Schon einmal hatte Asmodis versucht, mich zu beeinflussen. Vor wenigen Tagen in Patros' Dorf, am Fuße der Berge. Vater und Haro hatten das verhindern können. Deshalb griff er jetzt offenbar zu einer weiteren List.
Doch Myxin hatte mich gewarnt, und ich hatte das Goldene Schwert bei mir!
Es würde dem Dämon die Maske vom Gesicht reißen!
All dies schoss mir innerhalb eines Herzschlags durch den Kopf, während ich auf die Erinye eindrang und noch im Laufen mit dem Schwert zuschlug.
Der Hieb ging ins Leere, denn die Dämonin wich gedankenschnell zurück.
Dann wollte die feige Bestie die Flucht ergreifen, übersah aber eine aus dem Boden ragende Wurzel, stolperte und fiel.
Wehrlos lag sie vor mir und riss den Arm vors Gesicht. Ich holte erneut mit dem Schwert aus.
»Stirb!«, schrie ich und ließ die goldene Klinge auf die Erinye herabsausen.
Das war zumindest meine Absicht, doch dazu sollte es nicht kommen.
Innerhalb eines Wimpernschlags schien das Schwert ein Vielfaches seines ursprünglichen Gewichts zu wiegen.
Ich konnte die Klinge nicht mehr anheben und wankte zurück. Das Goldene Schwert, schwer wie ein Felsblock, glitt mir aus den Händen und bohrte sich mit der Spitze in den Boden.
Fassungslos starrte ich es an. Dann huschte mein Blick zwischen ihm und der Erinye hin und her.
Die Dämonin hatte sich aufgesetzt und sah mich verwirrt an. Verwirrt und ängstlich, aber nicht im Geringsten feindselig.
Nur eine Täuschung? Eine List, um mich in Sicherheit zu wiegen?
Doch das Schwert mit der goldenen Klinge ließ sich nicht täuschen. Es hätte die Erinye vernichten müssen, stattdessen hatte es mir den Dienst verweigert, und das konnte nur eines bedeuten: Die Frau vor mir war keine Dämonin, sondern ein Mensch!
Handelte es sich wirklich um meine Mutter?
Nur wer rein im Herzen und gerecht im Handeln ist, darf das Schwert mit der goldenen Klinge führen. So hatte Vater es mir erklärt. Dämonen und Götzendiener waren dazu nicht imstande. Selbst Menschen mit finsteren Absichten nicht.
Patros, der Vorsteher des Bergdorfes, war sogar von der Klinge verbrannt worden, als er versucht hatte, meinen Vater mit dem Schwert zu enthaupten.
Doch das war offenbar nicht alles. Die Klinge widersetzte sich nicht nur Dämonen und bösen Menschen, das Schwert weigerte sich auch, Unschuldige zu verletzen, denn in Patros' Dorf und später auch auf der Insel der Weisen im See der Sirenen hatte ich es problemlos benutzen können.
Es konnte also wohl kaum daran liegen, dass ich nicht würdig war, das Schwert zu führen.
Ich war völlig durcheinander. Und noch während ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, erhob sich die Frau, die sich in meinem Traum als meine Mutter ausgegeben hatte.
Keinen Moment lang ließ sie mich aus den Augen, und als ich nach dem Schwert mit der goldenen Klinge griff, hörte ich plötzlich, wie jemand meinen Namen nannte.
»Kara .«
Es war kein Rufen, es war mehr ein Hauchen.
Ich erkannte die junge Frau, die hinter meiner Mutter aus dem Dickicht trat, auch wenn sich ihr Äußeres drastisch verändert hatte. Das einst so rosige Gesicht war eingefallen und verhärmt, Schweiß glänzte auf der blassen Haut, unter den Augen lagen dunkle Ringe, die Adern an den Schläfen und am Hals traten schwarz hervor.
»Imelda!«, ächzte ich.
Meine beste Freundin war ebenfalls von der dämonischen Seuche befallen, die nach dem Schwarzen Tod benannt worden war! Denn er hatte sie nach Atlantis gebracht und auch in die Hauptstadt des Reichs!
Die Frau - meine angebliche Mutter - nutzte den Moment der Ablenkung, um auf mich zuzugehen. Aber nicht ich war ihr Ziel, sondern das Goldene Schwert, dessen Klinge sie ohne Mühe aus der Erde zog.
Ich traute meinen Augen kaum, als ich dies sah.
»Bei allen Göttern .!«, entfuhr es mir.
Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass es sich bei der Frau vor mir um keine Erinye handelte, dann hatte ich ihn soeben erhalten.
Meine Augen brannten, in meiner Kehle saß plötzlich ein dicker Kloß.
Die Frau - meine Mutter! - wich mit dem Schwert in der Hand zurück.
Imelda wollte an ihr vorbei auf mich zulaufen, prallte jedoch gegen den ausgestreckten Arm meiner Mutter.
»Nicht!«, zischte diese. »Wir wissen nicht, wer oder was sie wirklich ist. Das Schwert hat sich gegen sie gewandt. Vielleicht ist sie bereits eine von ihnen.«
Imelda schaute abwechselnd von meiner Mutter zu mir. »Kara ist keine Untote. Und sie ist auch nicht krank.«
»Kara .« Auch die Frau flüsterte meinen Namen nur, dann aber festigte sich ihre Stimme. »Möglicherweise ist das gar nicht Kara, sondern eine Erinye aus der Wüste der Gesichtslosen!«
Da konnte ich gar nicht anders, als zu lachen. Es war mehr ein Glucksen und Husten.
