Rede zum 1. Mai
DGB-Kundgebung in Frankfurt am Main
1991
Vor etwas über hundert Jahren, 1886, rief die Federation of Organized Trades and Labor Unions of the United States and Canada, wie der Verband der amerikanischen Gewerkschaften damals hieß, für den 1. Mai zu einem allgemeinen Streik für den Achtstundentag auf. In Chicago ruhte die Arbeit in vielen Betrieben, 25 000 Arbeiter, eine Riesenzahl für jene Zeit, demonstrierten auf Straßen und Plätzen. Zwei Tage später kam es vor den McCormick-Werken für Erntemaschinen zu Zusammenstößen zwischen Arbeitern auf der einen und Polizei und Streikbrechern auf der anderen Seite; die Arbeiter wurden blutig zusammengeschlagen. Daraufhin rief der Gewerkschaftsverband der Stadt, die Central Labor Union, zu einer Protestdemonstration auf; diese fand statt auf dem Haymarket von Chicago und verlief durchaus friedlich, sogar der Bürgermeister nahm an ihr teil.
Kaum aber hatte der sich entfernt, explodierte eine Bombe und tötete einen Polizisten. Bis heute weiß niemand, wer diese Bombe geworfen hat; wohl ein Provokateur; aber die Behörden des Staates Illinois nahmen die Sache zum Anlass, um die bekanntesten Gewerkschaftsführer von Chicago zu verhaften und vor Gericht zu zerren, wo vier von ihnen, drei Deutsche, Spies, Engel und Fischer, und der gebürtige Amerikaner Parsons, zum Tod durch den Strang verurteilt wurden.
Ich lese Ihnen aus der Zeitung »Vorbote«, die damals in Chicago erschien, den Bericht vom 12. November 1887 über die Vorgänge im dortigen Gefängnis:
Um 11.50 ertönten dumpfe Schritte durch den Korridor. Deputy Bailiff Cahill ersuchte die Anwesenden, ihre Häupter zu enthüllen, und kaum war dieses geschehen, als auch schon die Prozession sichtbar wurde. Durch die Fenster fielen die Sonnenstrahlen auf die Häupter der Märtyrer, und wie ein Glorienschein sah es sich an, als dieselben die Stufen emporstiegen.
Mit festem Schritt stellte sich Spies unter die erste Schlinge, dann kam Fischer, dann Engel, und zuletzt Parsons. Hinter jedem derselben stand ein Deputy, der ihnen die Schlinge um den Hals legte. Fischer und Engel warfen einen lächelnden Blick auf die Umstehenden, Spies und Parsons standen ruhig und gefaßt da. Nicht ein Muskel bewegte sich in ihren Gesichtern, als ihnen der Strick um den Hals gelegt wurde. Parsons sagte hierbei: »Die Schlinge ist zu fest.« Als man ihnen die Kappe über den Kopf zog, neigte sich Fischer zu Spies und flüsterte ihm etwas ins Ohr, während Engel lächelnd dem hinter ihm stehenden Deputy »goodbye« sagte.
Da erscholl Spies' kräftige Stimme: »Angesichts der Würger des Gesetzes wird mein Schweigen fürchterlicher sein als irgendwelche Worte, die ich äußern könnte.« Eine Pause, die durch Engels Stimme unterbrochen wurde, »Hurrah für die Anarchie!« - »Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens!«, rief Fischer aus, und dann hörte man Parsons Stimme: »Soll ich sprechen, dann: Ihr Männer und Frauen Amerikas!« Hier unterbrach ihn der Henker, worauf er ausrief: »Soll die Stimme des Volkes nicht -«
Ein Krachen. Der Mord war begangen.
Wenig später beschlossen die Gewerkschaften Amerikas und Europas, zum Gedenken an diese Männer und diese Ereignisse, und als Ansporn im Kampf um den Achtstundentag und um gerechten Lohn und für die anderen Ziele der Gewerkschaftsbewegung, den 1. Mai zum Feiertag der Arbeiter zu erheben; und ich erzähle Ihnen die Geschichte hier, weil ich glaube, daß viele von Ihnen sie längst vergessen oder auch niemals gehört haben - und weil das, was die Arbeiter an jenem 1. Mai vor mehr als hundert Jahren bewegte, uns heute immer noch bewegt: der Kampf um soziale Gerechtigkeit, konkret, für die Rechte derer, die nichts zu verkaufen haben als die Geschicklichkeit ihrer Hände und die Ideen in ihren Köpfen.
Wie viele sind gefallen in diesem Kampf, wie viele Opfer wurden gebracht, zu allen Zeiten und in allen Ländern, manches wurde erreicht, manches wieder verloren; und nach wie vor geht es, wenigstens im Westen Deutschlands, um Löhne und Arbeitsbedingungen, also um einen halbwegs gerechten Anteil am Produkt Ihrer Hände und Ihrer Gehirne; aber im Osten unseres Landes schon nur noch sehr bedingt um dieses, sondern um Arbeit schlechthin.
Welcher Fortschritt, der plötzlich über uns gekommen ist dank der Gier einiger nach schnellem Profit: eine drohende Arbeitslosigkeit, unerhört in der Geschichte der Neuzeit - 50 Prozent, die Hälfte aller Arbeitsfähigen in den sogenannten neuen Bundesländern, ohne Beschäftigung und angewiesen auf das, was die Regierung Ihnen hier, meine Freunde, so Sie selber noch in Arbeit und Brot stehen, für den guten Zweck aus der Tasche zieht.
