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Heute
Von außen bot das schmale, stuckverzierte Haus, in dem DI Marnie Rome wohnte, einen sehr gepflegten Anblick. Die Einrichtung stellte Noah Jake sich sachlich vor, mit einem Sinn für funktionale Schönheit. Hölzerne Jalousien, eine gräuliche Vase mit hohen, orangefarbenen Blüten. Vermutlich zwei Zimmer. Noah war neugierig, jedoch nicht so neugierig, dass er sich aufgedrängt hätte, also legte er die Hände auf das Lenkrad und wartete. Als die Sonne den Londoner Wolkenhimmel durchbrach, reflektierte sie den weißen Stuck in ihrem Licht.
An manchen Tagen war zu spüren, dass die Stadt auf den Gräbern von Pestopfern errichtet war. Nirgends gab es Stillstand, auch hier vibrierte die Straße unter dem nahen Zubringer in Richtung West End. Irgendwo hatte Noah gelesen - wahrscheinlich in einem von Dans Architekturführern -, dass Primrose Hill beinahe zur Massenbegräbnisstätte geworden wäre. Im 19. Jahrhundert hatte es Pläne für den Bau einer mehrstöckigen Pyramide gegeben, die St Paul's überragen und Platz für mehr als fünf Millionen Tote bieten sollte. Die Auswüchse der Ägyptomanie. Die Städteplaner hatten sich von den britischen Grabräubern infizieren lassen, die nach ihrer Heimkehr das ganze Land mit Hieroglyphen verzieren wollten. Nun rotierte eine Kirchturmspitze hoch über der Stadt, die Spindel des London Eye, allherrschend und allsehend.
Noah schaute auf die Uhr, zurück zum Haus.
Die massive Haustür mit den Sicherheitsschlössern, durch die DI Rome nun treten sollte, glänzte dunkelblau. Genau wie ihre Augen. Noch eine Minute, und DI Rome käme zu spät. Und sie kam nie zu spät. Ob er klopfen sollte? Nein, das wäre aufdringlich. Er arbeitete seit fünf Monaten mit Marnie Rome zusammen und wusste dennoch kaum etwas über ihr Privatleben, nur, dass sie sehr viel Wert darauf legte, dass es ihr Privatleben blieb.
Die blaue Tür öffnete sich noch vor Ablauf der Minute. DI Marnie Rome kam die Treppe herunter, in einem dunklen Hosenanzug mit weißer Bluse, über der Schulter eine Ledertasche. Gepflegt von Kopf bis Fuß, von den roten Locken bis zu den flachen Absätzen.
Noah schaute prüfend auf den - bereits sauberen - Beifahrersitz und wischte über seine Anzugärmel. Er reckte sich zur Seite und öffnete ihr von innen die Tür. »Morgen.«
»Guten Morgen.« Sie glitt in den Wagen und stellte die Tasche auf den Boden. »Da hatten Sie aber Glück mit dem Parkplatz.«
»Ich war früh, ich hatte gedacht, wir sollten besser pünktlich sein.«
»Gut gedacht.«
Noah ließ den Motor an und wartete darauf, dass sich Marnie anschnallte.
Sie verstand, lächelte und legte sorgfältig den Gurt an. »Sicherheit geht natürlich vor, Detective.«
Eine halbe Stunde später war es angesichts der Fotos, die sich Noah Jake im Büro von Commander Tim Welland ansehen musste, mit dem Gefühl von Sicherheit vorbei.
»Nasif Mirza.« Welland warf die Fotos der Reihe nach auf seinen Schreibtisch, als würde er Spielkarten austeilen. »Wir halten ihn der schweren Körperverletzung für verdächtig. Die Waffe war übrigens ein Krummsäbel, falls das noch nicht klar ist.« Auf dem Schreibtisch breitete sich Stück für Stück das Storyboard zu einem Horrorfilm aus. Frei ab 18, Bonus-Schocker-Material auf DVD.
Marnie Rome nahm eins der Bilder in die Hand, schaute es sich gründlich an und legte es zurück an seinen Platz. Noah behielt die Hände unter dem Schreibtisch.
Welland erklärte: »Worauf Sie da gerade schauen, ist ein Stück von Lee Hurrans rechtem Arm.«
Das Stück war gelblich. Knorpeliges Fett, zerfetztes Fleisch. Der Säbel hatte die Hand vom Gelenk getrennt. Eine saubere Amputation sah anders aus; offenbar hatte der Täter zwei oder drei Versuche benötigt und dabei den Knochen grob zersplittert.
Auf Noahs Handflächen kribbelte der Schweiß. Es war drückend heiß. Tim Welland hatte einen Hautkrebs überstanden und drehte nun das ganze Jahr die Heizung auf. Welland war gegen die Hitze in seinem Büro immun, er schwitzte nie. Marnie Rome offenbar auch nicht. Noah schaute verstohlen zur Seite, auf ihren makellosen Kragen, die kühle Haut in ihrem Nacken. Ihm lief ein langsamer, kitzelnder Schweißtropfen über den Rücken, genau zwischen den Schulterblättern hindurch.
»Hurran verweigert jede Aussage. Hat wohl Angst um seine andere Hand, oder seine Eier.« Welland wies mit dem Kinn auf die Fotos. »Nasif ist mit dem Schlächtermesser nicht gerade zimperlich.«
»Noch ist Hurran im Krankenhaus.« Marnie warf einen raschen Blick auf das Blutbad vor ihr. »Noch wird er überwacht, wegen der Infektionsgefahr. In der Wunde war viel Schmutz . Vielleicht fühlt er sich zu Hause etwas sicherer.«
»Wenn sein Zuhause dieses Drecksloch ist, in dem man ihn gefunden hat, bezweifle ich das sehr.«
»Wir haben den Säbel. Mit Mirzas Fingerabdrücken. Reicht das nicht?«
»Nicht einmal ansatzweise. Die Staatsanwaltschaft«, Welland lag jede einzelne Silbe faulig auf der Zunge, »braucht weitere Beweise, um gegen Nasif vorzugehen. Offenbar ist das . Gemetzel hier noch nicht genug.«
Marnie pickte sich das grässlichste Foto heraus und betrachtete es gründlich. Noah beneidete sie um ihre Distanz. Ihn ekelte es viel zu schnell; er musste härter werden, sich an solche Dinge gewöhnen. Dinge wie .
Lee Hurrans angenagte Hand. Ein Festschmaus für die Ratten oder eine verwilderte Katze. Die Hand war nicht etwa in dem Lagerhaus verblieben, wo der Angriff erfolgt war. Nasif Mirza, oder wer auch immer, hatte sie über eine Mauer geworfen, auf eine Brache, ein Paradies für Fliegen.
»Ayana Mirza .«, setzte Marnie an.
»Die Staatsanwaltschaft will, dass sie aussagt«, warf Welland ein, »sie soll bezeugen, dass ihr Bruder eine Neigung zur Gewalt hat. Am liebsten wäre denen, wenn sie ihn für das, was er ihr angetan hat, anzeigt.«
»Wir können Nasif auch ohne ihre Aussage verhaften.«
»Wegen dem hier?« Welland zeigte auf die Fotos. »Oder der anderen Sache?«
An die andere Sache wollte Noah gar nicht denken - an das, was Nasif Mirza seiner Schwester angetan hatte, im Schoße der Familie. Die Bilder von Hurrans angenagter Hand waren schlimm genug.
Weder er noch Marnie waren Ayana Mirza bislang begegnet. Sie hatten den Fall von einer anderen Abteilung geerbt, die den jüngsten Kürzungen im öffentlichen Sektor zum Opfer gefallen war.
»Die Staatsanwaltschaft will bei Nasif auf Nummer sicher gehen«, sagte Welland. »Gibt es fremde Fingerabdrücke? Dann wurde der Säbel womöglich gestohlen, bla bla bla. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass Ayanas Zeugenaussage die Wende bringt. Sie will Ayana als lebenden Beweis für Nasifs Widerwärtigkeit. Keine Frage, sie würde sich vor Gericht gut machen.«
»Und das sieht die Staatsanwaltschaft nicht als Nötigung eines Opfers?«
»Die Staatsanwaltschaft will sich absichern, Detective. Sie und ich wissen doch, was in einem solchen Fall passiert.«
»Ich weiß vor allem, was Ayana passiert ist.« Marnies Blick verdüsterte sich. »Außerdem war das nicht Nasif allein. Sie waren zu dritt - ihre Brüder gemeinsam.«
»Was in Familien so alles vorkommt .« Welland fuhr zusammen und wandte den Blick von Marnie ab.
Sie zuckte bloß mit den Schultern. »Davon kann man prima leben, vorausgesetzt, man ist Psychiater.«
Noah hatte das Gefühl, dass ihm das Wesentliche gerade entgangen war. Die Hitze kochte sein Gehirn zu Brei. Wie konnte Welland nur so arbeiten?
»Sie sollten behutsam vorgehen. Sie hat panische Angst davor, entdeckt zu werden. Von ihren Brüdern. Sie versteckt sich .« Welland sah auf seinen Notizblock. »In einem Frauenhaus in Finchley«, half ihm Marnie weiter. »Ich habe mit Ed Belloc schon gesprochen.«
»Finchley.« Welland nickte. »Was konnte Ed über sie berichten?«
Ed Belloc arbeitete bei der Opferhilfe. Noah war ihm noch nie begegnet. Marnie beschrieb ihn als guten Mann in einem harten Job. Er hatte der Polizei bei der Suche nach Ayana Mirza geholfen, nachdem sie vor ihrer Familie geflohen war.
»Sie will sich im Frauenhaus bestimmt nicht unbeliebt machen«, sagte Marnie, »oder, schlimmer noch, ihren Platz riskieren. Sie hat nicht viele Optionen, ohne Geld. Sobald sie eine Sozialversicherungsnummer bekommt, ob durch Job oder Arbeitslosigkeit, wird sie für ihre Brüder auffindbar. Also versucht sie, unter dem Radar zu bleiben.«
Welland nickte. Er stand auf. »DS Jake, Sie sollten Ihre E-Mails checken. DI Rome, auf ein Wort.«
Marnie wartete, bis Noah das Büro verlassen hatte. Sie wusste, was nun kommen würde. Sicherheitshalber faltete sie die Hände im Schoß. Sie hätte sie gern gewaschen, weil sie sich von den Fotos klebrig anfühlten. Dass Tim Wellands Büro die reinste Sauna war, machte es nicht besser. Garantiert wusch sich Noah Jake gerade im Waschraum des Reviers mit kaltem Wasser das Gesicht.
Als sie allein waren, lehnte sich Welland zurück und legte die Daumen unter das Kinn. »Wie geht es Ihnen?«
Unter dem heißen Licht wirkte seine Schädeldecke gläsern, fleckig, das Gesicht, ohne Wimpern oder Augenbrauen, kahl und offen. Verlockend. Mit solch einem Gesicht konnte man sein Gegenüber zu Vertraulichkeiten, zu Geständnissen verleiten. Dabei hätte Welland beinahe ein Auge an den Krebs verloren. Selbst jetzt, zwei Jahre später, zerrte die Krankheit an der Haut, sodass die, die von...