Erstes Kapitel
Sie liebte Grandmaman.
Grandmaman lag in ihrem Bett, riesige Kissen unter dem Kopf; die Nase, scharf wie ein Schnabel, schimmerte gelblich im Lampenlicht. Grandmaman hatte sie hierhergebracht aus Nizza, aus dem Wirbel der Bälle, Empfänge, Regatten, Blumenkorsos mitten in das steife, enge, winterliche Berlin. Bei euch wird ihr noch völlig der Kopf verdreht, hatte sie zu Papa gesagt; Zeit, daß das Mädchen in feste Hände kommt. Und Papa, stets froh, wenn man ihm Verantwortung abnahm, hatte zugestimmt.
»Hélène«, sagte Grandmaman, »komm her.«
Helen trat gehorsam ans Bett. Sie spürte den prüfenden durchdringenden Blick; Grandmaman, eine gebürtige Wolff, hatte wiederum einen Wolff, einen entfernten Cousin, geheiratet; die Wolffs betrachteten die Welt und die Menschen mit nüchternen Augen, die stets sofort den eignen Vorteil erkannten. Sonderbar, dachte Helen, daß mein Blut zur Hälfte ihres sein soll. Ich sehe nicht aus wie sie. Ich ähnle ganz Papa.
»Raff das hoch.« Grandmaman wies auf eine Spitzenrüsche. »Man erkennt auch so genug von deinem Busen.«
Helen tat ihr den Gefallen. Grandmaman vergaß gerne, daß die junge Dame, deren Tugend sie da bewachte, schon mit dreizehn Jahren einem vierzigjährigen sardinischen General anverlobt gewesen war. Der General hatte sich in eine Miniatur von ihr verliebt. Auf den behaarten säbelbeinigen Kriegshelden war bald ein in Villafranca stationierter russischer Seeoffizier gefolgt; und auf diesen ihr jetziger Verehrer, ihr walachischer Mohr, ihr Yanko von Racowitza.
Grandmaman lachte in sich hinein. »Schöne Unruhe wirst du da stiften.« Ein Wink mit dem Finger. »Küß mich.«
Helen drückte einen Kuß auf die dünnen, trockenen Lippen, die über dem Zahnfleisch nach innen fielen; Grandmaman nahm zur Nacht ihr Gebiß heraus. »Bleib nicht auf meinetwegen«, bat Helen.
»Du weißt, daß ich nicht einschlafe, bis du zu Haus bist. Spätestens um Mitternacht kommst du zurück!«
»Grandmaman« - Helen wandte sich von ihr, daß die Röcke wirbelten - »ich bin großjährig.«
Grandmaman rief: »Ein Narr bist du. Dein Herz wirst du dir noch brechen - und den Hals dazu.«
Schwer atmend lehnte sie sich in die Kissen. Mitunter war ihr, als hätte sie zuviel auf sich genommen; aber dann wieder hoffte sie, daß die Vernunft, die das Mädchen von der Wolffschen Seite der Familie ererbt haben mußte, die allerschlimmsten Torheiten verhüten würde.
Alles war in Bewegung geraten.
Der irre König, unter dem die Zeit stillgestanden hatte, war tot, und sein Bruder, der Prinzregent, trug nun die Krone. Eine neue Ära, hieß es. König Wilhelms Gedanken mochten nicht weiter reichen als die eines fähigen Kompaniefeldwebels, aber er war wenigstens geistig normal. Die Industrie, die das Herzgebiet Preußens erst so spät erreicht hatte, erwartete eine Blütezeit, und der solide Geschäftsmann reckte die Schultern und begann, von Freiheit zu reden.
Äußerlich hatte sich wenig geändert - bis man durchs Oranienburger Tor nach Norden gelangte, in die Vorstädte. Dort wuchsen die neuen Werkstätten und Maschinenfabriken aus den kahlen Feldern, und der Rauch und Ruß ihrer Schornsteine verpestete die Luft; dort, inmitten fahler, überarbeiteter Männer und Frauen, gingen die Agitatoren um und säten Mißtrauen, Aufsässigkeit und Aufruhr - der übelste unter ihnen der elegante Dr. Lassalle. Im eigentlichen Berlin jedoch lagen die Straßen still wie immer; die neuen Gaslaternen warfen grellweiße Lichtkreise auf den kehrichtbedeckten Schnee und auf die müden Gäule, die gelegentlich eine Mietsdroschke vorbeizogen.
Im Hause Bonseri fand eine jener Soireen statt, wo Aristokraten und Künstler, Staatsbeamte und Journalisten, Militärs und Großkaufleute zwanglos zusammentrafen und wo von gewöhnlicher Kuppelei bis zur hohen Politik einige der gewagtesten Geschäfte der preußischen Hauptstadt geplant und abgeschlossen wurden.
Geheimrat Bonseri hielt sich bei den Spieltischen auf; allgemein glaubte man, daß er an solchen Abenden zwei- oder dreimal soviel gewann, wie ihn Speisen, Wein und Bedienung kosteten. Madame Bonseri, ein ältlicher Schmetterling, flatterte von Gruppe zu Gruppe, sorgte sich um die Wünsche ihrer Gäste, hielt Feinde getrennt und brachte die Konversation in Gang, wo sie steckenzubleiben drohte. Ein Streichtrio, welches der berühmte Dirigent Hans von Bülow freundlicherweise beschafft hatte, spielte diskrete Weisen; später würden, besonders für die jüngeren Gäste, die Walzer und Mazurken, die Lanciers und die Schottischen folgen.
