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Aufzeichnung Kadletz: Anfänge
Dauernd umgeben von den verschiedensten Geräuschen, sind wir uns, da werden Sie mir beistimmen, ihrer kaum je bewußt. Wirklich wahrnehmen werden wir sie nur dann, wenn wir aus einer inneren Unruhe heraus oder auch aus einer Art wissenschaftlichem Interesse unser Augenmerk auf sie richten oder wenn ein ungewöhnlicher Laut unser Ohr trifft, ein besonders schrilles Klingeln, ein Schrei, ein Krachen - oder wenn sie plötzlich aufhören. Ganz verstummen sie natürlich nie; immer bleibt ein fernes Echo, ein verhallender Schritt, oder war es der eigene, der die Stille, die da eingetreten ist, um so auffälliger werden läßt.
Frieden.
Nach wie langer Zeit . Denn wann dieser Krieg eigentlich angefangen hatte, das wußte schon keiner mehr so richtig, wahrscheinlich begann er bereits mit den Fackelzügen der Uniformierten durch die Städte des Reiches und mit den gellenden Aufrufen der Führer.
Und dann diese unvorstellbare Stille. Aber Sie haben das ja wohl selber miterlebt, wenn auch an anderem Ort und unter anderen Umständen. In der vergangenen Nacht, pünktlich um null Uhr, so hatten sie im Radio angesagt, waren die Feindseligkeiten eingestellt worden - Feindseligkeiten, was für ein außerordentlich zurückhaltendes Wort für so viel Blut. In solcher Stille ist man versucht, nachzudenken: wie alles war und wie es geschehen konnte, auch wie es gekommen sein mag, daß man selbst noch lebt, trotz Verhaftung, Verhören, Konzentrationslager oder, andersherum betrachtet, gerade deshalb. Das nie mehr, hatte Bertha mir gesagt, als ich von dort zurückkam, ich bin deine Frau, hatte sie gesagt, und ich verlange von dir, daß du dich von jetzt an ruhig verhältst, die haben die Macht, das siehst du doch, und es kommt mir kein unbedachtes Wort mehr aus deinem Mund, nichts, was sie reizen könnte, du tust deine Arbeit, wenn du welche kriegst, und wartest, bis sie dich vergessen. Und es gab ja auch keinen mehr, mit dem zusammen sich etwas hätte unternehmen lassen, eine kleine Stadt, dieses Schwarzenberg, keine dreizehntausend Einwohner damals, jeder beobachtete jeden, nicht mal ein Gespräch kam zustande. Da sah ich schließlich ein, so schwer es mir auch fiel, daß Überleben alles war. Es war sogar eine revolutionäre Pflicht: überleben, bis der Tag käme.
Das Sonderbare war nur, ob Sie es mir nun glauben oder nicht, daß der Tag gekommen war, und ich wußte es nicht. Nur diese Stille war um mich, und ich fragte mich, wo sind denn auf einmal die Leute? Und in dem Moment sagte eine Stimme: »Sind Sie nicht Herr Kadletz?«
Der Fragesteller mußte mein Erschrecken wohl bemerkt haben, denn er lachte leise und sagte: »Was starren Sie so, ich bin kein Gespenst.«
Ich sehe ihn noch vor mir, wie er da stand, vor dem Haus am Marktplatz, dürre Silhouette gegen die hellgrauen blechernen Rolläden, die an dem Tag heruntergelassen waren und so die Kleiderpuppen hinter den Schaufenstern verbargen, und wie er sich auf das Mädchen an seiner Seite stützte, das merkwürdig geistesabwesend zu sein schien und nur lebendig wurde, wenn es ihn anblickte. Ich spürte, daß ich ihn eigentlich kennen müßte, aber in welcher Gestalt hatte ich ihn einst gekannt, gewiß nicht in dieser, mit dem schütteren, an den Schläfen schon ergrauten Haar und dem ausgezehrten Gesicht, in dem die dunklen Augen wie die Höhlen in einem Totenschädel wirkten.
»Paula«, sagte er, »geh hin zum Herrn Kadletz und begrüß ihn.«
Das Mädchen löste sich von ihm und trat auf mich zu in ihren viel zu großen, abgetragenen Männerschuhen, auf welche die Hosenbeine in dicken Querfalten herabhingen, stellte den rechten Fuß hinter den linken und knickste vor mir mit einer Grazie, wie ich sie nur bei den Ballettänzerinnen gesehen habe, vor vielen Jahren einmal, in der Oper in Leipzig.
»Vielleicht heißt sie auch gar nicht Paula«, sagte er. »Vielleicht heißt sie Elisabeth oder Margit oder Undine; wer will das wissen.«
»Weiß sie es denn nicht?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Da war das große Feuer in Dresden«, sagte er, und nichts weiter, nichts darüber, was nun hätte folgen müssen: ob und wie er selbst in das große Feuer geraten war, und ob er Paula oder Elisabeth oder Margit oder Undine dort aufgegriffen hatte oder ob sie ihm zugelaufen war, und wo sie sich beide in der Zwischenzeit aufgehalten hatten. Statt dessen, und so als hätte er's erst jetzt entdeckt, betrachtete er unter rotgerandeten Lidern hervor das breite Ladenschild über den Rolläden, Goldbuchstaben auf schwarzglänzendem Glas, Hermann Reichert, Herren- und Damenkonfektion, und mir fiel das Schild ein, das früher dort gehangen hatte, vor der Nacht, in der die Schaufensterscheiben zertrümmert wurden, ein ganz ähnliches Schild, nur lautete der Name des Besitzers anders, nämlich Noah Wolfram, und in dem Augenblick wurde mir klar, wer da vor mir stand, den Arm schützend um die Schultern des offensichtlich gemütsgestörten Mädchens gelegt: der Max, der junge Wolfram, der vor vierzehn Jahren aus dem Haus hier am Marktplatz von Schwarzenberg fortging, nach Berlin, um dort Philosophie und Sozialwissenschaft zu studieren.
