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Wie war es ihm während der Zeit in München überhaupt ergangen? - Und wie in den anderen Städten, von denen er kaum mehr als die Namen wußte und die Bahnhöfe kannte . er wußte, daß er sich in diesen Städten aufgehalten hatte, daß sie ihm aber auf seltsame Art verschlossen geblieben waren. Sein Wahrnehmungsvermögen hatte nicht funktioniert, und wenn er über die Ursachen dieses Phänomens nachdachte, so fiel ihm alles mögliche ein: der Alkohol, der seinen Blick trübte, seine Unfähigkeit, Kontakte zu knüpfen, seine Kontaktlosigkeit, sein Mißtrauen sich selbst gegenüber, die daraus entstehende Orientierungslosigkeit.
Nach und nach entglitt ihm die Wirklichkeit . er stand draußen, die Wirklichkeit nahm ihn nicht an, er war außerstande, die Wirklichkeit auf sich zu beziehen . er wußte nicht, wie er es hätte erklären können. Die Wirklichkeit lag hinter einer Mauer, er trug andauernd eine Mauer vor sich her. Und da diese Mauer nicht aus Beton war, sondern nur eine Empfindung, ein Bewußtsein, oder nur eine Empfindung unterhalb seines Bewußtseins . da diese Mauer selbst unwirklich war . schien es um so weniger möglich, sie abzubauen. Er konnte die Mauer nicht abschaffen, er konnte, wenn er seinen Zustand verändern wollte, nur sich selbst abschaffen .
In dieser Verfassung hatte er begonnen, nach seinen Erinnerungen zu suchen, aus einer merkwürdigen Not heraus, als stehe ihm nichts anderes mehr zur Verfügung als irgendeine fadenscheinige Erinnerung . und er versammelte Notizen um sich, kleine Zettel mit den Bruchstücken seiner Erinnerungen; wenn er die undeutlichen, unter Alkohol gekritzelten Sätze einen Tag später las, warf er sie in der Regel weg: sie waren im Stil eines halbherzigen Zynismus geschrieben, den er unerträglich fand .
Aber er war doch auch in den Städten des Ostens ohne Wirklichkeit gewesen, in Leipzig, Dresden, Ost-Berlin . was schon daran zu erkennen war, wie schwach er sich erinnerte. Und nun würde es diese Städte wahrscheinlich nicht mehr geben für ihn? Oder nur noch als die phantastischen spirituellen Gebilde aus einer Vergangenheit, die er nicht mehr als die seine erkannte . als virtuelle Gebilde, kaum noch abrufbar durch sein vom Alkohol gepeinigtes Gehirn. Er sah sich nicht mehr in diesen Städten - ebensowenig, wie er sich in den neuen, in den westdeutschen Städten sah -, er war ein Gespenst in den ostdeutschen Städten, ein Zufall, eine vorläufige Figur; vielleicht hatte niemand bemerkt, daß er gar nicht mehr dort war. Er würde darüber schreiben müssen . wenn er konnte, wenn er eines Tages wieder schreiben konnte! Aber er hatte immer öfter den Verdacht, daß er nur in jenen Städten selbst schreiben konnte .
Es sei mit jenen Städten, so dachte er manchmal, wie am Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie waren ausgelöscht worden, niemand wußte, ob sie noch einmal weiter existieren konnten. Sie würden, falls überhaupt, nur als andere Städte weiterleben können . und es war beinahe, als wäre er mit seinen Gedanken an jenem Kriegsende stehengeblieben: damals war es entstanden, sein Bewußtsein, sein Weltgefühl . und jetzt waren diese Städte für ihn noch einmal ausgelöscht worden, und zwar, so schien es, wirksamer als durch Bombenteppiche. Wirksamer, weil diese Auslöschung ihn in einem Moment erwischt hatte, in dem er ohne jede Festigkeit war. Eine Staatsgrenze hatte dies vermocht (seit dem Ablauf seines Visums eine unüberschreitbare Staatsgrenze), eine Mauer, ein Sperrgürtel bürokratischer Verordnungen. Darüber mußte geschrieben werden, ganz egal wie .
Was hinderte ihn eigentlich, damit zu beginnen? - Nicht zuletzt der Umstand, daß seine Freundin Hedda sich ihm verweigerte. Sie hatte die Flucht ergriffen . genauer wollte er die Sache gar nicht ausdrücken. Es war nicht das erste Mal, und je dringender, je verzweifelter er versuchte, den Kontakt zu ihr wieder herzustellen, um so schneidender bestand sie auf ihrer Distanz. Sie war verschwunden . sie hielt sich offenbar in München auf, als er aber in München auftauchte, war sie schon wieder abgereist. Nein, es war nicht das erste Mal, daß sie ihm gesagt hatte (oder daß sie es ihm hatte ausrichten lassen), sie brauche Bedenkzeit, er müsse sie vorläufig in Ruhe lassen. Und sie sei überzeugt, er müsse sich ebenfalls besinnen .
Vorläufig, das war das Wort, so lebte er seit einer geraumen Zeit. Er behielt den Kopf nur oben, wenn er trank; sie aber sagte, sie könne nicht dabei zusehen, wie er sich mit Hilfe von Alkohol zu vernichten suche .
Es sei die feigste Methode, sich umzubringen, sagte Hedda. Sie hatte etwas gegen den Alkohol. Das lag an ihrem russischen Vater, der sie ihre ganze Kindheit über beim Trinken hatte zuschauen lassen. Die Folge dieses Anblicks war nicht allein ihre Abneigung gegen Alkohol und gegen trinkende Männer, sondern eine nie ganz zu unterdrückende Skepsis gegenüber dem sogenannten russischen Charakter, was darunter auch zu verstehen sein mochte, und der freilich auch ihr eigener Charakter war. Hedda, das war nicht ihr wirklicher Name, sondern ein Pseudonym; sie hatte es sich ausgesucht, weil ihr Verlag dazu geraten hatte. Ihr wirklicher Name sei zu kompliziert für Buchumschläge, welche die deutschen Leser zum Kauf reizen sollten.
Auch C., hatte sie gesagt, brauche unbedingt eine Bedenkzeit, er müsse sich überlegen, ob er wirklich mit ihr zusammenleben wolle. Offensichtlich wisse er das nicht. Was dazu geführt habe, daß auch sie es ihrerseits nicht mehr genau wisse. Und er möge nachdenken, ob er wirklich nur trinke, weil er zur Zeit nicht schreiben könne - denn das hatte er einmal behauptet -, oder ob er, umgekehrt, nicht schreiben könne, weil er nur noch mit dem Trinken beschäftigt sei.
Noch mehr wäre zu bedenken: vielleicht könne er auch nicht schreiben, wenn er mit einer Frau zusammenlebe, beziehungsweise, er bilde sich so etwas ein. Nicht nur mit einer Frau, vielleicht könne er menschliche Nähe überhaupt nicht ertragen, wenn er schreiben wolle .
Aber wir leben gar nicht richtig zusammen, wir wohnen getrennt, erwiderte er.
Zum Glück! hatte Hedda gesagt.
Damals in München hätte er tatsächlich über diese Dinge nachdenken können, es konnte sein, er war sogar aus diesem Grund hingefahren. Vielleicht wäre er zu ähnlichen Schlüssen gekommen . es wären ihm schwer erträgliche Gedanken gewesen. Freilich, er hatte schon solche Dinge gedacht, aber warum war das so? Warum ertrug er keine Nähe? Weil man in Gegenwart der anderen Argumente brauchte für das Schreiben? Warum aber brauchte ein schreibend dasitzender Mensch, der sich verhältnismäßig ruhig verhielt, Argumente, warum mußte er sein Schreiben rechtfertigen? Er hatte nie Argumente dafür gehabt, und erst recht keine befriedigenden. Argumente riefen geradezu nach dem Widerspruch; Widerspruch gab es im Übermaß, man brauchte nur zuzugreifen. Er selbst war bis obenhin angefüllt mit Widerspruch.
In München war er für sich allein gewesen und hatte trotzdem nicht geschrieben. Er hätte dort zumindest auf die Idee kommen können, daß er vor Hedda, die selbst schrieb, kein Argument brauchte. Er schrieb nicht, weil er sich selbst im Weg stand, das war der ganze Grund. Aus scheinbar nichtigem Anlaß war es zwischen ihnen zu einer Mißstimmung gekommen, aus der eine Auseinandersetzung geworden war, eine Zerreißprobe: er hatte Heddas Geburtstag vergessen, der Alkohol war daran schuld gewesen. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung hatte Hedda verlangt, er solle sie für einige Zeit allein lassen; schlimm daran war, daß sie sich über das Ende dieser Frist nicht hatte äußern wollen.
Während jener finsteren Tage in München war er sich vorgekommen wie ein Sträfling, den man auf ungewisse Zeit in die Verbannung geschickt hatte: das Ende dieser Zeit hing von seinem Verhalten ab . aber er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Je mehr er trank, um so mehr beherrschte ihn das Gefühl, verstoßen zu sein . für immer, er sei verdammt, für immer in seiner Verbannung auszuharren. Das lähmende Entsetzen, das dieser Gedanke nährte, war nur mit Alkohol einzudämmen .
Das Ende seiner Zeit in München war verworren; er hatte nichts dazu beigetragen, aber eine Art Hauptrolle gespielt, und damit entsprach dieses Ende seinem Charakter vollkommen. Einige scharfe, fast grelle Bilder waren ihm geblieben, doch die stachen aus Nebelzonen hervor, zusammenhanglos und kaum in geordnete Abfolgen zu bringen. - Er war vom Klingeln des Telefons geweckt worden und schlaftrunken auf die Füße gekommen. Hätte er nicht die blitzartige Hoffnung gehabt, Hedda riefe an, versuche, ihn schon seit einer ganzen Weile zu erreichen, wäre er gar nicht an den Apparat gegangen. Es war schon wieder dunkel, später Nachmittag, die Zimmer waren eiskalt. - Ich bin in München! sagte er sich; das war jeden Tag der erste Satz, den er sich sagte. Und das erste, was er spürte, war ein rasender Kopfschmerz, dem zu begegnen er stets noch einen Rest, drei bis vier Zentimeter, Schnaps in einer Flasche reserviert hatte. Verzweifelt suchte er in den drei Räumen nach dem Telefon, das nicht aufhören wollte zu klingeln; endlich hatte er den Hörer in der Hand und meldete sich.
Eine Frauenstimme drang an sein Ohr, die nicht enden wollende Sätze sprach und viel zu schnell redete. Es war nicht Hedda. Nach einer Weile bekam er mit, daß er gemeint war und daß die Frau seines Bekannten am Apparat war, in dessen Wohnung er sich aufhielt. - Er...
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