Helen kannte die Wirkung ihres Auftritts: die Blicke der Männer, das Stocken der Unterhaltung. »Ma chère M'selle Dönniges!« zwitscherte Madame Bonseri. »Darf ich Ihnen vorstellen« - Namen, Titel, Gesichter; goldne Tressen, schwarze Krawatten, weiße Spitzen; Hacken schlugen zusammen, Lippen berührten ihre Finger - unter dem leisen Gezisch der Gaskandelaber verschmolz das zu einer Art Glanz. Natürlich war es nicht Nizza oder Turin; ein paar der Herren erschienen ihr wie mit Sägemehl ausgestopft; auch ihr selbst fehlte der Glorienschein, den sie im Gefolge des Königlich Bayrischen Gesandten am Turiner Hofe und als dessen Tochter besessen hatte. Alles war mehr hausbacken hier; sogar die Dichter und Maler standen auf einer Gehaltsliste und sahen wie Handwerksmeister aus.
Sie war sofort von bewundernden jüngeren Herren umringt. Wann war sie nach Berlin gekommen, was hatte sie für Pläne, was hielt sie von Ausflügen im Pferdeschlitten, und war ihr Meyerbeer nicht lieber als Wagner? Sie antwortete ruhig und überlegen: Sie war nicht zu ihrem Vergnügen in Berlin. Sie hörte Kollegs an der Königlichen Universität, soweit Damen zugelassen waren. Sie studierte Malen und Bildhauerei. Ja, sie ging auch zu Konzerten. Das Theater besuchte sie leidenschaftlich - oh, da drüben war ja Madame Formes, war sie nicht herrlich gewesen als Lady Macbeth? - ich muß unbedingt mit ihr sprechen, Sie entschuldigen mich bitte .
Augusta Formes saß dahingegossen auf einem Kanapee, neben ihr, weltmüde, Hans von Bülows exzentrische Gattin Cosima. Cosimas Fächer klappte zusammen, wies in bestimmte Richtung. »Und wer wäre das?«
Darauf Helens überschwengliches: »Augusta!«
»Ach, Helen.« Außerhalb der Bühne gab sich Augusta Formes untheatralisch und trug die frühen Fältchen mit scheinbarer Gleichgültigkeit. »Cosima«, stellte sie vor, »hier haben wir Helen von Dönniges.«
Cosima betrachtete Helen und dachte an das eigne unschöne, viel zu lange Gesicht und die Spuren, die die Leidenschaft darauf zu hinterlassen begann. Widerwillig rückte sie zur Seite. »Sie sind auch Schauspielerin?«
»Ich wünschte, ich wäre.« Helen lächelte süß. Cosima von Bülow, flüsterte man sich zu, hatte sich bereits durch die halbe deutsche Musikwelt hindurchgeliebt und würde nicht ruhen, bis sie auch die andere Hälfte beglückte.
»Ein kluges Mädchen, unsre Helen.« Augusta Formes betonte klug. »Und sie wird es noch weit bringen, mit dem rechten Mann zur Seite .«
»Wie liebenswürdig Sie sind, Augusta.« Helen erwog jedes Wort. »Vielleicht habe ich ein bißchen zu leichtsinnig gelebt bisher.«
»So hübsch und so einsichtig« - Cosima berührte ihr Kinn mit der Spitze ihres Fächers - »und mit einer solchen Figur!«
Ein Dragoneroffizier kam vorbei.
»Ah, Korff!« Die Formes winkte ihn heran. »Rittmeister Korff!«
Der Rittmeister, schwarzes Schnurrbärtchen, schwarzes, sorgfältig frisiertes Haar, hochmütige, etwas verderbte Augen, wandte sich ihr zu.
»Korff«, sagte die Schauspielerin, »Sie müssen dies Wunderwesen kennenlernen, das da unter uns gefallen ist. Baron von Korff - Fräulein von Dönniges. Korff hat eine Tochter von Meyerbeer geheiratet; die Judenmädchen haben einen zivilisierenden Einfluß auf die preußische Armee, meinen Sie nicht auch, Baron?«
»Die Liebe«, der Rittmeister verbeugte sich leicht, »setzt sich über alle religiösen Grenzen hinweg. In meinem Fall hab' ich dadurch eine charmante Gattin - heute leider indisponiert - gewonnen sowie die Erfahrung, daß es in der Musik nicht nur die Töne gibt, die mein Schwadronstrompeter bläst.« Wie auf Stichwort begann das Trio mit einem Walzer. Korff stand da, als zählte er den Takt.
»Dieser stammt nicht von Ihrem Schwiegervater«, bemerkte Cosima.
Korffs Schnurrbartenden stiegen in die Höhe; er grinste. »Aber tanzen läßt er sich. Mademoiselle von Dönniges - wenn Sie möchten .?«
Er war kein schlechter Tänzer. Helen schloß die Augen; seine Orden klirrten leise, seine Sporen lauter. Jemand sagte: »Immer der Korff - greift sich das Beste -, wer ist sie eigentlich .?« Dann entfernte sich die Stimme.
»Mademoiselle -«
Sie sah zu ihm auf mit großen Augen - ein Blick, den manche Leute für einstudiert hielten.
»Mademoiselle, etwas höchst Unsinniges kam mir in den Kopf, als ich Sie da sitzen sah, eine Knospe zwischen zwei - sagen wir - voll erblühten Rosen: so taufrisch, so - wie soll ich's ausdrücken .?«
Ein Antrag, dachte Helen. Bis nach dem Champagner wenigstens hätte er warten können.
». so außergewöhnlich. Welch teuflisch vollkommene Kombination von Seele und Geist und Leib, sagte ich mir .« Er hörte auf zu tanzen, führte sie zur Seite. »Hier läßt sich nicht sprechen. Im blauen...