Sonnenlicht weckte mich aus tiefstem Schlummer.
Es floss durchs Fenster hinter dem Vorhang hervor und schuf auf dem Fußboden einen hellen Streifen, der sich wellenförmig bewegte, weil der Wind den Vorhang bauschte. Hin und wieder traf das grelle Licht auch mein Gesicht. Geblendet schloss ich die Augen, rollte mich herum und zog die Beine an.
Ich war noch viel zu müde zum Aufstehen, auch wenn es vermutlich schon längst über der Zeit war und Vater schon mit dem Frühstück auf mich wartete.
Wahrscheinlich würde Ada gleich ins Zimmer stürmen und mich aus dem Bett maulen, damit ich meinen Pflichten als Tochter des hohen Hauses Delios nachkam. Auch wenn ich gerade überhaupt nicht wusste, welche Pflichten das überhaupt sein sollten.
Im nächsten Moment geschah genau das, was ich befürchtet hatte. Die Tür flog auf und beförderte den Schemel, den ich in der Nacht vor die Tür gestellt hatte, damit niemand unbemerkt mein Schlafgemach betreten konnte, mit lautem Poltern durch das Zimmer.
»Aufstehen, junge Herrin!«, rief Ada mit schriller Stimme, um die sie jede Sirene beneidet hätte. »Der Herr Delios wartet bereits auf euch!«
Ich murmelte etwas in mein Leinenkissen, das Ada bestimmt nicht verstehen konnte, doch sie entgegnete streng und laut: »Keine Widerrede! Ihr habt lange genug geschlafen!«
Ach ja? Woher wollte die alte Furie das wissen?
Ich zog die Decke über den Kopf und hoffte, dass Ada die Botschaft begriff und unverrichteter Dinge wieder abzog.
Das geschah allerdings nicht. Im Gegenteil: Ada reagierte drastischer denn je zuvor.
Sie riss mir nicht nur die Decke weg, sondern zog auch noch das Kissen unter meinem Kopf hervor. Dann riss sie auch den Vorhang vor dem Fenster beiseite.
Ich wälzte mich herum, fuhr halb in die Höhe und wollte die Furie zurechtweisen. Immerhin war ich die Tochter des Propheten Delios, und sie gehörte nur zum Dienstpersonal seines Hauses.
Mein Vorhaben scheiterte an zweierlei. Das waren zum einen die Schmerzen, die mir bei meiner ruckartigen Bewegung durch den Körper fuhren. Es fühlte sich an, als würde ihn jemand in Stücke reißen. Der zweite Grund war Ada selbst, deren Kopf ein grauer Verband zierte. Das Gesicht darunter war bleich wie Kreide.
Der Anblick lähmte mich.
Erinnerungen prasselten auf mich ein. Erinnerungen, die ich bis eben noch für einen bösen Traum gehalten hatte.
Das Auge der Dämonen, jener bösartige Himmelskörper, der uns in der Nacht die schrecklichen Bilder schickte, hatte das Auge der Stummen Götter verdeckt und eine Träne aus Feuer geweint, die auf die Erde gefallen war und die Saat des Bösen gelegt hatte. Daraufhin war mein Vater Delios mit einem Trupp Soldaten ausgezogen, um sich die Aufschlagstelle anzusehen. Ich war ihnen gefolgt, ohne sie jedoch eingeholt zu haben. Stattdessen wäre ich fast ertrunken, als ich im Fluss Okeanos gebadet und von einem unbekannten Wesen in die Tiefe gezogen worden war.
Als ich erwachte, hatte ich mich auf einer üppig bewachsenen Insel wiedergefunden. Einer Insel im See der Sirenen, auf der die vier Flammenden Steine standen. Jene mächtigen Artefakte, die uns die Stummen Götter hinterlassen hatten, um uns vor den Großen Alten zu beschützen.
Doch ihre Magie konnte nur von den vier Weisen beschworen werden. Auf die war ich auf der Insel gestoßen, und sie hatten in mir eine Abgesandte der Götter gesehen, denn Normalsterblichen war es nicht möglich, auf die Insel zu gelangen.
Sarana, Korfu, Arsuf und Ilios hatten eine Beschwörung vorgenommen, und kurz darauf hatte ich mich in einem finsteren Stall wiedergefunden, in den Händen eine weißgrau schimmernde Kugel, den Lebensatem der Sirenen. Mit dessen Hilfe hatte ich eine Bauernfamilie gerettet, die unweit der Stelle, an der die Feuerträne auf die Erde gefallen war, in der Nähe eines kleinen Dorfes lebte. Nur dem Großvater Logar hatte ich nicht mehr helfen können. Er war zu einem Untoten geworden, dem das Fleisch von den Knochen gefallen war.
Danach verschwamm meine Erinnerung.
Was für ein merkwürdiger, absurder Traum .
Aber war es wirklich ein Traum gewesen?
Es hieß, dass die Götter durch die Träume zu uns sprachen. Während uns die Stummen Götter schöne Bilder schickten, trachteten die Großen Alten danach, unsere Seelen durch finstere, schreckliche Träume zu vergiften.
Natürlich waren böse Menschen sehr viel empfänglicher dafür.
Bedeutete das etwa, dass ich ebenfalls ein böser Mensch war?
Bei dem Gedanken bekam ich ein ganz schlechtes Gewissen.
