Der mit Schleim überzogene Riesenleib bäumte sich auf. Izzi wollte an der Felsnadel emporkriechen. Und aus dem Loch, wo er aus der Erde gekrochen war, strömten schwarz glänzende, gesichtslose Kreaturen, deren menschenähnliche Körper aus Erde und Schlamm geformt waren.
Die Erdgeister!
Diener der Großen Alten!
Der Eiserne Engel hatte sie mit dem magischen Pendel, das er angeblich von der Insel der Sirenen mitgebracht hatte, gerufen.
Er musste wahnsinnig geworden sein!
Der Zwilling starrte seinem Bruder in das hassverzerrte Gesicht. Langsam richtete sich der Eiserne Engel, Sohn der Stummen Götter, auf. Obwohl sie sich bis aufs Haar glichen, war er immer der Liebling ihrer Schöpfer gewesen, doch der Zwilling hatte sich damit abgefunden.
Und ebenso damit, dass Sedonia nicht ihn liebte.
»Das hast du nicht umsonst getan, Bruder!«
Allein, wie der Eiserne das letzte Wort aussprach, ließ den Zwilling erschauern. Nein, der Eiserne Engel war nicht wahnsinnig geworden. Viel schlimmer.
Er war vom Bösen infiziert!
Zu viert standen sie vor dem Tor der Hauptstadt Atlantis und blickten Kara hinterher, die auf ihrer Stute Nila in die Nacht hinausritt. Zurück zum See der Sirenen, um den dringend benötigten Lebensatem zu holen, das einzige Mittel gegen die todbringende Seuche, die in der Stadt grassierte.
Sie, das waren Karas Vater Delios, der Prophet, Haro, jüngster Soldat der Stadtwache und Karas Freund, Yanara, die letzte Überlebende ihres vernichteten Dorfes, und - Myxin, der Magierdämon, der mit seiner Vampirbrut in einem erloschenen Vulkan hauste.
Dorthin hatten ihn Delios und die Soldaten vor über sechzehn Umläufen vertrieben, kurz nach dem großen Krieg.
Jetzt war er zurückgekehrt, um Delios und den Weisen von Atlantis ein Angebot zu unterbreiten. Er wollte mit ihnen einen Pakt schließen.
Einen Pakt gegen den Schwarzen Tod, einen grausamen Dämon, der mit der Träne des Feuers auf das Land herabgefahren war, um Tod und Zerstörung über Atlantis zu bringen.
Und er hatte bereits erste Erfolge errungen.
Das Dorf, in dem Yanara gelebt hatte, war zerstört, Ernten waren verdorrt, und eine grässliche Seuche breitete sich über das gesamte Land aus. Eine Seuche, die längst die Hauptstadt erreicht hatte.
Niemand durfte sie mehr betreten, weshalb die Flüchtlinge aus den umliegenden Dörfern vor den Mauern der Stadt kampierten, wo sie dem unheilvollen Licht des Dämonenauges, der grünlich leuchtenden Himmelsscheibe, schutzlos ausgeliefert waren.
Einige Flüchtlinge hatten Delios, Haro, Yanara und Kara angegriffen und waren von Myxin in die Flucht geschlagen worden.
Das Tor zur Stadt war weiterhin verschlossen. Ein Totenschädel war mit einer schwarzen Paste darauf geschmiert worden. Als Symbol dafür, wer jetzt in Atlantis herrschte: der Schwarze Tod!
Delios wagte sich gar nicht auszumalen, was geschehen würde, wenn seine Tochter keinen Erfolg hatte. Yanara, die Tochter des Ortsvorstehers Patros, nach dem auch das Dorf benannt gewesen war, aus dem sie stammte, war selbst infiziert gewesen und hatte nur deshalb überlebt, weil Delios ihre Geschwüre mit dem Goldenen Schwert geöffnet hatte. Eine langwierige und schmerzvolle Prozedur. Ausgeschlossen, sie an allen Infizierten vorzunehmen.
Daher wollte Kara nun zurück zum See der Sirenen reiten. Auf einer Insel in diesem See standen nicht nur die Flammenden Steine, magische Säulen, in der sich die Kraft der Stummen Götter manifestierte, dort befanden sich auch andere Artefakte von außergewöhnlicher Kraft, darunter der Lebensatem der Sirenen. Mit seiner Hilfe hatte Kara bereits mehreren Menschen das Leben gerettet, bevor er ihr wieder entrissen worden war.
Wenn etwas die Seuche aufhalten konnte, dann er.
»Sei vorsichtig, Kara«, murmelte Delios. »Und komm gesund wieder.«
Eine Hand legte sich auf die Schulter des Propheten. »Sie wird es schaffen«, sagte Haro. »Da bin ich ganz sicher.«
Delios wandte den Kopf, um den Krieger anzuschauen. Haro schien gerade erst dem Knabenalter entwachsen zu sein, dennoch lag in seinen Augen eine Gewissheit, um die Delios den jungen Mann beneidete. Haro war praktisch über Nacht zum Mann gereift.
»Ich danke dir für dein Vertrauen, Haro.« Delios legte seine Hand auf die des Soldaten.
Die Männer schwiegen für einen Moment, stumm vereint in ihrer Liebe zu Kara, die bereit war, ihr Leben zu riskieren, um das Volk von Atlantis zu retten.
