Schweitzer Fachinformationen
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»Aber natürlich kommst du!«, hatte Ulla aus der Beratungsstelle gesagt.
Natürlich. Da passiert ja auch gar nichts Besonderes. Man trinkt lediglich ein bisschen Kaffee, und irgendjemand erzählt etwas, aber das Wichtigste ist ja sowieso nicht die Veranstaltung an sich, sondern überhaupt zu kommen. Networking. Die Möglichkeit, sich mit Leuten auszutauschen, die in derselben Situation sind.
Als ich das hörte, musste ich lachen.
»Und wie viele davon sind denn bitte in derselben Situation wie ich?«
Normalerweise werden die Frauen der Beratungsstelle nicht wütend, sondern setzen stattdessen einen tadelnden oder besorgten Gesichtsausdruck auf. Ullas Blick war beides zugleich: tadelnd besorgt. »Du weißt ganz genau, was ich meine. Wie geht's euch?«
»Erzähl du es mir.«
Ulla seufzte. Wieder derselbe Gesichtsausdruck.
»Wir ziehen dem Jungen jetzt erst mal seine Klamotten aus.«
Im darauffolgenden Monat ging ich wieder hin. Dieselben verdutzten Gesichter, aber diesmal sah ich auch Neugierde. Ich passte zu dieser Gruppe genauso gut wie ein Mädchen zu einem Weitpinkelwettbewerb.
Ich zog meinem Sohn seine Klamotten aus, warf einen Blick in die Windel, legte ihn dann auf den Schlafsack und setzte mich anschließend wieder mit schmerzendem Rücken auf diese dämliche, rosafarbene Gymnastikmatte. Verspätet schlüpfte schließlich auch Elli in den Raum und begann, Tilda den Schneeanzug auszuziehen.
Neben dem Couchtisch hielt dieses Mal eine Dentalhygienikerin vom Gesundheitszentrum einen Monolog. Sie war klein, hatte eine Prinz-Eisenherz-Frisur und verkündete mit finsterer Miene, dass man mit Snacks und Säften bereits die Zähne der unter Dreijährigen ruiniert. Weil es den Eltern nämlich total egal ist! Ohne Gewissensbisse verteilt man Schnuller und Fläschchen, und dann lässt man das Kind so lange daran rumnuckeln, bis die Zähne wie bei einem Karnickel aussehen.
In dem Moment hätte ich natürlich etwas entgegnen können, aber ich hielt den Mund.
»Und am schlimmsten ist das Küsschen Geben!«, fuhr die Frau wütend fort. »Man verteilt Küsschen, weil man das Baby ja so schrecklich lieb hat, und dadurch werden dann auch die Kariesbakterien von einem Mund zum anderen übertragen. Und wenn der Schnuller oder Löffel mal auf den Boden fällt, dann macht man sich erst gar nicht die Mühe, diesen unter dem Wasserhahn abzuspülen, sondern taucht ihn stattdessen lieber in den Bakterienpool im eigenen Mund!«
Oskars Schnuller fiel aus seinem Mund. Ich hob ihn auf, saugte ihn sauber und steckte ihn dann wieder zurück in seinen Mund.
»Unverantwortlich!«, polterte die Alte weiter.
Einige der Frauen sahen aus, als ob sie gleich ernsthaft in Tränen ausbrechen würden, und ein paar Kinder fingen dann auch tatsächlich an rumzuheulen, als ihre Mütter ihnen die Schnuller wegnahmen. Ich warf einen Blick auf die Uhr, holte das Milchfläschchen aus der Tasche und stellte es in die Mikrowelle.
»Die Kinder, die nur wenige Monate gestillt wurden, leiden häufiger unter Bissanomalien«, schwafelte die Frau weiter.
Die Mikrowelle machte Ping, ich nahm das Fläschchen raus, ging damit zurück zu Oskar und fütterte ihn.
Für die nächste Untersuchung in der Beratungsstelle kaufte ich aus purer Lust und Laune einen Tulpenstrauß und überreichte ihn Ulla. Sie freute sich, wunderte sich aber auch, war verwirrt. Ich grummelte irgendetwas davon, dass sie mir die Blumen im Laden regelrecht hinterhergeschmissen hätten. Hahaha. Doch wir wussten beide, dass ich ohne Ulla nie so weit gekommen wäre. Sie hatte viel mehr für Oskar und mich getan, als sie gemusst hätte oder nötig gewesen wäre.
»Du siehst schlecht aus«, bemerkte sie, holte eine Vase aus dem Schrank und stellte die Blumen hinein.
»Bin müde.«
»Brauchst du Hilfe?«
Die brauchte ich tatsächlich. Schlaf, Zeit für mich, Freizeit, Einsamkeit. Ich wollte aufs Boot, joggen, in die Kneipe, Sex haben.
»Ich komm schon klar.«
Ulla sah mich an, als ob sie mir kein Wort glauben würde, und notierte dann etwas im Kinderuntersuchungsheft.
»Vielleicht irgendeine Therapie? Wir haben hier im Gesundheitszentrum einen guten Psychologen.«
Ja. Das wäre .
»Hast du eigentlich etwas von Pia gehört?«
Oskar begann, auf meinem Schoß herumzuzappeln. Ich legte ihn an meine Schulter, klopfte ihm auf den Rücken, woraufhin er begann, an meiner Schulter zu nuckeln.
»Gestern hat er sich auf die Seite gedreht, und seitdem scheint irgendwie alles in seinen Mund zu wandern.«
Ulla streckte ihre Hand aus, nahm den Jungen auf den Arm.
