Ich - Luzifers Henker
(Teil 2 von 3)
von Ian Rolf Hill
Der Tod ritt auf Chris Ainsworth zu!
Wie gebannt stand der Geologe auf der Straße des Dorfes Caversheen, inmitten einer anderen Dimension, umgeben von Hexen, die der Großen Mutter Lilith dienten.
Lilith, die sich offen gegen Luzifer gestellt hatte, dessen hochmütiges Engelsge?sicht hoch über ihnen am Himmel schwebte, während aus seinem Schlund die Heerscharen der Hölle strömten, um diese Welt und ihre Bewohner dem Erdboden gleichzumachen.
Angeführt wurden sie von einem der schrecklichen Horror-Reiter.
Ein lebendes Skelett in Ritterrüstung, das auf dem Rücken eines schwarzen, feuerspeienden Rappens saß. Auf dem Brustpanzer des Gerippes leuchtete ein großes A.
Genau so ein Reiter preschte auf Chris Ainsworth zu, um ihn mit einer Lanze aufzuspießen.
Ein Ausweichen war unmöglich. Der Geologe war vor Angst wie gelähmt.
Die Hufe schepperten über das Kopfsteinpflaster.
Wie hypnotisiert starrte Chris in die rot leuchtenden Augen des Gauls, aus dessen Nüstern Feuer loderte.
Noch fünf Yards.
Vier ... drei ... zwei ...
Ein heftiger Stoß schleuderte Chris zur Seite. Hart krachte er auf die linke Schulter. Der Schmerz war höllisch. Aber er lebte. Und das hatte er einer jungen Frau zu verdanken, die fast noch ein Mädchen war.
Lulu!
Im allerletzten Moment hatte sie ihn zur Seite gerissen, nachdem er keine Anstalten gemacht hatte, seinem Schicksal zu entgehen. Wozu auch? Gegen die erdrückende Übermacht hatten sie ohnehin keine Chance.
»Bist du wahnsinnig?«, brüllte sie ihn an.
Chris beachtete sie nicht. An ihrer Schulter vorbei beobachtete er den Horror-Reiter, der hinter Lulu über die Straße preschte, ohne innezuhalten und das Pferd herumzureißen.
Auf der anderen Straßenseite stand Giselle. Die unscheinbare Frau, die sich zusammen mit Lulu um ihn gekümmert hatte. Sie duckte sich im Schatten eines windschiefen, mittelalterlich erscheinenden Hauses. Und nicht nur sie, sämtliche Frauen und Hexen von Caversheen, einschließlich ihrer Anführerin Eleonore, hatten sich vor dem Horror-Reiter in Sicherheit gebracht oder waren ihm zumindest ausgewichen, der auf seinen Kameraden zu galoppierte.
Die beiden Dämonen glichen sich wie ein Ei dem anderen. Auf beiden Brustpanzern prangte ein großes A. Es stand für die Anfangsbuchstaben ihrer Herren, den Erzdämonen Astaroth und Amducias, ohne dass Chris hätte sagen können, wer zu wem gehörte. Er wusste nur, dass hier etwas ganz anders ablief als erwartet.
Anscheinend war der Horror-Reiter, der ihn fast über den Haufen geritten hätte, nicht erschienen, um die Bewohner des Hexendorfs an der Flucht zu hindern. Er war gekommen, um sie zu beschützen.
Fast hätte Chris gelacht.
Ein einziger Horror-Reiter gegen Luzifers Armee? Das war lächerlich.
Hinter dem zweiten Reiter jedoch strömten die Heerscharen der Hölle auf das Dorf zu. Sie quollen zwischen den Stämmen des Waldes hervor, der Caversheen wie ein Wall umgab.
Nie zuvor hatte Chris Ainsworth eine größere Ansammlung von Albtraumkreaturen gesehen. Mit Schleim überzogene Skelette, riesige muskelbepackte Kolosse mit überlangen Armen und krallenbewehrten Pranken von der Größe eines Gullydeckels.
Chimären, halb Mensch, halb Tier, krochen an den Stämmen entlang. Riesenspinnen mit Menschenköpfen, die sich statt auf borstigen dünnen Beinen auf acht menschlichen Armen bewegten, die aber mehr Gelenke hatten als die eines Menschen. Dazwischen schwangen sich kugelförmige Dämonen mit ihren Tentakeln von Ast zu Ast.
Sein Gehirn weigerte sich, die Gesamtheit dieses Sammelsuriums an Abscheulichkeiten zu erfassen. Auch weil seine Aufmerksamkeit von den Horror-Reitern in Anspruch genommen wurde, die innerhalb der nächsten Sekunden aufeinandertreffen würden.
Der Anführer des Höllenheers hatte ebenfalls seine Lanze gesenkt. Er hatte einen erheblichen Vorsprung vor seiner Armee, der er vermutlich den Weg ebnen sollte.
Mehrere Häuser waren während des Angriffs untoter Hexen in Brand gesteckt worden. Der Schein des Feuers tauchte die beinernen Schädel in rötlichgelbes Licht.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Feuer auf die anderen Häuser übergreifen würde. Aber das würde ohnehin niemand von ihnen erleben, dessen war sich Chris absolut sicher.
Noch drei Yards trennten die beiden Horror-Reiter voneinander, die zu unversöhnlichen Gegnern geworden waren.
