Wo das Böse zu Hause ist
von Ian Rolf Hill
Trevor lief um sein Leben!
Die nackte Angst trieb ihn an. Obwohl er durchtrainiert und sportlich war, plagten ihn Seitenstiche. Er war schweißgebadet, seine Muskeln brannten.
An der Kreuzung von Oakridge blieb er keuchend stehen und schaute sich um. Der Siebzehnjährige, der stets vorgab, vor nichts und niemandem Angst zu haben, zitterte am ganzen Leib.
Wohin sollte er gehen? Wen konnte er um Hilfe bitten?
Einen der Nachbarn? Auf keinen Fall!
Die wussten doch um seine Vergangenheit und würden sofort seine Pflegeeltern verständigen, in der Annahme, er habe mal wieder Mist ge?baut und wolle sich der Verantwortung entziehen.
Woher sollten sie auch wissen, dass seine Pflegeeltern Dämonen wa?ren?
Er hatte es selbst gesehen, als sie versucht hatten, den Teufel zu beschwören. Noch jetzt überkam ihn das kalte Grausen, wenn er an ihre starren, bleichen Gesichter dachte. Und an das, was dahinter gewesen war.
Widerliche Fratzen, mehr Tier als Mensch. Ledrige, von tiefen Falten durchzogene Haut, Hauer anstelle gewöhnlicher Zähne und triefende Löcher, wo sich die Nase hätte befinden müssen. In den Augen hatte kalte Gier gelauert. Gier auf sein Fleisch.
Trevor hatte sofort die Flucht ergriffen.
Kurz hatte er noch an Clara und Georgina gedacht, die wie er mit den Whites unter einem Dach lebten und den Scheusalen hilflos ausgeliefert waren.
Aber wie hätte er seinen Pflegegeschwistern erklären sollen, was los war? Die hätten ihn für verrückt erklärt und gedacht, er triebe wieder eines seiner kranken Spielchen mit ihnen. Er hatte Georginas verächtlich gerümpfte Nase praktisch vor sich gesehen.
Nein, er musste raus und Hilfe holen!
Also war er weggelaufen. Mitten in der Nacht, die zwar nicht eisig kalt, dafür stockfinster war. Der Himmel war bedeckt, nur ab und zu lugte die Sichel des Mondes hervor, ohne nennenswertes Licht zu spenden.
Hinzu kam, dass hier in Oakridge, am Ende der Welt, die Straßenbeleuchtung um Punkt Mitternacht ausgeschaltet wurde. Sofern es überhaupt Laternen gab, denn nicht jede Straße in diesem gottverlassenen Nest wurde am späten Abend noch beleuchtet.
Trevor fröstelte.
Plötzlich kam er sich unsagbar dumm vor. Vielleicht hatte er sich ja bloß getäuscht. Ein böser Traum, mehr nicht. Ja, das musste es sein.
»Da vorne ist er!«
Beim Klang von Robert Whites Stimme zuckte Trevor wie unter einem Peitschenschlag zusammen.
»Der kleinen Ratte ziehe ich die Haut ab!«, keifte Gilda, seine Frau.
Die ach so liebe Gilda, die angeblich keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte.
Trevor vernahm Schritte auf dem Pflaster. Zwei Schatten hetzten auf ihn zu. Es sah so aus, als würden sie mal auf zwei, dann wieder auf vier Beinen laufen.
Er rannte los, blindlings in die nächste Gasse hinein. Er musste höllisch aufpassen, auf dem Kopfsteinpflaster nicht umzuknicken. Wenn er sich den Knöchel verstauchte, war es aus.
Trevors Herz raste. Es fühlte sich an, als würde es jeden Augenblick platzen wie ein Ballon.
Die Seitenstiche wurden stärker, quälender. Er bekam kaum noch Luft, ihm wurde schwindelig.
In seiner Verzweiflung taumelte er zur nächstbesten Tür, hämmerte dagegen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer in diesem Haus wohnte, es interessierte ihn auch nicht. Er wollte bloß Hilfe.
Doch niemand rührte sich.
Überhaupt brannte in dem ganzen verfluchten Dorf kein einziges Licht mehr. Hier wurden mit Sonnenuntergang nicht nur die Bürgersteige hochgeklappt, die Bewohner gingen auch früh ins Bett, um mit den Hühnern wieder aufzustehen. Oder so ähnlich.
Ein meckerndes Lachen am Eingang der Gasse ließ Trevor die Haare zu Berge stehen. Er warf sich herum, stolperte über den Trittstein, fing sich wieder und rannte weiter.
Eine Gestalt tauchte am anderen Ende der Gasse auf. Schwarz und drohend.
»Komm zu Mama!«, geiferte Gilda und breitete ihre Arme aus.
Schemenhaft malte sich ihr Gesicht in den Schatten ab. Halb Mensch, halb Totenschädel mit messerscharfen Zähnen.
Trevor warf sich nach rechts, wo ein schmaler, mit Gestrüpp überwucherter Pfad zwischen dem Haus, an dem er vergeblich um Hilfe ersucht hatte, und dem danebenstehenden Viehstall auf das dahinterliegende Grundstück führte.
Es war von hohen Scheunen umgeben, die sämtliches Licht schluckten, sodass es stockfinster war. Nur an einer Stelle schimmerte es heller; dort befand sich die Ausfahrt.
