Schweitzer Fachinformationen
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DER BRUDER DER BRAUT
Nachdem ich den hellgrünen Regenmantel, der ganz am Rand hing, vom Bügel genommen hatte, war der Schrank leer. Auf Zehenspitzen inspizierte ich noch einmal das oberste Fach und drehte mich anschließend zu Miwako um, die den Regenmantel geschickt zusammenlegte und in dem Karton neben sich verstaute. Ihr Profil war zur Hälfte von ihrem langen glänzenden Haar verdeckt.
»War das jetzt alles an Kleidung?«, fragte ich.
»Ja, ich glaube, wir haben nichts vergessen«, erwiderte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
»Und selbst wenn, könntest du es ja sofort holen.«
»Genau.«
Miwako schloss den Deckel, schaute sich suchend um und griff nach einer Rolle Klebeband, die hinter dem Karton lag.
Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte ich mich um. In Miwakos etwa sechs Tatami großem Zimmer stand nur noch die alte Kommode, ein Erbstück unserer Mutter, aber auch die hatten wir bereits leer geräumt. Sie und der Einbauschrank hatten Miwakos gesamte Kleidung beherbergt. Aus den mehreren Dutzend Kleidungsstücken wählte sie je nach Laune, Wetter und Mode ihre Garderobe fürs Büro. Sie hatte es sich strengstens verboten, zwei Tage hintereinander das Gleiche zu tragen, andernfalls käme womöglich jemand auf die Idee, sie hätte die Nacht nicht zu Hause verbracht, sagte sie. Einem wie mir, der mitunter eine Woche lang denselben Anzug trug, erschien das ziemlich mühsam. Doch jeden Morgen freute ich mich, wenn sie - in welchem Outfit auch immer - aus ihrem Zimmer kam, ein Vergnügen, das mir von nun an versagt bleiben würde. Und das war nicht das Einzige, was ich aufgeben musste.
Als Miwako den Karton mit Klebeband versiegelt hatte, klopfte sie auf den Deckel. »Wir haben's geschafft.«
»Uff«, sagte ich. »War ganz schön anstrengend. Wollen wir was essen?«
»Ist überhaupt noch was da?« Miwako überlegte, was noch im Kühlschrank sein könnte.
»Ramen - die könnte ich machen«, sagte ich.
»Lass nur, ich mache sie.« Miwako sprang auf.
»Nein, auf keinen Fall. Du hast heute genug geschafft.«
Ich legte ihr die Hand um die Hüfte und zog sie fest an mich. Dies hatte keine besondere Bedeutung. Zumindest keine von mir beabsichtigte. Aber Miwako dachte offenbar anders darüber. Ein verkrampftes Lächeln trat auf ihr Gesicht, und sie entwand sich mir mit einer Drehung, die einer Eistänzerin Ehre gemacht hätte.
»Nein, ich mache sie. Du lässt sie nur wieder zu lange kochen, Bruderherz.« Darauf entschwand sie in den Flur und lief die Treppe hinunter.
Mit einem Seufzer betrachtete ich meinen linken Arm, an dem ich noch etwas von Miwakos Wärme spürte. Dann hob ich den Karton vom fliederfarbenen Teppichboden auf. Er war leicht, da er nur Kleider enthielt. Noch einmal schaute ich mich im Zimmer um. Die billigen Regale, die wir im Internet gekauft hatten, und die Kommode von unserer Mutter waren noch da, aber der vertraute dunkelbraune Sekretär, an dem Miwako immer gesessen und mit Füller auf Manuskriptpapier geschrieben hatte, war verschwunden. Bei ihrer Arbeit im Büro benutzte sie einen Computer, aber ihre Gedichte verfasste sie stets handschriftlich.
Die weißen Gardinen bauschten sich, als eine Brise durch das kleine Fenster wehte, das auf einen Privatweg hinausging.
Ich stellte den Karton noch einmal ab, schloss das Fenster und dann die Tür.
Unser Haus stand auf einem Grundstück von etwas über fünfzig Quadratmetern. Neben dem Wohn- und Essbereich mit Küche und zwei japanischen Zimmern im Erdgeschoss hatten wir im ersten Stock noch drei westliche Zimmer. Unser Vater hatte das Haus vor seinem vierzigsten Lebensjahr gebaut. Statt einen Kredit aufzunehmen, hatte er nach dem Tod unseres Großvaters die Villa verkauft, die er von ihm geerbt hatte und in der wir bis dahin gelebt hatten. Der Verkauf war ihm schwergefallen, aber die steuerlichen Vorteile überwogen. Von dem Erlös hatte er dieses Haus gebaut und damit nach Ansicht unserer Verwandten den Grund und Boden, der seit Generationen in den Händen der Familie Kanbayashi gewesen war, auf einen Schlag verschleudert.
Jetzt saß ich am Esstisch im Erdgeschoss und verzehrte die Suppe mit chinesischen Nudeln und Miso, die meine Schwester zubereitet hatte. Miwako hatte ihr langes Haar mit einer Metallspange im Nacken zusammengebunden.
