Schweitzer Fachinformationen
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"Der Spion aus dem Netz", so wird Eliot Higgins oft genannt. Das von ihm gegründete Investigativnetzwerk Bellingcat hat Indizien, die darauf schließen lassen, dass der Mord in dem Berliner Tiergarten an einem Georgier dem russischen Geheimdienst zuzuschreiben ist. Es hat den Flugzeugabschuss über der Ukraine mit aufgeklärt und war dabei Medien, Ermittlern und sogar Geheimdiensten immer einen Schritt voraus. Wie das gelingt? Mithilfe von OpenSource-Informationen (Google, Facebook und Youtube etc.) klärt Bellingcat weltweit Verbrechen auf und läutet ein neues Zeitalter im Journalismus ein. Das Netzwerk berät zudem den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Im Anschluss an das tägliche Nachmittagsgebet rollten am 2. Februar 2011 ganze Pulks von Bussen auf den Tahrir-Platz in Kairo. Abertausende von Demonstranten hielten diesen Verkehrsknotenpunkt im Zentrum von Kairo seit Tagen besetzt. Sie verlangten den Rücktritt beziehungsweise die Ablösung von Staatspräsident Hosni Mubarak, der Ägypten seit dreißig Jahren diktatorisch regierte. Die Männer, die in diesen Bussen ankamen, stiegen mit Macheten, Baseball-Schlägern und Rasiermessern in der Hand aus. Sie hatten nicht die Absicht, sich den Protestierenden anzuschließen, sondern sie anzugreifen und zu verjagen.
Zunächst umzingelten sie den Platz und stießen Drohungen aus. Aus einer Nebenstraße kamen Männer auf Pferden angetrabt; es gab auch Kamelreiter. Diese versuchten, in die Menschenmenge vorzustoßen, und schwangen ihre Schwerter. Die wagemutigsten Demonstranten versuchten, die anderen mit kreisförmigen untergehakten Menschenketten zu schützen. Doch die Menschenmassen auf dem Platz wurden auch von oben angegriffen. Regimeanhänger warfen Steine und Ziegel auf die Menge oder schütteten kochendes Wasser auf Menschen, die flüchten wollten. Tränengas wurde ebenfalls eingesetzt; nur durchfeuchtete Schals oder nasse Tücher boten dagegen einigermaßen Schutz. Die anwesenden Soldaten sahen ungerührt zu, als auch Journalisten angegriffen wurden. Viele Demonstranten rissen das Straßenpflaster auf und warfen Steine, um sich gegen die Angriffe zu wehren. Ein Panzerführer hatte den Befehl erhalten, nichts zum Schutz der Unschuldigen zu unternehmen; darüber war er so verwirrt, dass er sich lieber selbst den Lauf seiner Pistole in den Mund steckte und sich eher selbst umgebracht hätte, als tatenlos zuzusehen. Viele andere Soldaten hatten einfach ihren Posten im Stich gelassen. Als die Nacht hereinbrach, gab es immer noch da und dort Scharmützel. Die meisten Reporter und Journalisten hatten den Schauplatz indessen verlassen, um möglichst rasch ihre Berichte abzusetzen.
Einer der Journalisten, Andy Carvin vom amerikanischen Hörfunksender National Public Radio, wich den ganzen Tag nicht von seinem Platz. So konnte er fortlaufend über die Kamelschlacht von Kairo Bericht erstatten. Dabei musste er kein einziges Mal in Deckung gehen, und er brauchte auch keinen essiggetränkten Lappen, um seine Atemwege gegen das Tränengas zu schützen. Er saß nämlich einfach vor seinem Bildschirm in Washington und erstellte die Chronik dieses bemerkenswerten Tages im Arabischen Frühling allein mithilfe von Social Media.
