Schweitzer Fachinformationen
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Sie reisen am dritten Montag im Juni nach Nantucket, so wie jedes Jahr. Jessies Großmutter mütterlicherseits, Exalta Nichols, hält sehr viel von Traditionen, und das gilt ganz besonders für die Routinen und Rituale des Sommers.
Jessies dreizehnter Geburtstag fällt dieses Jahr auf ebenjenen dritten Montag im Juni und wird daher übersehen werden. Das stört Jessie nicht weiter. Ohne Tiger könnten sie ohnehin nicht richtig feiern.
Jessica Levin (»Reimt sich auf Heaven«, so ihr Standardsatz, wenn Leute sich mit der Aussprache schwertun) ist das jüngste der vier Kinder ihrer Mutter. Jessies Schwester Blair ist vierundzwanzig und wohnt in der Commonwealth Avenue. Blair ist mit Angus Whalen verheiratet, einem Professor am Massachusetts Institute of Technology. Sie erwarten im August ihr erstes Baby, und das bedeutet, dass Kate, Jessies Mutter, in dieser Zeit nach Boston zurückkehren wird, um ihnen beizustehen, während Jessie mit ihrer Großmutter allein auf Nantucket zurückbleibt. Exalta ist keine warmherzige, treusorgende Großmama, die Plätzchen backt und einem in die Wangen zwickt. Jede Interaktion mit Exalta gleicht für Jessie einem Sturz in eine Dornenhecke: Ohne Blessuren geht das niemals ab, die Frage ist nur, wo und wie schlimm sie zerkratzt wird. Jessie hat angeboten, gemeinsam mit Kate nach Boston zurückzukehren, aber davon wollte ihre Mutter nichts hören. »Dein Sommer soll dadurch nicht vermasselt werden«, so ihre Begründung.
»Es würde ihn nicht vermasseln«, versicherte Jessie mit Nachdruck. Tatsache ist, es würde ihren Sommer eher retten, wenn sie früher zurückkönnte. Jessies Freundinnen Leslie und Doris verbringen die Ferien daheim in Brookline und gehen im Country Club schwimmen, dem Leslies Familie angehört. Letzten Sommer haben Leslie und Doris sich enger angefreundet, während Jessie fort war. Seither bildet die Freundschaft der beiden die stabilste Seite des Dreiecks, und Jessie fühlt sich ein bisschen außen vor. Leslie gibt in ihrem Trio den Ton an, weil sie blond und hübsch ist und ihre Eltern gelegentlich bei Teddy und Joan Kennedy zum Essen eingeladen werden. Sie scheint der Auffassung zu sein, sie würde Doris und Jessie einen Gefallen tun, indem sie mit ihnen befreundet bleibt, jedenfalls ist das der Eindruck, der sich ihnen mitunter aufdrängt. Sie verfügt über so viel Sozialprestige, dass sie auch mit Pammy Pope und den wirklich populären Mädchen abhängen könnte, wenn sie das wollte. Und wer weiß, vielleicht wird Leslie ja für immer aus ihrem Leben verschwinden, wenn Jessie den ganzen Sommer über fort ist.
Jessies nächstältere Schwester, Kirby, studiert im dritten Jahr am Simmons College. Kirbys Streitereien mit ihren Eltern sind nicht nur lautstark, sondern auch spannend. Da Jessie seit Jahren heimlich die Gespräche ihrer Eltern belauscht, versteht sie mittlerweile, was das Hauptproblem ist: Kirby ist ein »Freigeist«, sie »weiß nicht, was gut für sie ist«. Kirby hat am Simmons zweimal das Hauptfach gewechselt und dann versucht, sich ein Hauptfach nach eigenem Gusto maßzuschneidern, »Gender und Race«, aber das wurde vom Dekan abgelehnt. Und so traf Kirby den Entschluss, dass sie als erste Studentin am Simmons College überhaupt ihr Examen ohne Hauptfach machen würde. Was beim Dekan abermals auf Ablehnung stieß.
»Ein Examen ohne Hauptfach, hat er gesagt, das wäre in etwa so, als würde man zur Abschlussfeier splitternackt erscheinen«, berichtete Kirby Jessie. »Worauf ich gesagt habe, dass ich die Idee gar nicht so schlecht finde.«
Jessie kann sich ohne Weiteres vorstellen, wie ihre Schwester im Evaskostüm über die Bühne schreitet, um ihr Diplom in Empfang zu nehmen. Kirby hat sich schon zu Highschool-Zeiten an politischen Protesten beteiligt. Sie ist mit Dr. Martin Luther King Jr. von Roxbury durch die Slums und gefährlichen Stadtviertel bis zum Boston Common marschiert, wo Jessies Vater sie dann abgeholt und nach Hause gebracht hat. Dieses Jahr hat Kirby bereits an zwei Antikriegs-Demonstrationen teilgenommen und wurde beide Male verhaftet.
Verhaftet!
Jessies Eltern verlieren langsam die Geduld mit Kirby - Jessie hat ihre Mutter sagen hören: »Bis sie gelernt hat, sich vernünftig zu benehmen, bekommt dieses Mädchen von uns keinen einzigen Cent mehr!« -, doch Kirby ist inzwischen nicht mehr ihre Hauptsorge.
Ihre Hauptsorge ist Jessies Bruder Richard, aller Welt nur als Tiger bekannt, der im April in die U.S. Army eingezogen worden ist. Nach der Grundausbildung ist Tiger mit der Charlie Company des Zwölften Regiments der Dritten Brigade der Vierten Infanterie ins zentrale Hochland von Vietnam entsandt worden. Die Situation hat die Familie bis in ihre Grundfesten erschüttert. Bislang hatten sie alle angenommen, dass nur Jungen aus der Arbeiterklasse in den Krieg müssten, keine erfolgreichen Footballspieler von der Brookline Highschool.