Trevor überlegte, ob er sich nicht besser hier irgendwo verstecken sollte, als er ein eigentümliches Klickern vernahm. Für eine Sekunde stutzte er.
Dann schoss der verfluchte Köter auch schon aus den Schatten und warf sich auf ihn.
Trevor schrie auf, fuhr zurück und fiel auf den Hintern. Schützend hob er den Arm vor Gesicht und Kehle, jeden Augenblick damit rechnend, dass sich das Mistvieh in seinem Unterarm verbiss.
Der Hund bellte und geiferte, doch er biss nicht zu.
Eine Kette klirrte.
Trevor ließ den Arm sinken und starrte voller Entsetzen auf den Hund, der schräg auf seinen Hinterläufen stand und sich immer wieder nach vorn warf, ohne sein Opfer zu erreichen.
Die Kette war zu kurz!
»Da bist du ja!«, drang Gildas fauchendes Organ aus den Schatten zwischen den Gebäuden. »Haben wir dich endlich, du freches Bürschchen.«
»Zeit fürs Bett«, knurrte Robert.
Trevor wälzte sich herum, sprang auf die Beine. Ohne lange nachzudenken, lief er auf das Tor der Ausfahrt zu, das ihm bis zur Brust reichte. Er packte den oberen Holm, stieß sich ab und schwang sich über das stählerne Gittertor hinweg.
Auf der anderen Seite prallte er auf den harten Asphalt, rollte sich herum und kam taumelnd wieder auf die Beine. Instinktiv wandte er sich nach rechts - und wäre fast stehen geblieben, so überrascht war er von dem Anblick des Lichts, das in der Finsternis schwebte.
Hoffnung durchströmte den Jugendlichen.
Hoffnung und Erleichterung.
Wie von selbst bewegten sich seine Beine auf das Licht zu. Als hätte sein Körper entschieden, dass er nicht länger davonlaufen konnte und die erstbeste Chance auf Rettung ergreifen sollte.
Hinter Trevor wurden die Schritte seiner Verfolger lauter.
Ohne sich umzusehen, sprintete der Jugendliche los. Wie eine in Panik geratene Katze hetzte er auf das Licht zu.
Ein Schluchzen entfuhr seiner Kehle, als er sah, woher das Licht stammte. Es drang aus den Fenstern einer Kirche.
Hätte man Trevor gefragt, ob er an Gott glaube, hätte er wahrscheinlich nur mit den Achseln gezuckt, doch in diesen Momenten verhieß der Anblick der Kirche Sicherheit!
Trevor holte noch einmal alles aus seinem geschwächten, schmerzenden Körper hervor.
Er stolperte über den Trittstein, prallte gegen das schwere Portal, hämmerte auf die Klinke und wollte die Tür aufziehen.
Es gelang ihm nicht. Die Kirche war verschlossen!
Die Enttäuschung loderte wie Feuer in ihm auf, in das jemand Benzin hineingeschüttet hatte.
Trevor wimmerte wie ein kleines Kind. Er verachtete sich selbst dafür. Jetzt wusste er, wie sich jene fühlten, die er so gerne drangsalierte und fertigmachte.
Heute Nacht war er dran!
War das die Strafe Gottes für seine Sünden?
Er drehte sich um.
Gilda und Robert White standen keine zehn Schritte entfernt auf der Straße und starrten ihn an. Ihre Augen funkelten in der Dunkelheit wie fahle, silbrig schimmernde Münzen, in denen sich das Licht des Mondes gefangen hatte.
Trevor wurden die Knie weich. Rücklings glitt er an dem hölzernen Portal entlang nach unten, während ihm die Tränen wie Bäche über die Wangen liefen. Seine Unterlippe zitterte.
Seine Pflegeeltern fauchten und spuckten, trafen jedoch keinerlei Anstalten, sich ihm zu nähern. So ... so als fürchteten sie die Nähe des Gotteshauses.
Erleichterung durchfuhr den Jugendlichen, als sich Gilda und Robert abwandten und mit den Schatten am Straßenrand verschmolzen.
Trevor atmete auf - und wurde von Entsetzen geschüttelt, als die Monster wie aus dem Nichts dicht vor der Kirche auftauchten.
Robert schleuderte den Arm nach vorn, etwas flog aus seiner Hand und krachte gegen das Portal, nur wenige Zentimeter von Trevors Kopf entfernt. Es war ein Stein, groß wie seine Faust. Der dumpfe Knall hallte durch das Kirchenschiff.
Sein Pflegevater zog sich zurück, während Gilda nach vorn trat. Ihr Gesicht glich einer dämonischen Furie, und ihr langes Haar schien ein gespenstisches Eigenleben zu führen.
In der Hand hielt sie einen Ziegelstein, den sie nach Trevor warf.
Der Junge warf sich zur Seite, zog die Knie an die Brust und barg den Kopf in den Armen.
Das schwere Wurfgeschoss knallte über ihm gegen das Holz der Kirchentür. Doch der nächste Stein würde ihn sicherlich treffen.
Doch bevor es dazu kam, öffnete sich vor Trevor ein heller Spalt in der Dunkelheit. Warme, nach Kerzenwachs und alten Möbeln riechende Luft schlug ihm entgegen.
Eine hochgewachsene Gestalt trat auf den Trittstein hinaus. In der Hand hielt sie ein...