»Wie rührend«, kommentierte Myxin. »Da kommen einem fast die Tränen!«
Die Worte des Magierdämons fachten das Feuer des Zorns in Delios an. Hätte der Prophet noch das Schwert mit der goldenen Klinge besessen, er hätte es gezückt, um dem kleinwüchsigen Mann mit der grünlich schillernden Haut Manieren beizubringen.
»He, Leute!«, meldete sich Yanara zu Wort. »Ich glaube, hinter dem Tor rührt sich etwas!«
Die junge Frau war ungefähr in Haros Alter und damit gerade einmal zwei Umläufe älter als Kara. Sie stand vor dem Stadttor und hatte das Ohr an das Holz gelegt, wobei sie darauf achtete, nicht den fettig glänzenden Totenschädel zu berühren.
»Es . es hört sich an wie das Stampfen von Hufen«, murmelte sie. »Aber viel lauter und . und . Spürt ihr nicht, wie die Erde zittert?«
Delios sträubten sich die Nackenhaare. Yanara hatte recht. Die Erde unter seinen Füßen erbebte, und auch Haro spürte es.
Dann vernahmen auch sie das gedämpfte Klappern der Hufe auf den gepflasterten Straßen der Stadt. Wer auch immer sich dem Tor näherte, er ritt in vollem Galopp und traf keine Anstalten, langsamer zu werden.
Yanara richtete sich auf und wich langsam von dem Tor zurück.
Zu langsam.
Das Donnern und Stampfen der Hufe ging im Krachen und Bersten von Holz unter, und das aufspringende Tor hätte Yanara mit Sicherheit getroffen, hätte sie nicht eine unsichtbare Macht rechtzeitig nach hinten gezerrt.
Myxin!
Der Magier hatte den rechten Arm ausgestreckt, in die Luft gegriffen und die Hand im nächsten Augenblick zurückgerissen, während er die linke Hand nach vorn stieß. Die geöffnete Handfläche wies dabei auf Delios und Haro, die den Boden unter den Füßen verloren und nach hinten geschleudert wurden.
Der Aufprall war so hart, dass Delios die Luft wegblieb.
Trotzdem konnte er froh sein, denn so entging er, wenn auch nur um Haaresbreite, den spitzen Hufen der feuerspeienden Rappen, die nacheinander aus dem offenen Tor preschten.
Es waren riesige schwarze Pferde, deren Augen in einem düsteren Rot glühten, als würde ein dämonisches Feuer in ihnen lodern. Auf ihnen saßen vier Gestalten in ledernen Rüstungen mit schwarzen Umhängen. Auf ihren Brustpanzern leuchteten flammende Symbole, die Delios nicht zu deuten vermochte.
A - E - B - A!
Schnell wie der Wind preschten sie an den fassungslosen Menschen vorbei. Für einen kurzen Moment erhaschte Delios einen Blick in das Gesicht des letzten Reiters, und dem Propheten gefror das Blut in den Adern.
Was er im Licht des Dämonenauges erblickte, war kein menschliches Antlitz, sondern die grünlichschwarz schimmernde Fratze eines Totenschädels.
Mit angewinkelten Knien, die Schenkel fest gegen Nilas Flanken gepresst, kauerte ich auf dem Rücken meiner geliebten Stute, die wie von Erinyen gehetzt durch die Nacht flog.
Ja, flog, denn die Hufe schienen kaum den Boden zu berühren.
Nie zuvor war ich so schnell geritten, und das Herz trommelte mir dabei in der Brust. Verbissen klammerte ich mich am Sattelhorn fest, denn mit Sicherheit würde ich mir den Hals brechen, wenn ich bei dieser Geschwindigkeit vom Pferd fiel.
Jedes Mal, wenn die Hufe auf den festgestampften Waldboden hämmerten, pflanzten sich die Stöße bis in meinen Körper fort. Meine Zähne schlugen aufeinander, mein Haar flatterte wie eine Fahne im Wind. Ich wünschte, ich hätte es zusammengebunden, bevor ich losgeritten war.
Es glich einem Wunder, dass Nila nicht längst gestürzt war. Meine treue Stute schien genau zu wissen, worauf es ankam und wohin sie zu reiten hatte. Als würde sie von unsichtbarer Hand gelenkt, denn ich war es gewiss nicht, die ihr die Richtung wies, während Nila den Pfad, der am Ufer des Flusses Okeanos vorbeiführte, entlangpreschte.
Das Licht des Dämonenauges glitzerte auf den Fluten des Stroms, der sich träge durch das Bett in Richtung Stadt wälzte.
Über uns hingen die größtenteils kahlen Äste der Bäume, die unseren Weg säumten. Wie die Gerippe von Dämonen, die ihre verwachsenen Klauen nach uns ausstreckten. Manchmal wurde der Pfad so schmal, dass Zweige unsere Körper peitschten.
Ich ignorierte jedes Mal den Schmerz, voll und ganz auf die vor mir liegende Aufgabe konzentriert. Der Lebensatem der Sirenen. Um ihn allein ging es. Er war unsere letzte Hoffnung.
Auf dem Rücken spürte ich das Gewicht des Goldenen Schwerts. Es verlieh mir Zuversicht und Hoffnung. Angeblich hatte ich es sogar schon geführt, als ich Haro und Yanara vor den Schwarzen Vampire beschützt hatte. Dummerweise wusste ich nichts mehr davon. Aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund...