaftsverhältnis besteht? Das war doch keine Beleidigung. Da bin ich von Katzen Schlimmeres gewohnt.« Ich lachte auf und der Kater grinste.
»Du bist echt cool für eine Wölfin. Dein Name ist Rachel?«
»Stimmt und wie ist deiner?«
»Dan«, erwiderte er.
Jetzt hatten wir eine Art Vertrauensbasis aufgebaut und ich konnte zum Grund meiner Anwesenheit kommen.
»Blake hat mir die Erlaubnis gegeben, dem Gefangenen, wann immer ich will, einen Besuch abzustatten«, erklärte ich, und Dan betrachtete mich mit nachdenklichem Blick. »Ich war doch gestern schon bei ihm«, sagte ich schnell und bot alles an Willenskraft auf, um meinen Puls unter Kontrolle zu halten. Dan würde sofort bemerken, wenn er in die Höhe ging, und wissen, dass ich log.
»Wieso willst du den Kerl überhaupt besuchen? Er und seine Sippe hassen euch Wölfe. Das habe ich mich gestern schon gefragt«, hakte Dan nach.
»Ehrlich gesagt weiß ich es selbst nicht. Vielleicht reicht es nicht, dem Bösen nur einmal ins Gesicht zu sehen. Was seine Familie meiner angetan hat .« Ich schluckte schwer, vermochte nicht weiterzusprechen. Mein Blick traf auf Dans.
»Ich verstehe. Ich war damals in der alten Fabrik dabei«, erwiderte er, drehte sich zum Display des elektronischen Türschlosses und gab den Code ein, wobei ich ihm über die Schulter schaute. Anschließend ließ er mich ins Zimmer.
»Danke schön«, sagte ich an ihn gewandt.
Ein freundliches Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Wenn du rauswillst, einfach den Rufknopf drücken. Wie gestern.«
Dan schloss die Tür und ich sah zu Joshua, der regungslos im Bett lag. Zuerst stand ich einfach nur da, während sein Geruch mich wie eine zarte Decke einhüllte und die Wölfin in Unruhe versetzte. Sie wollte ihn berühren und schmecken. Vor dem Fenster entdeckte ich einen Stuhl, den ich neben das Bett stellte, um darauf Platz zu nehmen. Meine Handtasche deponierte ich neben mir auf dem Boden.
Da saß ich nun, nur eine Armlänge von dem Mann entfernt, den die Wölfin in mir begehrte wie nichts anderes. Wäre er ein ganz normaler Wolfsmann, würde ich ihn jetzt daten oder mit ihm in unseren Tiergestalten durch Wälder streifen. Je nachdem, wie traditionell man so eine Seelenverwandtschaft anging. Aber hier war so gar nichts normal. Joshua war ein Kater und noch dazu der Feind. Verdammt, was machte ich hier? Ich griff nach meiner Tasche, ließ sie aber wieder los und sank in mich zusammen. Es war, als würde mich ein unsichtbares Gewicht auf den Stuhl drücken und nicht aufstehen lassen. Nach einer unendlichen Weile, in der ich Joshua nur angestarrt hatte, kam mir in den Sinn, dass komatöse Patienten es angeblich hörten, wenn man mit ihnen sprach. Vielleicht war es so, oder ich würde jetzt eben ein peinliches Selbstgespräch führen.
»Nun, du fragst dich sicherlich, was ich hier will«, sagte ich laut, hielt dann die Luft an und beobachtete Joshua, während mein Puls außer Kontrolle geriet. Zum Glück unterdrückten die Sicherheitstür und die verstärkten Wände Geräusche auch für Wandlerohren. Mein Blick war an mein Gegenüber geheftet, natürlich kam von ihm keine Reaktion. »Okay, beruhig dich, Rachel.« Ich holte tief Luft, sorgte dafür, dass mein Puls sich wieder normalisierte. »Mmmh, das ist eine gute Frage, die zu beantworten nicht einfach ist«, fuhr ich mit dem Gespräch fort, das ich aller Wahrscheinlichkeit nach mit mir selbst führte. »Aber vielleicht sollte ich mich erst mal vorstellen. Also, ich bin Rachel und die Schwester des Alphas der New Yorker Wölfe. Meinen Bruder Aaron kennst du mit Sicherheit, denn Jade, deine Schwester, verabreichte ihm dasselbe Zeug, unter dem du jetzt leidest. Das ist schon ein bisschen ironisch.« Ich lachte bitter. »Weißt du, was noch ironisch ist? Trotz all dem zieht mich dein Geruch an wie der Blumenduft die Bienen, und es fällt mir schwer, in dir ein Monster zu sehen. Genau genommen würde ich .« Bilder tauchten in meinem Kopf auf, wie ich den Kater von seinem Krankenhauskittel befreite, um ihn mit meinen Lippen zu verwöhnen. Irritiert verbannte ich die Bilder aus meinem Kopf, packte meine Handtasche und sprang auf. Das war zu viel! Wie konnte ich so etwas nur denken?
Einen Augenblick später war ich bei der Tür und betätigte die Rufanlage.
Es knisterte.
»Ich will hier bitte raus«, sagte ich, noch bevor Dan sich melden konnte.
Er machte sogleich auf und stutzte, als er mich sah.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte er besorgt.
»Ich . äh . ich .«, stotterte ich herum und trat aus dem Zimmer.
Dan machte sogleich die Tür wieder zu. »Ist schon okay, du brauchst nichts zu erklären.«
»Tut mir leid, ich muss gehen«, murmelte ich und eilte mit gesenktem Kopf den Gang entlang. Meine Wangen glühten vor Scham. Ich würde nie wieder herkommen. Nie wieder! Katherines verdammter Sohn förderte ja Abgründe in mir zutage.
Entschlossen drückte ich auf den Knopf des Aufzugs, um damit in die Tiefgarage zu fahren, wo mein Auto geparkt war. Als eine Art Mitglied des New Yorker Katzenclans verfügte ich natürlich über die Berechtigung, die Tiefgarage zu nutzen.
Am Abend stellte ich die braune Papiertüte mit dem Einkauf auf der Arbeitsfläche meiner kleinen Küchenzeile ab und legte die Handtasche daneben. Nach dem Krankenhaus war ich ins Büro zurückgekehrt, um mich mit der Jagd nach den Ersatzteilen für Kane von Joshua abzulenken. Was aber nur mäßig gelungen war.
Seufzend machte ich mich daran, die Tüte auszuräumen. Der Salat kam ins Gemüsefach des Kühlschranks, das Sandwichbrot in den Brotkasten....