»Ada, was . was ist mit dir passiert?«
»Könnt Ihr Euch nicht erinnern? Die Träne aus Feuer brachte die Erde zum Zittern.«
Ich nickte langsam. Obwohl ich noch immer im Bett lag, drehte sich alles um mich herum.
Ja, ich entsann mich. Das Beben hatte große Schäden in der Stadt angerichtet. Keines der Standbilder unserer Götter war heile geblieben, und viele Menschen waren seitdem ohne Obdach.
Unser Haus hatte nur leichte Schäden davongetragen, trotzdem war Ada verletzt worden.
So behutsam wie möglich setzte ich mich auf und warf einen Blick über die Schulter zum Fenster. Ich fröstelte, was nur bedingt an dem kühlen Wind lag, der von draußen hereinwehte.
Ein Baum war durchs Fenster in mein Gemach geschlagen, und die Spuren am Fensterrahmen waren noch immer deutlich zu sehen. Hätte ich zu dieser Zeit hier im Bett gelegen, wäre ich schwer verletzt, wahrscheinlich sogar getötet worden. Stattdessen aber war ich in dieser Nacht zusammen mit Haro am Berg Uranos gewesen, um die Sterndeuter vor drohender Gefahr zu warnen.
Haro .
Der Gedanke an den jungen Soldaten der Stadtwache ließ mein Herz schneller schlagen.
Gleichzeitig verspürte ich aber auch ein dumpfes Gefühl von Furcht, denn wenn ich mit Haro in jener Nacht wirklich am Berg Uranos gewesen war, dann hatte sich auch der Angriff des schaurigen Dämons dort wirklich ereignet. Haros Pferd war allein durch die Berührung seiner Hände zu Staub zerfallen.
»Bei allen Göttern«, hauchte ich. »Dann . dann ist es also wahr!«
Ada sank neben mir auf die Bettkante. In ihren sonst so streng blickenden Augen las ich Sorge um mein Wohlergehen. »Ihr habt Glück, dass Ihr noch am Leben seid!«
Sie sprach die Worte in einem leicht vorwurfsvollen Ton, der mich erröten ließ. Ich schämte mich, denn ich war losgeritten, ohne Ada oder irgendeinem anderen der Bediensteten Bescheid zu geben. Was hatten sie meinetwegen nur durchmachen müssen?
»Es . es tut mir leid«, schluchzte ich.
Trotz der Schmerzen warf ich mich nach vorn und nahm Ada in den Arm, die mir beruhigend über den Rücken strich.
»Ist schon gut.« Ihre Stimme war weich und sanft. »Es ist in Ordnung. Wir . Ich bin nur froh, dass Ihr heil und gesund zu uns zurückgekehrt seid.«
Ihre Worte endeten in einem erstickten Schluchzer. Das erschütterte mich noch weit mehr als alles andere, denn ich hatte noch nie erlebt, dass Ada weinte.
Hastig wandte sie sich ab und wischte sich über die Augen. »Jetzt ist aber Schluss! Steht auf und kommt in die Küche. Ihr müsst etwas essen.«
Sie erhob sich und trat zurück.
Ich schwang die Beine aus dem Bett und erschrak beim Anblick der Kratzer und blauen Flecken auf meiner Haut. »Wie . wie bin ich überhaupt hierhergekommen?«
»Das kann Euch Euer Vater sicher besser erklären. Er war es schließlich, der Euch gefunden hat.«
»Der mich .«
Ich stockte, denn mir war etwas eingefallen. Ruckartig hob ich den Kopf. »Was ist mit Nila?«
Ein Lächeln huschte über Adas Gesicht. »Macht Euch keine Sorgen. Eurem Pferd geht es gut. Schon am nächsten Tag, nachdem Ihr verschwunden wart, stand es vor den Toren der Stadt.« In den Augen der alten Dienerin glitzerte es verräterisch. »Ihr könnt Euch denken, dass wir kaum noch Hoffnung hatten, Euch lebend wiederzusehen, nachdem Nila ohne Euch zurückgekehrt war.«
Erneut senkte ich beschämt das Haupt. »Wie kann ich das bloß wiedergutmachen?«
»Ein kräftiges Frühstück wäre schon mal ein Anfang«, sagte Ada und verließ das Zimmer.
Bevor ich der Aufforderung Folge leistete, ging ich zunächst in den Stall, um nach meinem geliebten Pferd zu sehen.
Es ging ihm tatsächlich prächtig, genau so wie Ada behauptet hatte. Freudig warf die grau gescheckte Stute den Kopf zurück, als sie mich sah.
Selbst Callos, unser alter Stallmeister, verdrückte bei meinem Anblick ein Tränchen.
»Ich war mir sicher, dass Nila sterben würde«, sagte er frei heraus. »Sie wollte einfach nichts fressen. Erst als Euer Vater mit Euch eintraf, kehrte das Leben in das alte Mädchen zurück.«
Tränen der Freude, aber auch des Kummers und der Scham rannen mir über die Wangen. Ich schlang meine Arme um Nilas Kopf, presste meine Stirn gegen ihre Blesse und dankte den Göttern für unsere Rettung.
Mit dem Versprechen, so schnell wie möglich zu ihr zurückzukehren, verabschiedete ich mich von Nila. Nicht ohne ihr zuvor noch einen Apfel zum Fressen zu geben, den mir Callos reichte. Auch bei ihm entschuldigte ich mich für mein...