»Dank jedes neuen Tweets, der mich erreichte, konnte ich mir die Situation vor Ort immer genauer vorstellen«, schrieb er später. »Die Menschen auf dem Tahrir-Platz befanden sich zwar mitten im Geschehen, aber jeder hatte natürlich nur seine begrenzte Sicht im Blickfeld. Über das, was an anderen Stellen vor sich ging, konnten sie keine Aussage machen. Für mich war es hingegen so, als würde ich mit einem Hubschrauber über den Platz fliegen und von oben auf das Schlachtfeld hinunterblicken. Aus den verschiedenen Einzeleindrücken konnte ich mir im Kopf ein Gesamtbild zusammensetzen. Wäre ich selbst dort gewesen, wäre das in dieser Form gar nicht möglich gewesen.«
Carvin dokumentierte monatelang die Aufstände des Arabischen Frühlings in Tunesien, Ägypten, Bahrein, Libyen, Jemen und Syrien und versuchte, sie seinem Publikum zu vermitteln. Oft verbrachte er bis zu achtzehn Stunden am Tag vor dem Bildschirm, an sieben Tagen in der Woche. Manchmal erreichten ihn über tausend Tweets pro Tag. Das ging so weit, dass Twitter eines Tages seinen Account sperrte, weil man ihn für einen Spammer hielt.
Es gibt etliche Auslandskorrespondenten, die sich in solchen Situationen vor Ort durchaus Gefahren für Leib und Leben aussetzen und darauf auch in gewisser Weise stolz sind; aber sie geben das, durchaus selbstkritisch, nicht immer als echtes Reporterhandwerk aus. Für Medien, die sich heutzutage mit reduzierten Budgets herumschlagen müssen, ist ein »Outsourcing« der unmittelbaren Vor-Ort-Recherche in die sozialen Medien eine interessante Variante. Aber können sich Journalisten, die solche in Tausenden von Kilometern Entfernung abgesetzten Tweets ohne Kenntnis der jeweiligen Landessprache und ohne Kenntnis der politischen, alltäglichen, soziokulturellen Zusammenhänge zur Kenntnis nehmen, wirklich ein zutreffendes Bild der Lage vor Ort machen?
Im Zuge der Ereignisse des Arabischen Frühlings rückte erstmals die Frage der Verifikation als ernst zu nehmendes Problem der Nachrichtenverbreitung im digitalen Zeitalter in den Mittelpunkt des Interesses. Woher sollte man wissen, dass das, was man sah, ein authentisches Ereignis war? Woher wusste man eigentlich, was man da sah?
Diese Frage stellte ich mir schon während meines Verwaltungsjobs in Leicester, wo ich meine Pausen am Schreibtisch damit verbrachte, mir Live-Videos anzusehen, die von einem Hotelfenster am Tahrir-Platz aus aufgenommen waren. Ich konnte erkennen, wie die Polizei die Demonstranten zurückdrängte, dann wiederum wurden die Polizisten zurückgedrängt. Das Ganze wirkte ein bisschen wie ein absurdes Spiel, wie Ebbe und Flut. Mal dehnten sich die Protestierenden aus, dann wurden sie wieder zusammengedrängt; Tränengaswolken schwebten über der Szene, Pflastersteine flogen durch die Luft, Wasserwerfer spritzten alles triefnass.
Schon seit Längerem hatte ich mich mit dem Gedanken getragen, Journalist zu werden; vielleicht würde ich eines Tages auch über solche Ereignisse live vor Ort berichten. Aber im College hatte ich mich nicht wirklich angestrengt, hatte mein Studium schließlich abgebrochen und schlug mich mit unbefriedigenden Bürojobs durch. Aus meiner Froschperspektive beobachtete ich Politiker, berühmte Leute und Journalisten, als wären sie eine höhere Spezies. Ich fand für mich keinen Platz in dieser Welt und machte mir keine Hoffnungen, jemals etwas Bedeutungsvolles zu erreichen. Stattdessen suchte ich meine Zuflucht in Videospielen, von denen ich regelrecht besessen war. Und es gelang mir, Spielernetzwerke mit einer ganzen Reihe von Teilnehmern aus anderen Ländern zu organisieren. Aber durch 9/11, das Flugzeugattentat auf die Hochhäuser des World Trade Centers, änderte sich das. Ereignisse passierten so schnell, die Nachrichten darüber verbreiteten sich so schnell, aber die Zeitungen waren so langsam! Ich wollte mehr wissen und entdeckte eine Online-Nachrichtenplattform. Sie nannte sich »Something Awful«. Hier gab es kontroverse Meinungen und interessante Einsichten zu beinahe jedem Thema, das man sich vorstellen kann. Und so hatte ich eine neue Obsession gefunden: das Zeitgeschehen - aktuelle Ereignisse und Nachrichten. Ab 2011 war der wichtigste Teil des Tages für mich der frühe Morgen, weil ich schon lange vor dem normalen Arbeitsbeginn im Büro war. Da konnte ich mir in aller Ruhe, allein am Computer, die neuesten Updates über den Arabischen Frühling reinziehen.
Eine der besten Quellen zu diesem Thema war »Middle East Live«, ein Blog mit aktuellen Nachrichten auf der Website der englischen Zeitung The Guardian. Was mich dort zuerst am meisten fesselte, waren die Threads über den Bürgerkrieg in Libyen. Der war ausgebrochen, nachdem der langjährige Diktator Muammar al-Gaddafi Massenproteste in der Hafenstadt Bengasi im Osten des Landes gewaltsam hatte unterdrücken lassen. Die Reaktion war ein bewaffneter Aufstand. Männer ohne besondere militärische Ausbildung, die aber Waffen besaßen, vor allem AK-47, sprangen spontan auf die Ladeflächen von Pick-up-Trucks und ließen sich an die Front fahren. Gaddafi wiederum drohte: »Ich werde mich an die Spitze der Volksmassen setzen, um Libyen Schritt für Schritt von jeglichem Ungeziefer zu befreien, Haus für Haus, Zimmer für Zimmer, Straße für Straße, einen nach dem anderen. Im März 2011 autorisierte der UN-Sicherheitsrat militärische Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Form von Luftschlägen, welche die NATO gegen Stellungen der Regierung durchführte. Der Bürgerkrieg wendete sich zugunsten der Rebellen. Sie stießen auf die Hauptstadt Tripolis vor sowie auf Gaddafis Heimatort Sirte.
Ich las dazu jeden englischsprachigen Artikel, den ich finden konnte, scrollte durch die Nachrichtenforen von »Something Awful« und sah mir regelmäßig die Twitter-Kommentare von Carvin und anderen an. Allerdings war das Internet in ganz Libyen abgeschaltet, sodass es nicht leicht war, an Informationen zu kommen. Auf einigen prominenten Twitter-Accounts gab es immer starke Sprüche zu lesen, aber man merkte ihnen an, dass sie deutlich voreingenommen waren, entweder für die Revolution oder für Gaddafi. Um diese Äußerungen richtig einordnen zu können, las ich außerdem regelmäßig die Tweets von Journalisten vor Ort, die das Kampfgebiet besuchten. Man hatte den Eindruck, diese Reporter verfügten über weit mehr Material, als man in kurzen Artikeln veröffentlichen konnte. Es kam mir so vor, als würden sie ihre gesammelten Fakten aus ihren Notebooks dort hineingießen, denn es waren auch viele Dinge dabei, die man sonst nirgendwo zu lesen bekam.
Eines Tages fuhr eine Journalistengruppe zufällig an der Stadt Tawergha vorbei, nicht weit entfernt von einer der Rebellenhochburgen, Misrata. Schon aus einiger Entfernung konnte man erkennen, dass Gebäude brannten. Gleichzeitig lag das Augenmerk der Nachrichtenwelt aber auf der Gaddafi-Hochburg Sirte, wo heftige Kämpfe tobten. Erst später kam heraus, was sich in Tawergha abgespielt hatte. Diese Stadt war ebenfalls pro Gaddafi; doch als sie in die Hände der Rebellen geriet, rächten die sich, indem sie die...
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