Aus finsteren Jahren
Sinn und Form, Sonderheft Thomas Mann
1965
Noch heute träume ich mitunter, daß ich die neue Nummer des Deutschen Volksecho umbrechen muß und nichts - aber auch nichts! - von dem, was geschrieben werden müßte, ist geschrieben, nicht die Vereinsnachricht und nicht die Glosse, nicht der Leitartikel und nicht der politische Bericht, und nicht eine Zeile der englischen Seite. Der Setzer wartet, der Metteur. Die Presse - wir druckten in einer winzigen armenischen Druckerei, deren Meister kein Wort Deutsch und kaum Englisch verstand - war nur auf Stunden zu haben; war die kostbare Zeit verstrichen, konnte überhaupt nicht gedruckt werden. Ein Aufschrei . Und statt in New York, um zwei Uhr morgens, neben der klappernden Setzmaschine, wache ich in meinem Berliner Bett auf, achtundzwanzig Jahre nach meinen Ängsten.
Nur wer selbst Redakteur war, wird solche Alpträume verstehen. Und selbst in diesem Falle - die Arbeit an einer antifaschistischen deutschsprachigen Wochenzeitung in New York in den Jahren 1937 bis 1939, ohne ständigen Redaktionsstab, ohne Pressedienst, Archiv, Bilderdienst, Honorarfonds, wird normalen Journalisten an normalen Blättern zu normalen Zeiten unvorstellbar bleiben. Unvorstellbar wird ihnen bleiben der Dr. Geismayr, der ohne einen Cent zu erhalten als Redaktionsvolontär mitarbeitete und den ich mit Gewalt nach Hause expedieren mußte, nachdem ich in einer Umbruchnacht eine Blutlache auf seinem Korrekturschemel fand. Unvorstellbar die Redaktionssekretärin Hilde Schott, von der ich heute noch nicht weiß, wie sie damals ihre beiden Kinder ernährte; unvorstellbar die Arbeitslosen, die jeden Mittwoch kamen, die Zeitungen adressierten und verpackten, bis die Postsäcke fertig waren - für ein Dankeschön und einen Kaffee in einer Papptasse. Da konnte man nur Chefredakteur sein, wenn man vierundzwanzig war, elastisch, ans Hungern gewöhnt, und keine Ahnung hatte von journalistischen und politischen Gefahren. Chefredakteur - welch schöner Titel für zwölf Dollar die Woche (sofern die vorhanden waren), und wenn man soeben den Anzeigentext einer Möbeltransportfirma in Yorkville (Anzeige einspaltig, ein Zoll hoch) geschrieben hatte und sich nun eine Analyse der englischen Außenpolitik unter Chamberlain vornahm oder etwa loszog, um Thomas Mann zu interviewen.
Zu den Gründern des Deutschen Volksecho gehörten der Nationalökonom Professor Alfons Goldschmidt, der Anwalt und ehemalige preußische Justizminister Dr. Kurt Rosenfeld, der Arzt Dr. Joseph Ausländer. Emigranten oder »alteingesessene« Deutschamerikaner, waren sie alle an einer Zusammenfassung der deutschsprachigen antifaschistischen Kräfte in den USA und an einem energisch geführten Kampf gegen die örtlichen Hitleristen interessiert, gegen den »Amerikadeutschen Bund« in New York, New Jersey, Chicago, Los Angeles, San Franzisko, Texas. Die zahlenmäßig geringe organisatorische Basis des Volksecho fand sich in linken Gruppierungen der Arbeiter-Gesangsvereine und der Arbeiter-Kranken- und -Sterbekasse (es gab damals keine staatliche Sozial- oder Krankenversicherung in den Vereinigten Staaten; die Krankenkasse, wie man sie kurz nannte, war eine freiwillige Versicherungsorganisation). Ich sehe diese deutschamerikanischen Arbeiter noch vor mir - Männer wie den Stukkateur Eric Sanger aus Brooklyn, die Metallarbeiter Gustav Merkel und Max Schiffbauer aus New Jersey, den Krankenkassenfunktionär Blohm -, wenn sie in die Redaktion kamen und ein paar Dollar ablieferten, die sie auf Veranstaltungen der Arbeiterorganisation gesammelt hatten. Es lag etwas Rührendes und doch auch Großartiges in ihrer Vereinsmeierei; hier hatte sich noch etwas vom Geist der Achtundvierziger Emigration und des Kampfes gegen das Sozialistengesetz gehalten, gerade weil man vom Hauptstrom der deutschen Entwicklung abgekapselt als Gruppen und Grüppchen in amerikanischer Umgebung lebte; es läuft eine nicht unwichtige Nebenlinie von Marx und Engels über Weydemeyer und Schurz zu den Opfern des Haymarket, zum internationalen 1. Mai, zur modernen amerikanischen Gewerkschaftsbewegung.
Wir übernahmen die Abonnentenliste der kleinen kommunistischen Wochenzeitung Der Arbeiter und hofften auf einen Zusammenschluß mit der sozialdemokratischen New Yorker Volkszeitung, die gleichfalls wöchentlich erschien. Die deutschen Sozialdemokraten in den USA, gestützt von noch weiter rechts stehenden Gewerkschaftsgruppen besonders der Bekleidungsindustrie, waren jedoch finanziell mehr als gesund und sahen auch politisch keinen Grund für eine Vereinigung mit Leuten, die so idealistisch waren, daß sie gegen alle Ströme gleichzeitig schwammen. Wenn wir uns auf Kritik an den Nazis beschränkt hätten - gut und schön. Aber wir bestanden darauf, auch die Dinge in den USA von links zu sezieren und die sowjetische Politik, wo immer wir konnten, zu verteidigen. So ergab sich eine Einheitsfront auf einem Bein - auf die Dauer keine bequeme Position.