Denn glauben Sie doch nicht, daß Sie in der alten Bundesrepublik ungeschoren davonkommen werden. Nachdem die Regierung nämlich, in Gestalt der Treuhand, das Vermögen des Volkes - das gab es im Osten ja, volkseigenes Land, volkseigene Gebäude, volkseigene Betriebe, in welchem Zustand auch immer - dem Volk, welches dieses Vermögen zu großen Teilen mit eigener Hand geschaffen, unter dem Hintern wegeskamotiert und billig verschachert oder gar zerstört hat, werden Sie jetzt zur Kasse gebeten, und zwar, weil es zwischen den Ost- und den Westbürgern Deutschlands, hören Sie den O-Ton des großen Vorsitzenden Dr. Kohl, auf das menschliche Miteinander ankommt.
Die Krise, die der Dr. Kohl nicht wahrhaben möchte und die aus einer ostdeutschen zu einer gesamtdeutschen zu werden scheint - wirtschaftlich, sozial und moralisch -, ist nicht, ich wiederhole, nicht die Folge der unblutigen Revolution, die in der DDR das alte Regime hinwegfegte, und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die darauf mit historischer Logik, und mit Gorbatschows Hilfe, zustande kam; sondern der Art und Weise, wie diese Vereinigung durchgeführt wurde.
Statt den Brüdern und Schwestern die Chance zu geben, ihr zugestandenermaßen ziemlich ramponiertes Haus ein wenig in Ordnung zu bringen, bevor man gemeinsame Sache mit ihnen machte, wurden Haus und Bewohner, wie von einem Riesen-Bulldozer, ins Wirtschaftswunderland hineingeschaufelt, eine einzige Konkursmasse, abgespeckt, abgewickelt, abgewrackt, Menschen und Werte, beides, und nicht einmal der Ostmarkt, der ja bleiben sollte, wird bleiben; denn wer keine Arbeit hat, fällt bekanntlich nicht nur als Produzent, sondern auch als Käufer aus.
Und Sie, meine Freunde, werden die Entwicklung noch viel härter als bis dato zu spüren bekommen: denn wer drüben im Osten jüngeren Jahrgangs ist und die Kraft hat und die Initiative, der wird sein Bündelchen schnüren und, nicht länger gehemmt von irgendwelchen Mauern und Grenzposten, hierher zu Ihnen kommen, als Pendler, als Schwarzarbeiter, als Lohndrücker, als Streikbrecher gar, als Konkurrent jedenfalls, und die relativ anständigen Bedingungen, die Ihre Gewerkschaften in langen Jahren zäher Bemühung sich erkämpft haben, werden zerbröckeln, wenn Sie der Bedrohung nicht sofort begegnen.
Wenn die Vereinigung der zwei deutschen Staaten eines unter Beweis gestellt hat, dann die enorme Kapazität der westdeutschen Industrie und Landwirtschaft, und ihre rücksichtslose Geschäftstüchtigkeit. Gehen Sie in irgendeinen Laden in der ehemaligen DDR, irgendein Warenhaus, eine Kaufhalle, und betrachten Sie die Regale: Sie werden kaum etwas finden, was örtlich produziert wurde; sogar die Westhühner müssen für den Osten mitlegen - von Elektronik, Kleidung, Automobilen gar nicht zu reden.
Es hat sich seit der Einführung der gemeinsamen deutschen Währung etwas gezeigt, was bis dahin kaum bedacht wurde: daß nämlich bei einigem Fleiß und guter Organisation Sie hier in Frankfurt am Main und Ihre Kollegen in der alten Bundesrepublik mit Ihren Waren und Gütern den ganzen Osten mitversorgen können, mit Ausnahme von ein paar Diensten vielleicht, die dort noch an Ort und Stelle geleistet werden müssen. Es stellt sich heraus, daß nach der Einführung der freien Marktwirtschaft in die ehemals durch die Mauer geschützten Gebiete so gut wie die gesamte arbeitende Bevölkerung dort im Grunde überflüssig geworden ist; in den Köpfen der entscheidenden Leute in Industrie und Wirtschaft zählt sie nur noch als Markt, und entsprechend stiegen ja auch im vergangenen Jahr die westlichen Umsätze.
Aber bedenken Sie: Das sind ja Menschen, die da mitsamt ihren Betrieben und Institutionen plattgewalzt werden! Millionen Menschen, die früh nicht mehr zur Arbeit gehen dürfen und am Monatsende keinen Lohn mehr nach Haus bringen, Männer wie Frauen, die von einem Tag zum nächsten selbst die bescheidene Befriedigung entbehren müssen, die für den einzelnen durch Betätigung in Gemeinschaft mit anderen entsteht. Statt Arbeit, die einen Sinn für Zusammengehörigkeit erzeugt und die anerkannt wird durch Lohn und Gehälter: Nichtstun und Vereinsamung und das tötende Gefühl der Nutzlosigkeit. Die Hälfte der arbeitsfähigen Menschen in der Ex-DDR - verurteilt zu dieser Art von Mangelexistenz, materiell und seelisch!
Ich bin alt genug, um die Wirtschaftskrise, die 1929 begann, bewußt miterlebt zu haben, samt ihren fürchterlichen menschlichen und politischen Folgen: Faschismus und Weltkrieg. Und dabei war der Prozentsatz der Arbeitslosen in der Weimarer Republik erheblich niedriger, als er dieses Jahr noch im Osten des Landes sein wird. Und ich gestehe Ihnen, ich habe Angst, und ich wünschte, daß bei den Vereinigungsverhandlungen im Vorjahr wenigstens einer den Mut gehabt hätte, das Recht auf Arbeit, das in der Verfassung der DDR festgeschrieben war, auch für das...