Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Er wurde weltweit bekannt und verehrt als der Mann, der Hitler widersprach, und machte nach dem Zweiten Weltkrieg als Gegner der Westbindung der BRD, der Wiederbewaffnung und der Atomrüstung von sich reden. Unzählige Straßen, Schulen und weitere Einrichtungen tragen seinen Namen: Martin Niemöller (1892-1984). Dieser Name steht für das Leben eines weltzugewandten evangelischen Christen und protestantischen Theologen, der hierzulande Gegenstand heftiger öffentlicher Kontroversen war, für seine Gegner ein Störenfried und Phantast, bei vielen anderen hoch geachtet wegen seiner aufrechten Haltung und seiner Bereitschaft zur Selbstkorrektur. Seit einigen Jahren bekunden Biographien aus vier Ländern (Deutschland, USA, Frankreich, England) und eine internationale Tagung ein neues Interesse an ihm. Mehrere deutsche Rundfunksender (DLF, NDR, WDR, HR, SR) erinnerten an ihn anlässlich seines 40. Todestages. Allem Anschein nach beginnt man erst jetzt, ihn mit seinen Brüchen, Widersprüchen und Neuanfängen kennenzulernen, nachdem die Prägekraft überlieferter (Feind-)Bilder und Heldennarrative nachgelassen hat.
Mit einer solchen Biographie wissen Teile der heutigen Erinnerungskulturen nichts anzufangen, die nur vorbildliche Helden, NS-Täter oder Opfer für erinnerungswürdig halten. Dass jeder Mensch ethische Ambivalenzen aufweist und niemand »ohne Sünde« ist, wird durch ein monströses Menschenbild geleugnet. Es legt Menschen ein für alle Mal auf ihre Jugendsünden fest und schließt aus, dass sie sich weiterentwickeln oder wandeln können. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime des Ostblocks, so stellt Christoph Cornelißen fest, sei in den Erinnerungskulturen vieler Länder Europas der »Übergang von einem politischen zu einem stärker moralischen Muster der Vergangenheitsbetrachtung«1 zu beobachten. Dabei verstärkt sich die Tendenz zur ethischen Vereindeutigung, wie nicht zuletzt zahlreiche Bücher und Artikel belegen, die sich mit >Wokeness< und >Political Correctness< beschäftigen.2 Gegen das woke Bemühen, auf Diskriminierungen sozialer Minderheiten aufmerksam zu machen und sie durch passenden Sprachgebrauch zu vermeiden, ist nichts einzuwenden. Problematisch daran ist die ideologische Verabsolutierung dieser Konstruktion, die dazu verwendet wird, Gegner zu identifizieren und niederzumachen.3 Man sagt anderen, was richtig ist, und fühlt sich gut dabei. Historiographie und Enthüllungsjournalismus werden zu Verbündeten, wo es gilt, bisher angesehene Personen vom >Denkmalssockel< zu stürzen. Auch Niemöller ist neuerdings so beurteilt und dargestellt worden.4 Mit einlinigen Deutungen (»Zerrbilder«), die ausschließlich den Nationalismus und fälschlich den Antisemitismus als Konstanten herausstellen, kommt man an diese Figur jedoch nicht heran.
Wer Niemöller in seiner Zeit begreifen will, braucht eine Geschichtsschreibung, die sich darum bemüht, ein selbstkritisches historisches Bewusstsein zu bilden.5 Ihr Ort kann nicht der moralische Hochsitz sein, sondern nur auf der Ebene ihrer Protagonisten, deren Reden und Handeln sie aus der damaligen Situation zu verstehen sucht. Sie gelangt zu historischer Erkenntnis, indem sie bereit ist, »sich auf die Fremdheit historischer Epochen einzulassen, ohne sie in der Sprache der Gegenwart zu belehren«, nicht »durch die willkürlich wirkende Rückprojektion gegenwärtiger Fragen«.6 Der von mir gewählte Forschungsansatz beruht auf der Einsicht, dass eine adäquate Biographie des Theologen und Kirchenmannes Martin Niemöller nur möglich ist, wenn die kirchen- und theologiegeschichtlichen Zusammenhänge berücksichtigt werden, in denen er handelte. Mitzubedenken sind die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen der Protestantismus in Deutschland sich seit der wilhelminischen Kaiserzeit bis in die 1980er Jahre ausgeformt und verändert hat. Daraus folgt: Niemöller muss aus seinem nationalprotestantischen Herkunftsmilieu als Pfarrerssohn verstanden und in seinem Hauptberuf als evangelischer Pastor, d. h. als Prediger und Seelsorger wahrgenommen werden, der sich im Kirchenkampf in kirchenpolitische Auseinandersetzungen hineinbegeben und dafür einen hohen Preis gezahlt hat. Sein Verhalten nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich nur von dieser Vorgeschichte her begreiflich machen. Die Geschichte des kämpferischen Protestanten Niemöller zu erzählen, erfordert daher Reflexion der eigenen Voraussetzungen und kritische Solidarität. Das schließ distanzlose Verehrung aus, verbietet aber auch, ihn post festum vor ein Tribunal zu stellen.
Ein Feld, auf dem heute Zeithistoriker und Theologen darüber streiten, wie die jüngere Kirchengeschichte angemessen zu betrachten sei, ist die Geschichte der Evangelischen Kirche im Nationalsozialismus (NS). Die Probleme bündeln sich beim Versuch, den Kirchenkampf und die Rolle Martin Niemöllers vor und nach 1945 adäquat zu erfassen.