»Was gibt es da zu lachen, Erinye?«, fragte meine Mutter streng und richtete die Spitze des Goldenen Schwertes auf mich.
»Ich . ich bin keine Erinye«, stammelte ich.
Dann streckte ich den Arm aus und umfasste die Klinge. Zog meine Mutter sie jetzt zurück, würde sie mir die Hand aufschlitzen.
Doch das tat sie nicht. Im Gegenteil, sie ließ das Schwert sogar sinken, nachdem ich die Schneide losgelassen hatte.
Auch in ihren Augen schimmerten mit einem Mal Tränen. »Kara? Bist du es wirklich?«
Ich schluckte und nickte, zu mehr war ich nicht fähig.
Meine Mutter aber ließ das Schwert fallen, trat vor und nahm mich in die Arme. »Meine Tochter!«
»Mama«, schluchzte ich, und ließ den Tränen endlich freien Lauf.
Das Gesicht von Myxin dem Magier verzog sich vor Abscheu, als er beobachtete, wie Kara und Jola sich umarmten.
Sein Plan war nicht aufgegangen.
Sechzehn Jahre lang hatte er das Weib des Propheten Delios in seiner Gewalt gehabt, und ihm war klar, weshalb Asmodis, der alte Ränkeschmied, sie befreit und zurück zu Delios und seiner Tochter gebracht hatte. Sobald die erfuhren, wer Jola all die Zeit lang gefangen gehalten hatte, würden sie sich niemals mit ihm gegen den Schwarzen Tod verbünden.
Weshalb Asmodis das Geschöpf der Großen Alten, die auch zu seinen Todfeinden zählten, unterstützte, war zweitrangig. Wichtig war nur, dass er es tat.
Auf der Suche nach der entflohenen Jola war Myxin auf ihre Tochter Kara gestoßen, unweit des Höllensumpfes, der dort entstanden war, wo der Schwarze Tod mit einem Bruchstück vom Planeten der Magier auf die Erde nach Atlantis gekommen war. Er hatte sie vor seinen Dienern, den Schwarzen Vampiren, gerettet und sie in einen magischen Schlaf versetzt, um ihr vorzugaukeln, ihre Mutter sei eine Erinye aus der Wüste der Gesichtslosen.
Dabei ging es Myxin um das Goldene Schwert. Er selbst konnte es nicht führen, denn rein im Herzen und gerecht im Handeln war er als dämonisches Wesen absolut nicht. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als jene zu manipulieren, die dazu imstande waren.
Doch Delios war viel zu mächtig und weise. Kara hingegen war jung, fast noch ein Kind, und wie alle jungen Menschen leicht zu beeinflussen.
Sobald sie Jola zu Gesicht bekam, sollte ihre Furcht, die er während ihres magischen Schlafes in ihrem Geist verankert hatte, hervorbrechen. Dass sie auch noch Zeugin geworden war, wie sich Asmodis von Jola verabschiedet hatte, war ein glücklicher Zufall gewesen.
Allerdings hatte Myxin nicht damit gerechnet, dass das Goldene Schwert Kara den Dienst verweigern würde. Anscheinend kam es nicht nur darauf an, wer die Klinge führte, sondern auch, gegen wen sie eingesetzt wurde.
Sehr interessant, fand Myxin, aber auch ärgerlich. Schließlich geriet dadurch sein Bündnis mit Delios in Gefahr.
Kurz spielte der Magier mit dem Gedanken Jola, eigenhändig beziehungsweise Kraft seiner Magie zu töten, doch das konnte er unmöglich vor den Augen ihrer Tochter Kara tun. Er hätte sie dann erneut in einen magischen Schlaf versetzen und ihr die Erinnerung an den Mord rauben müssen, doch solange das Schwert in ihrer Nähe war, würde das nicht so einfach sein.
Am besten zog er sich zurück.
Ein Gedankensprung würde ihn vor die Tore der Stadt bringen, wo Beela, die Anführerin der Schwarzen Vampire, mit ihrer Brut auf ihn wartete.
Aber dann zögerte er.
Er erinnerte sich an das, was er vom Dach des Nachbaranwesens aus beobachtet hatte.
In den Straßen wimmelte es vor Wiedergängern.
Untote, die der dämonischen Seuche des Schwarzen Tods zum Opfer gefallen waren. Zu Dutzenden drängten sie sich vor dem Tor von Imeldas Anwesen, in dem Jola Zuflucht gesucht hatte.
Ein grimmiges Lächeln huschte über die schmalen Lippen des Magierdämons.
Die lebenden Leichen waren unruhig. Sie witterten die Menschen hinter den Mauern.
Myxin überlegte nicht lange. Vielleicht ließe sich das Problem Jola ja doch noch beseitigen, ohne dass er persönlich und unmittelbar eingreifen musste.
Ein kurzer Gedanke genügte, um den Riegel vor dem Tor zu sprengen.
Wie eine...