Ein eindeutigeres Zeichen für die Spaltung der Hölle konnte es gar nicht geben.
Und dann geschah es!
Die Fassade eines brennenden Hauses zersplitterte, explodierte regelrecht.
Ein weiteres Höllenpferd brach daraus hervor. Auf der Brust leuchtete ein großes E.
E wie Eurynome.
Der Reiter der Erzdämonin war ebenfalls mit einer Lanze bewaffnet, deren Spitze er dem Anführer des Höllenheers gegen den Brustharnisch rammte.
Die Spitze glühte in einem düsteren Rot und drang wie eine heiße Stricknadel durch einen Block Butter durch die Rüstung, während der Rappen von Eurynomes Reiter den Gaul des aufgespießten Skeletts mit der Wucht eines heranrasenden Schnellzugs rammte.
Der Aufprall fegte das Dämonenpferd von den Beinen. Doch auch Eurynomes Reiter hob es aus dem Sattel. Die beiden Gerippe flogen über die Straße und krachten in ein Haus, dessen Fassade einstürzte.
Der Reiter mit dem A, der Chris beinahe zum Verhängnis geworden war, galoppierte weiter, an seinen Artgenossen vorbei und mitten hinein in die anrückenden Heerscharen.
Die Luft hinter dem Reiter begann zu flimmern. Wind kam auf, fachte die Flammen an und zerrte an der Kleidung und den Haaren der Einwohner von Caversheen, die das Geschehen mit offenen Mündern verfolgten.
Sie alle waren zu Statisten degradiert, die den Angriff des Horror-Reiters atemlos verfolgten.
Wie eine Rakete jagte er in die vorderste Reihe der Dämonenschar!
Im nächsten Moment rollte das Flimmern über den Reiter hinweg und raste wie eine Druckwelle in die Phalanx der Albtraumkreaturen, die zurückgeschleudert wurden.
Chris sah Skelette durch die Luft wirbeln und mit im wahrsten Sinne des Wortes knochenbrechender Wucht gegen Baumstämme krachen, die nur eine Sekunde später unter dem Druck der magischen Eruption abknickten wie Streichhölzer.
Vögel mit menschlichen Totenschädeln wurden ebenso hinweggefegt wie Kugeldämonen. Spinnenmenschen versuchten, sich an den Stämmen festzuklammern, und wurden unter ihnen begraben, und den Dämonentrollen erging es nicht viel besser.
Luzifer brüllte vor Wut.
Wie Nadelstiche fuhren seine Schreie in die Ohren der Menschen von Caversheen. Chris presste die Hände auf die Ohren und krümmte sich. Neben ihm zuckte Lulu, als würde sie einen epileptischen Anfall erleiden.
Chris zwang sich, die Augen offen zu halten.
Die Frauen, die noch auf der Straße gestanden hatten, brachen zusammen. Giselle sank auf die Knie und beugte den Oberkörper vor, bis ihre Stirn das Kopfsteinpflaster berührte. Selbst Eleonore ging spastisch zuckend zu Boden.
Der Angriff der Teufelsbrut aber war ins Stocken geraten. Doch wie lange würde es dauern, bis sich Luzifers Armee wieder neu formierte?
Aus dem Wald erhob sich eine mächtige, riesenhafte Gestalt. Ihr muskelbepackter nackter Leib glänzte feuerrot. Allein der Schädel war so groß wie eines der windschiefen Hexenhäuser. Dort, wo sich das Gesicht hätte befinden müssen, wucherte eine fleischige, blasenwerfende Masse, als wäre der Kreatur das Gesicht geschmolzen.
Chris konnte keine Sinnesorgane ausmachen, dafür sah er, wie die dicken, wulstigen Haarsträhnen zuckten, als wären sie lebende Dreadlocks.
Dreadlocks mit verdickten Enden, die aufklafften und sich zuckend emporreckten wie Schlangen.
Auch diese Gestalt war Chris nicht unbekannt. Er kannte sie aus den Beschreibungen von John Sinclair. Als Freund einer ehemaligen Hexe, die von der Hölle gejagt wurde, war er über die wichtigsten Dämonen informiert. Und diese Gestalt gehörte zu den mächtigsten unter ihnen.
Es war der Erzdämon Astaroth.
Harry Stahl traute seinen Augen nicht.
Vor ihm stand die Privatdetektivin und ehemalige Hexe Jane Collins. Hier im Harz, in einer Höhle am Brocken, wo laut seiner Information in einer der kommenden Nächte der Teufel Asmodis beschworen werden sollte, angeblich von Anhängerinnen der Urdämonin Lilith, damit der Geisterjäger John Sinclair ihn mit dem Engelstöter vernichtete. Dabei handelte es sich um jenes Schwert, mit dem der Erzengel Michael den abtrünnigen Luzifer in die Verdammnis gestoßen hatte.
Äonenlang hatten sie die Hölle gemeinsam regiert: Luzifer, das absolut Böse, der aus den drei Teufeln Asmodis, Baphomet und Beelzebub bestand, und seine Geliebte, die Große Mutter, die Hure Babylon.
Doch das war jetzt vorbei. Jetzt wollte Lilith die gesamte Macht an sich reißen.
Aber selbst sie wusste, dass Luzifer nicht so leicht zu besiegen war. Also hatte sie beschlossen, ihn zu schwächen, indem seine drei...