Ein Schrei, grässlich, laut und voller Qual, weckte mich aus tiefem Schlaf.
Zunächst dachte ich, er wäre Teil eines Traums, bis sich der Schrei wiederholte. Erst da erkannte ich die Stimme. Es war die meines Vaters!
Die Furcht schloss ihre kalten Finger um meine Kehle. Mein Herz hämmerte so stark, als wollte es mir aus der Brust springen. In meinen Ohren rauschte es wie die Brandung an den felsigen Gestaden von Atlantis.
Die Angst um meinen Vater vertrieb auch die letzten Reste Müdigkeit. Ich schlug die Decke beiseite und schnellte aus dem Bett. In meinem Gemach war es stockfinster. Nicht der kleinste Lichtstrahl drang durch die Ritzen der hölzernen Fensterläden.
Dabei war keine Wolke am Himmel zu sehen gewesen, als ich mich niedergelegt hatte.
Blind tastete ich mich durch mein Gemach und stieß dabei gegen den Schemel, der vor der Tür stand. Ein stechender Schmerz zuckte durch meinen Fuß.
Ich biss mir auf die Unterlippe und ärgerte mich darüber, dass ich den Schemel vergessen hatte, den ich selbst am Abend vor die Tür gestellt hatte, damit niemand unbemerkt mein Zimmer betreten konnte, während ich schlief.
Mit niemand meine ich vor allem Ada, ein herrisches Weibsbild, das mein Vater allein zu dem Zweck in unser Haus geholt hatte, um mir das Leben schwer zu machen.
Sie war es auch, die als Erste meinen Weg kreuzte, als ich die Tür aufriss und in den dahinterliegenden Gang humpelte. Mit wehendem Gewand fauchte sie herbei wie eine Erinye aus der Wüste der Gesichtslosen, die arglose Wanderer in Sandlöcher lockte.
Die Augen in Adas verkniffenem Antlitz funkelten wie Opale.
»Geht zurück in Euer Gemach, Herrin!«, fuhr sie mich an.
Das letzte Wort spie sie hervor wie etwas Unanständiges. Wahrscheinlich drehte sich ihr jedes Mal der Magen um, wenn sie mich auf diese Weise ansprach. Doch so geziemte es sich, immerhin war sie unsere Bedienstete.
Ich fragte mich nicht, wo dieses Weib so schnell hergekommen war. Unter den Dienstmägden kursierte das Gerücht, Ada würde niemals schlafen und nächtens durch die Gänge schleichen wie ein ruheloser Rachegeist auf der Suche nach Opfern.
Ich tat das, was ich mit den meisten Aufforderungen dieses Drachens tat: Ich ignorierte sie!
Ich folgte Ada zum Schlafgemach meines Vaters, dessen Gebrüll soeben in einem gepeinigten Gurgeln erstickte.
Vor der Tür trafen wir auf Callos, den Stallmeister, auf dessen Schultern ein Rind hätte stehen können. Selbst er zuckte zurück, als Ada ihn anfauchte, dann stieß sie die Tür auf.
»Licht!«, brüllte sie.
Ohne innezuhalten und sich zu vergewissern, ob jemand ihrem Befehl Folge leistete, stürzte sie ans Bett meines Vaters, der sich wand und zuckte wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Ich war hinter Ada in das Zimmer geschlüpft. Sie beugte sich über Vater, der den Kopf von einer Seite zur anderen warf. Seine Augen leuchteten hell in der Dunkelheit.
»Herr!«, rief sie und ergriff seine Schultern.
Vater gab Laute von sich, wie ich sie noch nie zuvor von einem menschlichen Wesen vernommen hatte, geschweige denn von ihm. Als würde er versuchen, mit zusammengepressten Zähnen zu schreien, während jemand einen glühenden Spieß durch seine Eingeweide trieb.
»Delios! Herr!«, wiederholte Ada, dann rief sie über die Schulter: »Wo bleibt das Licht?«
Shuna, nur zwei Jahre älter als ich, brachte eine Fackel. Deren flackernder Schein riss die Dunkelheit in Fetzen, die Irrwischen gleich über die Wände huschten.
Ich nahm der Magd die Fackel ab und drehte mich zu Vater um.
Und wünschte mir, ich hätte Adas Befehl nicht missachtet.
Vater hatte die Lider weit aufgerissen, die Augen aber so weit verdreht, dass nur das Weiße zu sehen war. Blutiger Schaum quoll ihm aus dem Mund, die Haut war aschfahl und glänzte, als wäre sie mit Öl eingerieben. Sein gesamter Körper badete in Schweiß. Das dünne Leinenhemd klebte wie eine zweite Haut an seinem Leib.
Shuna neben mir schrie leise auf. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Mir war selbst nach schreien zumute, doch meine Kehle war wie zugeschnürt.
»Delios!«, rief Ada erneut. »Herr, wacht auf!«
Dann holte sie aus und schlug meinem Vater mit der flachen Hand ins Gesicht. Bei jedem Klatschen zuckte ich zusammen, als wäre ich getroffen worden.
Eben wollte Ada ein drittes Mal zuschlagen, da schoss Vaters Arm in die Höhe und fing die Hand seiner Dienerin ab. Grimmig schaute er Ada an, die mit offenem Mund über ihm kauerte.
»Es reicht!«, zischte er. »Ich . bin wach!«
Ein erleichtertes Raunen ging durch die Reihen der Bediensteten. Auch ich atmete auf, ja, selbst Ada entspannte sich. Seufzend richtete sie sich auf. Mit dem Unterarm wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
Vater erhob sich und schaute sich verwirrt um. Seine Wangen glühten von Adas Schlägen. Ich überreichte Shuna die Fackel und ging zu ihm. »Was ist passiert?«
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Adas grimmigen Blick. Sie war wütend, dass ich ihren Befehl nicht befolgt hatte, doch das war mir egal. Schließlich war ich die Herrin des Hauses, nicht dieses grantige Weibsbild.
Vater blinzelte, als er mich erkannte. »Kara?«
Er wandte den Kopf in Richtung Tür, wo sich der Rest der Dienerschaft zusammendrängte. Anscheinend wurde ihm erst jetzt bewusst, dass er das ganze Haus aufgeweckt hatte.
»Ihr . Ihr habt so furchtbar geschrien, Herr«, sagte Shuna.
Dafür fing sie sich von Ada einen zornigen Blick ein.
»Raus!«, fuhr sie die Magd an und entriss ihr die Fackel. »Los! Verschwinde!« Sie wandte sich der Dienerschaft vor der Tür zu, die es nicht wagte, den Raum zu betreten. »Das gilt für euch alle! Macht, dass ihr wieder in eure Betten kommt!«
Fluchtartig verließ Shuna das Gemach meines Vaters. Die anderen Bediensteten wichen zurück. Allerdings nicht vor der jungen Magd, sondern vor Ada, die ihr wie eine Rachegöttin folgte, um die Tür hinter ihr zu schließen.
Davor blieb sie stehen, als wollte sie verhindern, dass einer von uns entkam. Ich fröstelte unter Adas strengem Blick und drehte mich zu Vater um, setzte mich neben ihn auf die Bettkante und nahm seine Hand.
Auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren und uns in letzter Zeit oft stritten, liebte ich ihn doch sehr. Er war alles, was mir von unserer Familie geblieben war. Die Vorstellung, er könnte sterben, hatte mir einen gehörigen Schrecken eingejagt.
»Du hast ihnen große Angst gemacht«, sagte ich. »Du hast mir Angst gemacht.«
»Das . lag nicht in meiner Absicht!« Er hob die freie Hand und betastete seine Lippen. Nachdenklich betrachtete er das Blut. »Ich . ich habe . bloß geträumt.«
Ada schnaubte wie ein altes Ross. »Man beißt sich nicht die Zunge blutig, nur weil man träumt.«
»Willst du mir davon erzählen?«, fragte ich, ohne auf Adas Worte einzugehen.
Vater schlug die Augen nieder und überlegte, dann schüttelte er den Kopf. Graue Strähnen schimmerten in dem dichten schwarzen Haar, das bis über seine Schultern fiel. Schließlich hob er den Blick und lächelte mich an. »Es ist nichts«, behauptete er. »Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«
Doch ich wusste, dass er log!
»Lasst uns gehen, junge Herrin«, meldete sich Ada von der Tür her. »Gönnt uns und Eurem Vater noch ein paar Stunden Ruhe.«
Ich tat so, als hätte ich sie gar nicht gehört. Was fiel diesem Weib ein, sich in unser Gespräch einzumischen? Am liebsten hätte ich sie des Raumes verwiesen, doch ausgerechnet mein Vater fiel mir in den Rücken.
»Sie hat recht, Kara! Lass uns noch ein wenig schlafen, wir können morgen darüber reden.«
Ich zog die Brauen zusammen. Ich war wütend. Weniger auf Ada als vielmehr auf Vater. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich die Angelegenheit morgen vergessen hatte. Doch ich war kein kleines Kind mehr.
»Wie du meinst«, erwiderte ich eisig und stand auf. »Ich werde dich daran erinnern. Gute Nacht!«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte ich mich um und ging auf die Tür zu. Ada wich zur Seite. Ich riss die Tür auf und stürmte auf den Gang hinaus. Anhand des Fackelscheins, der mir folgte, erkannte ich, dass mir Ada auf den Fersen blieb. Bevor ich mein Zimmer erreichte, legte sich ihre Hand auf meine Schulter, zog mich herum.
»Was .?«
Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken. Adas Gesicht hatte seine Strenge verloren. Beinahe sanftmütig blickte sie mich an. Lag da nicht gar ein Hauch von Furcht in ihrem Blick?
»Ich weiß, dass Ihr Euch um Euren Vater sorgt!«
Ihre Offenheit bestürzte mich. Aber so leicht würde ich es ihr nicht machen. »Ich weiß nicht, was du meinst«, zischte ich. »Er hat doch bloß geträumt!«
Ich entzog mich ihrem Griff, stieß die Tür zu meinem Gemach auf und warf sie hinter mir zu.
Dunkelheit umfing mich. Am liebsten hätte ich die Tür wieder ein Stück aufgezogen, doch diese Blöße wollte ich mir nicht geben. Also tastete ich blind nach dem Schemel und stellte ihn wieder vor die Tür.
Gleich morgen...