Prolog
»Verrückte Idee!«
»Ja? - Was ist so verrückt .?«
»Dies alles!« Lenz wies auf die schwarzen Sträucher, dann glitt seine Hand über das Feld, das sich grau und trübe in der aufsteigenden Dämmerung des Februarnachmittags streckte, über die Reste von Schnee auf dem Hügelzug, hinter dem noch mehr Gräber lagen. »Friedhof! Meilenweit Friedhof!«
»Schließlich mußte man sie ja irgendwo begraben«, antwortete ich. »Warum nicht, wo sie starben?«
Lenz runzelte die Stirn. Er schlug den Kragen seines Wintermantels hoch. ». und geloben wir hier feierlich, daß diese Toten nicht umsonst gestorben sein sollen«, sagte er. Das Lachen, das die Düsterkeit des Zitats aufhellen sollte, glückte nicht ganz. Die Schatten über diesem Ort waren zu schwer.
Ich bekämpfte das leichte Frösteln, das mir den Rücken hinunterkroch und an dem das Wetter schuld war. Ich wollte etwas sagen über vergangene Zeiten und daß wir im Jahre 1944 lebten, daß wir unseren eigenen Krieg hätten und unsere eigenen Sorgen.
»Natürlich mußte man sie irgendwo begraben«, fuhr er fort und verzog spöttisch das schmale, empfindsame Gesicht. »Aber müssen wir ausgerechnet dort hausen, wo sie begraben sind?«
Damit hatte er recht. Wir redeten niemals darüber, doch in der einen oder anderen Form hatte der Gedanke daran die meisten Leute in der Kompanie mehr als einmal geplagt. Man gewöhnt sich an vieles in der Armee; die Offiziersgehirne haben besondere Windungen; doch was hier geschah, besaß einen ganz eigenen, faden Geschmack: Männer, die man in kommende Schlachten schicken wollte, unter den Toten einer vergangenen Schlacht unterzubringen!
Oh, Gettysburg! Schmetternde Trompeten! Das dumpfe Dröhnen von Pferdehufen auf den Schollen dieser Erde - Atta - a - acke!
Und das erbarmungslose Krachen der Geschosse und das Knirschen der Bajonette, die in Fleisch und Knochen stießen!
Wir schliefen in ein paar verfallenen Baracken, die seinerzeit die Jungens vom Civilian Conservation Corps gebaut hatten, als sie hierhergeschickt worden waren, um den Friedhof zu säubern und die Arbeitslosenlisten während der großen Depression niedrigzuhalten. Jetzt schluckte die Armee die Arbeitslosen, Gott sei Dank, und Sergeant Andrew Lenz und ich, die Gewehre über die gekrümmten Schultern gehängt, spielten Patrouille auf den Schlachtfeldern vergangener Jahre.
»O Gott!« seufzte er. »Ich setze mich hin.«
Vom Standpunkt der Bequemlichkeit aus hatte das Patrouillieren auf einer gut erhaltenen nationalen Gedenkstätte seine Vorteile. Hier gab es Bänke, die durch sorgsam angepflanzte Hecken vorm Wind geschützt waren; im Sommer war es sicher sehr nett hier, mit schattigen Winkeln rings um ein paar alte, gewissenhaft gepflegte Kanonen und einem guten Blick auf einen schönen großen Grabstein, von dem man Namen, Dienstgrad und Einheit ablesen konnte.
Lenz wischte Schmutz und Feuchtigkeit von einer Ecke der Bank, setzte sich und streckte die Beine aus. Er stellte das Gewehr zwischen die Knie, nahm den Helm ab und hängte ihn über die Mündung. Schweißfeuchtes dunkles Haar klebte ihm auf der Stirn. Er hatte eine hohe, wohlgeformte Stirn und schiefergraue, meistens nachdenkliche Augen. Ich hatte den Verdacht, daß er Gedichte schrieb oder wenigstens geschrieben hatte; aber derartiges war ihm nie in den Sinn gekommen, versicherte er mir, und die Vermutung schien ihn zu befremden. Er war Drucker von Beruf; wahrscheinlich haben Drucker etwas von einem Intellektuellen an sich.
Jetzt hefteten sich diese seine Augen auf den Grabstein. Ich sah, wie er erstarrte. »Schau dir das an!« sagte er. »Ich will verdammt sein!«
Seine Stimme hatte etwas Eindringliches, das im Widerspruch zu seiner lässigen Redeweise stand: etwas Eindringliches, das beinahe an Furcht denken ließ. Ich blickte auf den Stein, auf die Namen. Das Tageslicht wurde langsam schwächer, aber man konnte die Aufschrift auf der Gedenktafel noch erkennen. Gleich der erste Name hieß:
ANDREW LENZ
Capt, Co. B, 3rd Illinois Inf.
Sergeant Lenz lachte; es klang hohl. Er brauchte die Frage nicht zu stellen; das konnte ich selbst tun, da ich wußte - wie wir alle es wußten -, daß die Invasion kurz bevorstand und daß wir dabeisein würden. Wie würde es dir, so lautete die Frage, bei einer solchen Aussicht gefallen, plötzlich deinen Namen unter den Toten zu entdecken?
Man brauchte nicht abergläubisch zu sein; der winzige Überrest uralter Atavismen, den jeder von uns seit unvordenklichen Zeiten im Blute trägt, genügt, um Unheil vorauszuahnen. Natürlich sagte ich Lenz, daß das Unsinn sei. Lenz war kein seltener Name, besonders unter Menschen deutscher Abstammung; und Männer namens Andrew gab es auf der ganzen Welt, Andrew, Andreas, André, Andruschka - warum sich aufregen?