»Eigentlich lernen sie mit fünf bis sechs Monaten, sich umzudrehen. Lass ihn ruhig neue Gegenstände entdecken, aber kontrolliert und sicher. Nichts Scharfes, nichts Ungeeignetes oder etwas, von dem sich kleine Teilchen lösen können. 6050 Gramm und 59,50 Zentimeter. Der Junge sieht gut aus, du schlecht. Was könnte man denn für euch tun?«
Was könnte man für uns tun?
Das dritte Networking-Treffen verpasste ich, weil ich dringend Wäsche waschen musste. Und als ich mich dann irgendwann an den Termin erinnerte, war es bereits nach elf und das Treffen schon zu Ende. Andererseits war der Ernährungstherapeut auch nicht so wichtig. Ich hatte nämlich im Laden solche Behälter gekauft, auf denen draufstand, welche Portionsgröße für welches Alter angemessen ist. Allerdings hatte ich noch nichts gekocht, was ich da reintun könnte. Ulla hatte es wirklich versucht: »Wenn du zum Beispiel Gemüsesuppe kochst, dann tu etwas davon beiseite und salze nur den Teil der Suppe, der für dich bestimmt ist. Es lohnt sich, Oskars Anteil in eiswürfelgroßen Behältern einzufrieren, dann hast du immer angemessene Portionen für ihn zu Hause .«
Keine Ahnung, wie mein Gesichtsausdruck dabei aussah, sie hörte jedenfalls auf weiterzureden.
Ich traf mich mit meinem Vater und meinem Bruder.
»Ich bin ein Onkel!«, verkündete Jan stolz. »Ich bin ein Onkel. Das da ist ein Baby. Und ich bin der Onkel von diesem Baby!«
»Ja, der bist du. Hat's dir Papa erzählt?«
Jan nickte.
»Ja, Papa hat's erzählt. Ich bin ein Onkel. Darf man mit dem Baby spielen?«
»Ja, aber sei bitte vorsichtig«, erwiderte ich, holte ein paar Spielsachen aus der Wickeltasche und gab sie ihm. »Das Baby darf man nicht hochheben. Lass das Baby auf dem Fußboden.«
»Baby auf dem Boden lassen«, wiederholte Jan und legte sich dann bäuchlings neben Oskar auf den Fußboden. Ich schaute meinen Bruder an und dachte daran, dass Oskar und er in fünf Jahren auf dem gleichen geistigen Niveau wären - der eine mit fünf und der andere mit fünfunddreißig. Kämen bestimmt gut miteinander klar.
»Wie geht's dir denn?«, fragte mein Vater.
»Bin müde. Irgendwann hab ich morgens mal gemerkt, dass ich in der Nacht aus Versehen Oskars Klamotten in den Mülleimer geworfen hab anstatt in den Wäschekorb.«
Mein Vater lachte nicht.
Ich war müde, einsam, gelangweilt. Ich wollte wieder zur Arbeit und auch mit anderen menschlichen Wesen reden anstatt nur mit herumsabbernden Zwergen. Ich wollte in der Kneipe sitzen, Bier trinken, am Wochenende lange schlafen, tagsüber im Bett herumliegen und mir die Herr der Ringe-Trilogie auf DVD anschauen. Ich wollte Sex am Sonntagmorgen haben und auch mal allein in der Sauna hocken.
Ich wollte allein sein. Ich wollte mit Oskar zusammen sein.
Eines Tages hörte ich jemanden hinter mir rufen.
»Wir haben denselben Weg«, keuchte die dunkelhaarige Frau vom ersten Networking-Treffen, während sie ihren Kinderwagen schnell neben meinen schob. Hieß sie nicht Elli?
Aus meinem Kinderwagen ertönte Oskars Gewimmer, eine seiner Backen war ganz rot, weil er gerade seinen ersten Milchzahn bekam. Zuerst schaute er Elli an, aber dann zog das kleine Mädchen im Kinderwagen neben ihm seine ganze Aufmerksamkeit auf sich - Hilda oder Tilda.
»Wie geht's?«
»Letztens war ich einkaufen und hab das Baby im Laden vergessen. Ich war schon beim Auto, als mir plötzlich einfiel, dass ich doch auch noch ein Baby dabeihatte, verdammt! Ich war ganz schön durcheinander.«
Elli lachte zwar, guckte allerdings ein bisschen merkwürdig.
»Darf ich dich mal etwas fragen? Ich hab dich schon oft im Einkaufszentrum und draußen gesehen, aber immer nur dich mit Oskar. Was ist eigentlich mit deiner Frau?«
»Tot.«
Warum zur Hölle war mir denn jetzt so etwas herausgerutscht? Elli sah aus, als ob sie sich für ihre Frage schämen würde, denn sie lief knallrot an und fing an zu stammeln.
»Entschuldige bitte. Ich hab gedacht .«
»Schon gut. Bin schon drüber hinweg.«
Verdammte Scheiße - Trauerbewältigung in fünf Monaten?
»Also, ich bin über den ersten Schock hinweg. Oskar und ich meistern unseren Alltag jetzt zu zweit.«
»Ich hätte gerne gefragt, was genau passiert ist und woran sie gestorben ist, aber ich hab mich nicht getraut!«, erzählte Elli. »Ich dachte, dass es wahrscheinlich bei der Geburt passiert ist. Oskar war damals doch nicht älter als fünf Monate, oder?«
»Ich hätte geantwortet, dass es bei der Geburt passiert ist. Oder bei einem Verkehrsunfall. Eins von beidem.«
Ich schob den Kinderwagen vor mir her und dachte über Pias Beerdigung nach. Bestimmt in der alten Kirche in Tuusula und die anschließende Feier dann in Krapis Hof. Anschließende Feier? Gedenkfeier. Oskar...
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