»Richtet ihr euch im Haus ein, wenn ihr von der Reise zurück seid?«, fragte ich zwischen zwei Schlürfern.
»Uns bleibt nichts anderes übrig. Vorher haben wir keine Zeit. Morgen sind wir mit den Vorbereitungen für die Hochzeit und die Reise beschäftigt.«
»Stimmt.« Ich schaute auf den Kalender an der Wand. Der 18. Mai war rot eingekringelt. Übermorgen. Als ich den roten Kreis gezogen hatte, war mir die Zeit bis dahin noch so lang erschienen.
Als ich mit dem Essen fertig war, legte ich meine Stäbchen ab und stützte das Kinn in die Hände.
»Und was soll ich jetzt machen?«
»Denkst du daran, das Haus aufzugeben?«, fragte Miwako mit einem leichten Zögern.
»Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich es vermieten? Aber ich will auf keinen Fall weiter hier wohnen. Es ist zu groß für eine Person.«
»Du solltest auch heiraten, Bruderherz. Immerhin bist du älter als ich.« Miwako setzte ein Lächeln auf.
Sie klang sehr entschlossen, und weil ich das merkte, wich ich ihrem Blick aus.
»Denk mal darüber nach.«
»Hm .«
Wir schwiegen. Miwako legte ihre Stäbchen beiseite. Ihre Schüssel war noch nicht leer, aber anscheinend hatte sie keinen Appetit mehr.
Ich schaute durch die Glastür in den Garten. Der Rasen war ein wenig zu lang. Außerdem wucherte überall Unkraut. Wenn ich das Haus vermieten oder verkaufen wollte, musste ich vorher einiges in Ordnung bringen. Aber wenn ich es wieder hübsch herrichtete, würde es mir umso schwerer fallen, mich davon zu trennen.
Soweit ich wusste, war unsere Familie einst sehr vermögend gewesen, auch wenn ich nichts von diesem alten Glanz zu spüren bekommen hatte. Mein Vater hatte sich immer glücklich geschätzt, als Angestellter einer Wertpapierfirma einen durchschnittlichen Lebensstandard aufrechterhalten zu können. Und auch das neue Haus, das er für sich und seine Familie gebaut hatte, war eher kleinbürgerlich. Mein Vater hatte geplant, dass in ihm ganz traditionell zwei Generationen zusammenleben würden. Die beiden Tatami-Zimmer im Erdgeschoss waren für meine Eltern gedacht, wenn sie alt würden, den ersten Stock sollte der Sohn oder die Tochter mit dem jeweiligen Ehepartner bewohnen. So hatte er es sich wohl erträumt. Ein durchaus vernünftiger Traum, wenn unser Leben nach Plan verlaufen wäre. Doch dann brach plötzlich ein Unglück, etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte, über uns herein.
Es geschah am Tag nach Miwakos Einschulung. Meine Eltern kehrten von dem Gedenkgottesdienst für einen Verwandten, weswegen sie nach Chiba gefahren waren, nicht mehr lebend zurück. Auf der Autobahn rammte ein Lastwagen den Käfer meines Vaters, der dadurch auf die Gegenfahrbahn geschleudert wurde. Meine Eltern waren sofort tot. Ihre Schädel wurden zertrümmert und ihre inneren Organe zerquetscht, weshalb vermutlich alles innerhalb einer Sekunde vorbei war.
Miwako und mich hatten sie an diesem Tag bei Bekannten in der Nachbarschaft gelassen. Der Mann, ein Kollege meines Vaters, machte mit uns und seinen eigenen Kindern einen Ausflug in den Toshimaen, einen Tokioter Vergnügungspark. Während wir dort Achterbahn und Karussell fuhren, wurde seine Frau von der Polizei über den schrecklichen Unfall informiert. Vermutlich war ihr übel bei dem Gedanken, uns Kindern die tragische Nachricht beibringen zu müssen. Ihr Gesicht war aschfahl, als sie uns bei unserer Rückkehr aus dem Vergnügungspark vom Unfall erzählte.
Später habe ich oft gedacht, was für ein Glück es war, dass der Kollege während unseres Ausflugs nie zu Hause anrief. So konnten meine kleine Schwester und ich uns ein letztes Mal sorglos und unbekümmert vergnügen.
Danach kamen wir zu Verwandten, jeder zu einer anderen Familie. Wahrscheinlich empfand man ein zusätzliches Kind als zumutbar, zwei hingegen waren dann doch zu viel.
Glücklicherweise hatten wir es bei beiden Familien gut. Meine ermöglichte mir sogar die Promotion. Unsere Ausbildung wurde vermutlich von der Lebensversicherung unserer Eltern bezahlt, aber ich wusste, dass Geld nicht alles ist, was man braucht, um ein Kind aufzuziehen.
In der Zeit, in der Miwako und ich getrennt...
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