Nach Tigers Entsendung fingen alle an der Schule an, anders mit Jessie umzugehen. Pammy Pope lud Jessie zum alljährlichen Memorial-Day-Picknick ihrer Familie ein - Jessie lehnte dankend ab, aus Loyalität Leslie und Doris gegenüber, die nicht gefragt worden waren -, und an einem Montagmorgen Anfang Juni holte Miss Flowers, die Vertrauenslehrerin, Jessie zu einem Gespräch aus dem Unterricht, um zu hören, wie es ihr ging. Es war die Hauswirtschaftsstunde, und die anderen Mädchen sahen Jessie neidvoll nach, weil sie sich nun nicht mehr an ihrer Nähmaschine abmühen musste, um ihre Weste aus dunkelblauem Cord bis Ende des Schuljahrs fertigzustellen. Miss Flowers ging mit Jessie in ihr Büro, schloss die Tür und bot ihr eine Tasse Tee an. Jessie trank sonst keinen Tee, wobei sie allerdings Kaffee gern mochte - Exalta erlaubte ihr einen Becher Milchkaffee zum Sonntagsbrunch, ungeachtet Kates Protesten, dass Jessies Wachstum dadurch gehemmt würde -, doch es war ihr sehr recht, hierher in Miss Flowers' gemütliches Büro entkommen zu sein. Miss Flowers hatte eine Holzkiste voll exotischer Teesorten - Kamille, Chicorée, Jasmin -, und Jessie ließ sich Zeit bei der Auswahl, als würde ihr Leben davon abhängen, dass sie die richtige Sorte erwischte. Sie entschied sich für Hibiskus. Der Tee war und blieb blässlich orange, obwohl sie den Beutel ewig lang ziehen ließ. Jessie fügte drei Würfel Zucker hinzu, aus der Sorge heraus, dass der Tee sonst keinen Geschmack haben würde. Und sie hatte recht; das Gebräu schmeckte wie orangefarbenes Zuckerwasser.
»Also«, fing Miss Flowers an. »Wie ich höre, ist dein Bruder in Übersee. Hast du schon von ihm gehört?«
»Ja«, sagte Jessie. »Zwei Briefe.«
Der erste Brief war an die gesamte Familie gerichtet gewesen und enthielt Einzelheiten aus der Grundausbildung, die, wie Tiger schrieb, überhaupt nicht so hart ist, wie man überall liest; für mich ist das ein Kinderspiel. Der andere Brief war nur für Jessie gewesen. Ob Blair und Kirby auch eigene Briefe bekommen hatten, wusste sie nicht, doch irgendwie hatte sie ihre Zweifel daran. Blair, Kirby und Tiger waren Vollgeschwister - sie waren die Sprösslinge von Kate und ihrem ersten Ehemann, Lieutenant Wilder Foley, der am achtunddreißigsten Breitengrad in Korea Dienst getan und sich dann nach seiner Heimkehr versehentlich mit seiner Beretta in den Kopf geschossen hatte -, am innigsten aber fühlte Tiger sich Jessie verbunden, seiner Halbschwester. Tatsächlich durften sie die Begriffe Halbschwester, Halbbruder und Stiefvater nicht benutzen - das hatte Kate ihnen strikt verboten -, doch durch die Familie zog sich nun mal eine Bruchlinie, ob es zur Sprache gebracht wurde oder nicht. Sie waren zwei Familien, die zusammengenäht worden waren. Das Verhältnis zwischen Tiger und Jessie allerdings fühlte sich echt an, vollständig und gut, und was er in dem Brief geschrieben hatte, war der Beweis dafür. Schon bei der Anrede, Liebe Messie, kamen Jessie die Tränen.
»Briefe sind das Einzige, was es etwas einfacher macht«, sagte Miss Flowers, und dabei standen auch ihr die Tränen in den Augen. Miss Flowers' Verlobter, Rex Rothman, war im Vorjahr bei der Tet-Offensive umgekommen. Miss Flowers hatte sich eine ganze Woche freigenommen, und Jessie hatte ein Foto von ihr in der Boston Globe gesehen, auf dem sie neben einem Sarg stand, der mit dem Sternenbanner verhüllt war. Im September darauf jedoch, zu Beginn des neuen Schuljahrs, schien es, als würde sich zwischen Miss Flowers und Eric Barstow, dem muskulösen Sportlehrer, eine Romanze anbahnen. Die Jungen hassten Mr Barstow und hatten zugleich Respekt vor ihm, während Jessie und die anderen Mädchen an der Schule ihm mit Misstrauen begegneten - bis er anfing, Miss Flowers zu umgarnen, und plötzlich zum romantischen Helden wurde. In jenem Frühjahr beobachteten sie einmal, wie er Miss Flowers ein zartes Sträußchen Maiglöckchen brachte, eingewickelt in ein feuchtes Papierhandtuch, und nach Schulschluss trug er ihr jeden Tag ihre Bücher und Akten auf den Parkplatz. Jessie hat die beiden zusammen bei Miss Flowers' leuchtend orangerotem VW Käfer stehen sehen, ins Gespräch vertieft, während Mr Barstow einen Ellbogen aufs Autodach stützte. Und einmal hat sie vom gerade abfahrenden Schulbus aus sogar gesehen, wie sich die beiden küssten.
Manche Leute - Leslie beispielsweise - finden es nicht in Ordnung, dass Miss Flowers sich nach dem Tod ihres Verlobten schon vor Ablauf eines Trauerjahrs mit einem neuen Mann einlässt. Jessie aber versteht, was für ein Vakuum nach dem tragischen Verlust eines Menschen zurückbleibt,...
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