Um so höher ist es Thomas Mann anzurechnen, daß er von Anbeginn der Existenz des Volksecho uns seine moralische und tätige Unterstützung gab. Das kann nicht der Effekt der wenigen Briefe gewesen sein, die wir ihm schrieben; wer die Artikel liest, die er im Volksecho veröffentlichte, die Reden, die er in jener Zeit hielt und die wir abdrucken durften, der wird erkennen, daß der Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen aus politischer Maxime handelte; wie denn der Thomas Mann jener Jahre überhaupt ein verblüffend politischer Mensch war mit Einsichten, von denen wir heute noch lernen können.
Ich bin dankbar, daß mir drei fast vollständige Jahrgänge des Volksecho durch meine Abenteuer und Wanderungen hindurch erhalten blieben. Meines Wissens existiert nur noch ein anderes Exemplar: in der New Yorker Public Library. Aus den vergilbten Blättern spricht eine ganze Zeit - eine Zeit der Kämpfe und der Niederlagen, aber auch der Zähigkeit und der Hoffnung, die sich schließlich erfüllen sollte. Und wenn es nur wegen der sonst verschollenen Worte Thomas Manns wäre, die so erhalten blieben - es hätte sich gelohnt.
1939, zwei Wochen nach Abschluß des Nazi-Sowjet-Paktes, stellte das Volksecho sein Erscheinen ein. So verständlich der Pakt im Rückblick auch erscheint, so sehr die Ursache seines Zustandekommens auch in Paris und London gelegen haben mag - es wirkte lähmend auf die gesamte antifaschistische Bewegung im Westen.
Dieser Lähmung erlag das Deutsche Volksecho in New York. Die an ihm mitarbeiteten, kämpften jedoch weiter gegen den Faschismus, zum Teil mit der Waffe in der Hand. Die Vernichtung Hitlers, der Sieg der Demokratie und des Sozialismus auf einem beträchtlichen Teil des Globus ist auch der Sieg dieser Handvoll von Menschen, die in einer dunklen Zeit ein kleines Licht leuchten ließen.
In meinem Elternhaus war der Künstler eine Respektsperson, der Dichter gar, dessen Wort gedruckt, dessen Name auf einem Buchrücken eingeprägt war, eine Art Hohepriester. Thomas Mann galt unter den Hohepriestern als der höchste; in der Rangordnung, die sich im Kopf des Knaben gebildet hatte, saß er an der Spitze der Tafel; weit unter ihm Wassermann und Werfel, Stefan Zweig und Schnitzler, von solch weltlichen Typen wie Vicki Baum und Remarque gar nicht zu reden. Thomas Mann war Distanz, unerreichbar; Olympier zu Lebzeiten; schon die Art seines Schreibens, seine Sätze, die man verfolgen mußte wie Ariadne-Fäden, schlossen jede ordinäre Annäherung aus, obwohl da auch Freundliches sprühte, ein Augenzwinkern, Ironie, aber doch die Ironie eines ganz Großen.
Das Bild des Unnahbaren ist mir geblieben, auch heute, nachdem mein Beruf es mit sich brachte, daß ich eine Anzahl der anderen Hohepriester in Hemdsärmeln, und manchmal noch stärker déshabillé, kennenlernte. Auch heute, lebte er noch, würde ich Thomas Mann gegenüber die Scheu empfinden, die ich bei den kurzen Begegnungen in New York fühlte. Dabei war er eigentlich, wenn ich mich recht erinnere, gar nicht stuffy, gar nicht der Aristokrat, zu welcher Rolle ihn Abkunft und Leistung berechtigten. Er war vielmehr sachlich und durchaus nahbar und, oh, Überraschung, fast leidenschaftlich, wenn er von Dingen sprach, die ihm ans Herz rührten.
Er war ein überzeugender Sprecher. Grundlos war die Befürchtung, daß er zu dem Arbeiterpublikum, das wir ihm bieten konnten, die Brücke nicht würde schlagen können. Dabei machte er keine Konzessionen, vereinfachte er weder Satzkonstruktionen noch Gedanken, und nichts war ihm ferner als Theatralik. Der dunkle, markante Kopf hielt den ganzen Saal in schweigendem Bann. Und die Wärme des Beifalls zeigte, daß man in ihm mehr sah als den großen Schriftsteller, den Schicksal und wohl auch Einsicht in eine verrauchte Arbeiterhalle geführt hatten - man sah den Mitkämpfer.
Die Jahre, in denen Thomas Mann seine Reden und Aufsätze dem Volksecho zum Abdruck überließ, gehören zu den finstersten der europäischen Geschichte. Es sind die Jahre, da Hitler »von einem Siege über das Nichts, über die vollendete Widerstandslosigkeit, zum anderen getragen wird«, da in Spanien sich ein Krieg abspielt, der »gar zu empörend, verbrecherisch und widerwärtig« ist, da Österreich und die Tschechoslowakei dem Aggressor zum Fraß vorgeworfen werden, so daß »das freie deutsche Wort heute in Europa nur noch in der Schweiz laut werden kann, und wer weiß, wie lange auch nur dort noch« und »es nachgerade fast allein in der Hand des Deutschamerikanertums...