Also auch einer, der's überlebt hatte. Was sagt man so einem Menschen, an so einem Tage?
Er war weltgewandter als ich, wie er denn überhaupt sich meistens als klüger und weitsichtiger erwies als die anderen. Er umging die Wiedererkennungsszene, indem er sagte: »Ja, der Herr Reichert. Ich hoffe, es ist ihm wohl bekommen.«
»Warum läuten Sie nicht an seiner Tür?« sagte ich. »Verlangen Sie, daß er Ihnen die Differenz erstattet zwischen dem wirklichen Wert des Ladens und dem, was Reichert Ihrem Vater seinerzeit gezahlt hat, nach der Kristallnacht, und nachdem man Ihrem Vater das Haar geschoren und ihn auf den zweirädrigen Karren gesetzt hatte, den Ihre selige Mutter dann den Marktplatz hinauf und durch die Straßen gezogen hat, weil sie ihren Mann nicht allein lassen wollte in einer solchen Stunde, und dabei war sie selbst gar nicht jüdisch gewesen.«
Der Max krümmte sich wie im Schmerz. Offenbar hatte er diese Einzelheiten nicht gekannt. Ich dachte, nun wird er doch bei Reichert an der Tür läuten, aber er sagte: »Wie soll einer zahlen für zwei Menschenleben, und in welcher Währung bitte?« Und dann: »Glauben Sie nicht, Herr Kadletz, daß es jetzt Wichtigeres zu tun gibt, als mit einem Mann wie Reichert abzurechnen?«
Wichtigeres, dachte ich. Gewiß. Reichert war ja nur einer von den Kleinen gewesen, ein Nutznießer, kein Täter. Wichtiger, dachte ich, sind der Ortsgruppenleiter Lippold und der Bürgermeister Dr. Pietzsch und der dicke Scharsich, der Gestapo-Chef, der mir zwei Zähne ausschlug, und der Herr Direktor Münchmeyer, dem die Werkzeugmaschinenfabrik am Orte gehörte und der in diesen Jahren, begünstigt von seinem Freunde Mutschmann, das Geld nur so gescheffelt hatte.
»Das Wichtigste«, sagte Wolfram, als hätte er meine Gedanken gelesen, »das Wichtigste in diesem Augenblick ist die Macht.«
Das Wort Macht, wie Sie wissen, kann in den Köpfen der Menschen sehr verschiedenartige Assoziationen erzeugen, je nachdem, wie man zu ihr steht. In der Zeit, die an dem Tag endete, von dem ich Ihnen gerade berichte, erschien sie in meiner Vorstellung meistens als ein Paar Schaftstiefel, die einen Grashalm zertreten; aus Wolframs Mund aber klang das Wort bereits anders und rief andere Bilder hervor, hatte wohl auch eine andere Bedeutung.
»Die Macht«, verkündete er, »liegt auf der Straße.«
Ich blickte unwillkürlich hinüber zum Ratskeller, wo gestern noch die Kommandostelle des Generals von Trierenberg gewesen war, mit bewaffneten Posten und geparkten Kübelwagen und Meldern, die auf Krafträdern herbeigebraust kamen; jetzt war der Eingang verschlossen und vergittert, und hinter den Fenstern rührte sich nichts.
»Man muß sie nur ergreifen, die Macht!« forderte er mit plötzlicher Intensität; dabei bildeten sich rote Flecken auf der Haut über seinen hervorstehenden Wangenknochen.
Als ob er irgend etwas ergreifen, geschweige denn festhalten könnte in seinem Zustand. »Kommen Sie doch erst einmal mit zu mir, Herr Wolfram«, schlug ich vor, »die Kleine auch.« Zugleich überlegte ich, was wir denn überhaupt in der Küche hätten, Bertha und ich, daß ich es wagen konnte, ihr auch noch Fremde ins Haus zu bringen. Im März und April schon war das dem Menschen laut Lebensmittelkarte Zustehende nicht mehr geliefert worden, nicht einmal dieses wenige, und wer keine Beziehungen zum Bauern und nichts von Wert zu verscheuern hatte, der hungerte eben.
Er setzte sich taumelnd in Bewegung; Paula, oder wie sie auch heißen mochte, stützte ihn wieder, von rechts, während ich seinen linken Ellbogen nahm. »Das ist das Fieber«, entschuldigte er sich, »die Nächte da oben in den Wäldern waren doch noch recht kalt .« Und mit einer Kopfbewegung zu dem Mädchen hin: »Sie hat mich gewärmt, und sie brachte auch immer etwas Eßbares angeschleppt, sie hat eine Nase dafür, wo etwas zu finden ist, und stiehlt hervorragend.«
Der anerkennende Ton schien bis in ihr Bewußtsein zu dringen; die starren Gesichtszüge belebten sich, und sie stieß kleine juchzende Laute aus. »Gute Paula«, sagte er, »brave Paula.« Aber da hatte sie sich schon abgewandt und blickte wieder stumpfsinnig vor sich hin. Es fiel mir schwerer, als ich erwartet hatte, ihn bis zu meiner Wohnung zu bringen, trotz Paulas Hilfe. Seine Glieder bewegten sich wie die einer an zu losen Schnüren geführten Marionette; bei jeder Steigung des Weges lief ihm der Schweiß übers Gesicht; und am...
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