Zur Interpretation des Kirchenkampfes: Die lange maßgebende Vorstellung, die Evangelische Kirche im >Dritten Reich< sei eine Bekennende Kirche im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Deutschen Christen als überzeugte Nazis in der Kirche gewesen, wird heute nicht mehr aufrechterhalten. Der Kirchenhistoriker, der sie nach Kriegsende prägte, der Bielefelder Pfarrer Wilhelm Niemöller (1898-1984), hatte wie sein Bruder Martin 1933 Hitler begrüßt. Neben Martin war auch er eine prominente Figur im Kirchenkampf gewesen, woraus sein Interesse erwuchs, eine familiennahe heroische Geschichte der Bekennenden Kirche zu schreiben. Seine Arbeiten zur Geschichte dieses Kampfes weisen jedoch blinde Flecken auf. Nicht nur, dass sie den Erfolg Hitlers gerade bei protestantischen Wählern ausblenden und über die christliche Judenfeindschaft schweigen; man bemerkte auch, dass sie nur eine kleine Gruppe, die Bekennende Kirche, in den Mittelpunkt der Geschichte stellen, ohne die anfängliche Verstrickung ihrer führenden Vertreter in die Naziideologie7 zu erwähnen. Um es mit dem US-amerikanischen Historiker Robert P. Ericksen zu formulieren: Wilhelm Niemöller vertrat »eine Minderheitsposition«, genauer »eine Minderheit innerhalb einer Minderheit, jene oft als >radikaler Niemöller-Flügel< bezeichnete Fraktion im Kirchenkampf.«8
So begründet die Abkehr der neueren Geschichtsschreibung von seinem Geschichtsbild ist, sie sollte nicht dazu verleiten, den Kirchenkampf lediglich als Kampf zwischen kirchlichen Fraktionen innerhalb der Evangelischen Kirche zu begreifen und auf jede theologische Beurteilung, was darin auf dem Spiel stand, zu verzichten. Gisela Kittel hat auf die inzwischen gängige Praxis profaner Historiker hingewiesen, den Kirchenkampf als innerkirchlichen Streit verschiedener Gruppen um die Macht zu interpretieren, der nicht nach außen gewirkt habe.9 Sie verkennen dabei, dass es in diesem Streit um das Kirche-Sein von Kirche ging, d. h. darum, was Kirche als Kirche konstituiert und unverwechselbar auszeichnet.10 Der Kirchenkampf war nicht bloß ein interner Machtkampf, »ein Bruderkampf im eigenen Haus« oder ein »Kampf zweier konträrer protestantischer Glaubensrichtungen um die Vorherrschaft in der Kirche«,11 sondern, wie Kittel zu Recht betont, ein Kampf »darum dass die Kirche Kirche bleibt und sich nicht verseuchen lässt durch eine völkische, nationalistische, rassistische Ideologie, dass nicht der Götzendienst in die Kirche einzieht und an die Stelle des einen Gottes und Vaters Jesu Christi ganz andere Mächte treten und sie beherrschen«.12 Wer gegen wen gekämpft habe, sei dabei nicht die entscheidende Frage. Denn der Kampf um die Kirche
»fand je nach den aktuellen Herausforderungen angesichts verschiedener Fronten statt, gegenüber der Gottgläubigen-Bewegung, dem Neuheidentum, Alfred Rosenberg, den Deutschen Christen und der von diesen vertretenen NS-Ideologie. Er wurde oft genug auch in den eigenen Herzen der später Widerstand Leistenden ausgetragen, die - in deutsch-nationalem Geist aufgewachsen - erkennen mussten, wie ihre Werte pervertiert und ideologische Forderungen über die christlichen Gebote oder an ihre Stelle gerückt wurden. Für Betrachtungsweisen, die nur Helden/Heldinnen im Widerstand oder jubelnde Mitläufer und Neutrale kennen, sind solche Wandlungen nicht von Bedeutung.«13
Es war Martin Niemöller, der sich im Kirchenkampf entschieden für bekennende Gemeinden aussprach. Er hatte im Frühjahr 1934 erklärt, der Kampf gegen das Gewaltregiment in der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) sei »ein Ringen um die bekenntnismäßige Haltung und das evangeliumsgemäße Handeln in unserer Kirche«.14 Pfarrern und Laien gemeinsam stelle sich die Gemeinde als Aufgabe. Kirche könne »nur aus der Gemeinde heraus werden«.15 Ein solcher Neuansatz sei aber nicht mit einem Luthertum zu gewinnen, das Zurückhaltung übe »gegenüber einer freien Laienbetätigung« und das »Amt« überbetone.16 Niemöller setzte darauf, die Gemeinde um Gottes Wort zu sammeln, d. h. mit Kirche im reformatorischen Sinn Ernst zu machen. Eine Lehre von der Kirche, mit der man den Herausforderungen des Nationalsozialismus hätte begegnen können, gab es im deutschen Protestantismus jener Zeit nicht. Deswegen musste die Bekennende Kirche (BK) ekklesiologisch neu ansetzen: konstitutiv für Kirche sei nach evangelischem Verständnis das Bekenntnis zu Jesus Christus. Dessen Identität lässt sich nur durch unvoreingenommenes Hören auf das Zeugnis der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments bestimmen. Darum kann keine völkische, nationalistische und rassistische Ideologie für die Kirche verbindlich sagen, wer Jesus Christus...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.