»Red nicht so dumm«, sagte er. »Das ist mein Großvater.«
Er lehnte Gewehr und Helm gegen die Bank und ging hinüber zu dem Grab. Während er es forschend betrachtete, fuhr er, mit dem Rücken zu mir, fort: »Meine Familie hat immer gewußt, daß er Captain im Bürgerkrieg war und hier gestorben ist. Bloß man stellt sich Großpapa nicht immer als Soldaten der Unionsarmee vor. Ich war einfach nicht darauf gefaßt, ihm hier und auf diese Weise zu begegnen .«
Er wandte sich um und sah mich an. Es war schon recht dunkel geworden.
». so ohne Warnung«, schloß er, jetzt mit fester Stimme. Nur seine Augen zeigten eine Spur dessen, was er empfunden haben mußte. »Andrew Lenz«, sagte er und fügte hinzu: »Der andere - er war wohl noch nicht vierzig, als es ihn erwischte. Wir haben irgendwo zu Hause ein Bild von ihm - ein Mann mit Bart und breitkrempigem Offiziershut. Er sieht etwas verlegen aus - wahrscheinlich haßte er es, sich in Positur zu stellen. Aber das Bild ist schon reichlich verblaßt.«
Er griff nach seinem Gewehr.
»Gehen wir?«
Man mußte es Lenz - dem heutigen Lenz - hoch anrechnen. Er barg dieses Erlebnis tief in sich und ließ es nur einige wenige Male nach außen dringen. Die Ereignisse halfen. Krieg bedeutet Veränderung - Veränderung des Schauplatzes, Veränderung der Menschen, jeden Tag eine neue Art von Dreck, eine neue Art von Stumpfsinn, und dazwischen sehr vereinzelt ein bißchen menschliche Größe, um einem zu zeigen, daß doch nicht alles umsonst ist. Doch dieser Moment in Gettysburg ließ weder ihn noch mich ganz los - er blieb zwischen uns, ein Geheimnis, das wir beide teilten. Es schuf eine Bindung zwischen uns. Es veranlaßte mich, ihn den ganzen Krieg hindurch mit einer gewissen Besorgnis zu betrachten: einmal, an jenem trüben Nachmittag im Februar, hatte ich den Finger des Schicksals deutlich auf ihn weisen sehen. Ich wollte nicht, daß es sich bestätigte, ich wollte nicht daran glauben, und ich glaube noch immer nicht daran - aber jedesmal wenn ich ihn traf, nach unserer Landung in Europa, und irgendwo in Frankreich, und dann in Deutschland, fühlte ich mich erleichtert. Unsere Arbeit brachte uns häufig auseinander; immer wenn neue Gefangene von irgendeiner Einheit gemeldet wurden, mußte der eine oder andere von uns fort, um sie zu vernehmen. Es dauerte Tage und Wochen und manchmal Monate, ehe wir uns wiedersahen. Und wenn wir uns dann begegneten und ich auch nicht eine Schramme an ihm entdeckte, lachte ich gewöhnlich und sagte: »Na, wie steht's damit?« Und er wußte, und ich wußte, daß die Frage sich auf Andrew Lenz bezog - den anderen Lenz - daheim in Gettysburg, der nichts weiter war als ein Name auf einem Stein. Wirklich und wahrhaftig nichts weiter.
Und dann sprachen wir über ihn. Es war wie ein innerer Zwang. Wir mußten es tun, um den Schatten des Todes, der seit jenem Nachmittag in Gettysburg über Lenz - dem heutigen Lenz - schwebte, auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Nach und nach erinnerte er sich an einiges von dem, was sein Vater ihm über seinen Vater erzählt hatte; von einer unserer Begegnungen zur anderen erfuhr ich immer mehr über den Mann, der auf jenem alten Schlachtfeld neben der alten Kanone die letzte Ruhe gefunden hatte; bis ich ihn schließlich ganz klar vor mit hatte, obwohl aller Wahrscheinlichkeit nach nicht er es war, den ich sah, sondern der Lenz, der mit mir zusammensaß - die Konturen unseres Denkens werden im allgemeinen von den Perspektiven unserer eigenen Zeit bestimmt.
Lenz - der andere - hatte den Taufnamen Andreas und war 1849 in die Vereinigten Staaten gekommen; er brachte eine Frau mit, jung wie er selbst, auch schön auf eine gewisse verfeinerte Art, und von ihnen beiden anscheinend das stetigere Element. Sie hatte die Hosen an; so stellte es Lenz - der heutige Lenz - dar. Das Ehepaar hatte mehrere Kinder, von denen das jüngste, der Vater meines Lenz, nach dem Tode von dessen Vater geboren war. Lenz - der Lenz, der tot in Gettysburg lag - versuchte sich in vielen Dingen und scheiterte in genauso vielen. Eine Zeitlang gab er eine deutschsprachige Zeitung in Chicago heraus. Er hatte auch für ein städtisches Amt kandidiert, 1856 glaube ich, und erlitt eine knappe Niederlage. »Ein Radikaler!« meinte Lenz und zuckte die Achseln, so wie man heutzutage mit den Achseln zuckt über Propheten und Hellseher und ähnliche Lieferanten von Allheilmitteln gegen die Übel dieser Welt. Als man begann, den Nachlaß von Captain Andrew Lenz durchzusehen, der, wie Lincoln es ausgedrückt hatte, dafür gestorben war, daß die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk...