Die Hölle von Kasan
von Ian Rolf Hill
Der Mann saß mit auf dem Rücken gefesselten Händen hinter einem Tisch.
Kaltes Neonlicht erhellte den fensterlosen Raum, dessen stählerne Tür sich unvermittelt öffnete. Ein schmächtiges Männlein im maßgeschneiderten Anzug und mit randloser Brille trat ein, gefolgt von zwei grobschlächtigen Kerlen mit brutalen Gesichtern. Einer von ihnen trug einen Stuhl, der andere eine Kunststoffwanne, die er auf dem Tisch abstellte.
Letzterer verließ den Vernehmungsraum wieder. Sein Kamerad schloss die Tür und stellte sich mit dem Rücken davor, während das Männlein die Gegenstände aus der Wanne vor den Gefangenen auf den Tisch legte: einen Bumerang aus Metall, eine zusammengerollte dreischwänzige Peitsche, einen bleistiftdünnen Stab, ein Amulett mit einer Vampirfratze und eine Pistole.
Das Männlein übergab dem Grobschlächtigen die Kunststoffwanne, die dieser neben der Tür an die Wand lehnte, und nahm auf dem mitgebrachten Stuhl Platz.
»Was sind das für Gegenstände?«
Der Gefangene hob langsam den Kopf und erwiderte den Blick des Schmächtigen. Ohne die Gegenstände anzuschauen, sagte er: »Das ist eine halbautomatische Pistole der Marke Beretta.«
Der Bebrillte wandte den Kopf und nickte dem Grobschlächtigen zu.
Der ging um den Tisch herum und schlug ansatzlos zu. Der Hieb war brutal, der Kopf des Gefangenen wurde zur Seite gerissen.
»Es wäre wirklich besser, wenn Sie kooperieren, Inspektor Suko.«
Dem war die besondere Betonung seines Ranges keineswegs entgangen.
Sein Gegenüber, der sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, sich vorzustellen, glaubte ihm kein Wort. Er und seine ebenso namenlosen Hintermänner, von denen Suko noch keinen einzigen zu Gesicht bekommen hatte, hielten ihn für einen westlichen Spion. Was in Anbetracht seiner chinesischen Herkunft nicht einer gewissen Ironie entbehrte.
Natürlich gab es in jedem Geheimdienst Doppelagenten. Menschen, die ihre eigene Regierung verrieten, entweder für Geld oder Ideale.
Aber Suko war nun mal kein Spion, er war Polizist. Inspektor bei Scotland Yard und dort Mitglied einer Spezialabteilung, die übernatürliche Phänomene untersuchte, um die Menschheit vor schwarzmagischen Bedrohungen zu schützen. Seine Gegner waren Vampire, Werwölfe, Geister und Dämonen.
Und obwohl er für die Metropolitan Police - weltbekannt als Scotland Yard - arbeitete, führten ihn seine Aufträge bisweilen rund um den Erdball.
So wie in diesem Fall, bei dem ihn der russische Geheimdienst angefordert hatte, weil der Kontakt zu einer Satellitenstadt namens Innopolis abgebrochen war, kurz nachdem in der Nähe eine Rettungskapsel der Internationalen Weltraumstation ISS notgelandet war.
Die sieben Astronauten waren an Bord der Raumstation mit etwas konfrontiert worden, das sie verändert hatte. Suko hatte in den Videoaufzeichnungen selbst gesehen, wie sich die Menschen scheinbar in Luft aufgelöst hatten, als sie mit einer golden funkelnden Wolke in Berührung gekommen waren. Trotzdem waren die Raumfahrer wenige Stunden später wohlbehalten auf die Erde zurückgekehrt.
Das war so ziemlich das letzte Lebenszeichen aus Innopolis gewesen.
Die kleinste Stadt Russlands lag gut dreiundzwanzig Kilometer Luftlinie von Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, entfernt.
Gemeinsam mit seiner alten Freundin Karina Grischin, dem Geheimdienstler Gleb Djakow und einer russischen Spezialeinheit hatte sich Suko nach Innopolis begeben, um Licht ins Dunkel zu bringen, während sein Freund, der Geisterjäger John Sinclair, mit Myxin, dem Magier aus dem alten Atlantis, zu den flaming stones gereist war.
Die magischen Stelen, die von dem längst versunkenen Kontinent stammten, hatten Myxin nämlich vor einer ungeheuren Bedrohung gewarnt, die sich aus den Tiefen des Alls der Erde näherte.
Acron, der Sternenvampir.
Er war zurückgekehrt, um sich seinen Schatten zurückzuholen, den ihm der Spuk einst gestohlen hatte. Auf der Erde hatte sich der Spuk dann den Großen Alten angeschlossen.
Doch sein Schatten war nicht der alleinige Grund, warum Acron zur Erde gekommen war. Sein Hunger nach Leben war so groß, dass er sich die ganze Menschheit hatte Untertan machen wollen. Innerhalb weniger Tage hatten die infizierten Astronauten die Hälfte der Bewohner von Innopolis in Vampire verwandelt, während die andere Hälfte in einem Bürokomplex im Zentrum von Innopolis als lebender Vorrat festgehalten worden war.
Von diesem Gebäude aus, das in Form eines siebenstöckigen gläsernen Zylinders errichtet worden war, hatte Acron die Welt ins Chaos stürzen wollen, indem die von ihm kontrollierten Informatiker und Hacker Angriffe auf die Sicherheitssysteme mehrerer Staaten verübten.
Doch dann war etwas Unvorhergesehenes geschehen. Die Vampire waren plötzlich wahnsinnig geworden. Aus einem für Suko nicht nachvollziehbaren Grund hatten sie von einer Sekunde auf den anderen den Verstand verloren.
Mithilfe eines kleinen Jungen, dem Sohn der Astronautin Francesca Marchetti, war es ihm gelungen, Acron ei?nen Strich durch die Rechnung zu ma?chen und die Sternenvampire auszulöschen.
Allerdings waren sämtliche Mitglieder des russischen Einsatzkommandos ums Leben gekommen, einschließlich des Geheimdienstlers Gleb Djakow und Sukos Freundin Karina Grischin.
Das hatten die russischen Einsatzkräfte, die kurz darauf Innopolis gestürmt hatten, angenommen. Denn bis auf die geretteten Bewohner von Innopolis, die sich natürlich an nichts erinnern konnten, gab es nur zwei Überlebende: einen infolge des Schocks verstummten siebenjährigen Knaben und eben Suko.
»Sie haben mir eine Frage gestellt, und ich habe geantwortet«, entgegnete Suko nun gelassen.
Sein Tonfall stand im Widerspruch zu seinen Gefühlen. Selbst ein Mann von Sukos Mentalität war kein Roboter. Auch er verspürte Angst.
Angst zu sterben, ohne dass irgendjemand außerhalb dieser Zelle beziehungsweise des schmucklosen Betonbaus am Rande von Kasan Wind davon bekam.
Angst, seine Lebensgefährtin Shao nie wiederzusehen.
Sie musste umkommen vor Sorge.
Hinzu kam die Ungewissheit bezüglich des Schicksals seines Freundes John Sinclair. Und da war auch noch Karina Grischin.
Für Suko war eine Welt zusammengebrochen, als sie sich vor seinen Augen in eine Untote, eine Vampirin, verwandelt hatte.
Die Einzige, die nicht zu Staub zerfallen war, als das Sonnenlicht den gläsernen Bürokomplex geflutet hatte.
Vielleicht lag es an den geweihten Silberkugeln, mit denen er sie erschossen hatte.
Aber auch das war seltsam, denn Acrons Sternenvampire waren alle zu Staub zerfallen, egal, auf welche Weise sie erlöst worden oder wie lange sie schon untot gewesen waren.
Bevor Suko die Leiche mit der Dämonenpeitsche oder dem Vampir-Pendel, die neben dem Bumerang, Buddhas Stab und der Beretta auf dem Tisch lagen, hatte testen können, waren die Soldaten erschienen und hatten ihm Handschellen angelegt.
Er wusste nicht einmal, wohin man den Jungen gebracht hatte.
»Sie halten also weiterhin an Ihrer Geschichte fest?«, fragte der Schmalbrüstige geradezu lauernd. »Ein Mann namens Gleb Djakow hat sie angefordert, damit Sie gemeinsam mit Karina Grischin und neun Speznas-Soldaten nachsehen, was in Innopolis los ist. Dabei haben Sie herausgefunden, dass sich die Bewohner in ... äh, Vampire verwandelt haben?«
Suko nickte.
Der Schmalbrüstige lachte, und sein grobschlächtiger Handlanger grinste dämlich.
»Entschuldigen Sie, wenn ich lache, Inspektor Suko. Aber das ist wirklich der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe.«
»Mag sein, aber es bleibt dennoch die Wahrheit, ob Sie es nun hören wollen oder nicht. Warum sollte ich mir so etwas ausdenken, wenn ich mir genauso gut eine plausiblere Erklärung einfallen lassen könnte?«
»Da fallen mir gleich mehrere Gründe ein. Einen haben Sie eben schon selbst erwähnt. Eine Geschichte, so abstrus, dass sie unmöglich wahr sein kann, mit der Begründung, dass sie sich so etwas niemals aus den Fingern saugen würden, weil man Ihnen sowieso nicht glauben würde. Zumal wir Ihre Angaben nicht mal überprüfen können.«
»Was ist mit der Asche?«
»Sie meinen den Staub, zu dem die Vampire angeblich zerfallen sind?« Der Schmalbrüstige zuckte mit den Schultern. »Vom Winde verweht.«
»Das können Sie mir nicht weismachen!«
»Einhundertdreiundsiebzig Menschen, und keiner kann sich an einen Vampir erinnern.«
»Weil ihr Gedächtnis gelöscht wurde. Lassen Sie mich mit den Leuten sprechen.«
»Ich wüsste nicht, was das bringen sollte.«
»Und wie soll es mir gelungen sein, dreihundertfünfzig Menschen zu überwältigen und die Hälfte davon verschwinden zu lassen?«
»Eben das versuchen wir ja gerade herauszufinden. Und ich werde es herausfinden, verlassen Sie sich darauf. Egal, wie viele Märchen Sie sich ausdenken. Vielleicht hoffen Sie ja auch, dass wir Sie exekutieren, wenn Sie...