Erstes Kapitel
»Janoschik! Janoschi-i-i-i-k!«
Die schrille Altmännerstimme des Barkeepers hallte durch den engen Gang, der von der Bar ein Dutzend Stufen hinab zur Toilette führte.
Janoschik öffnete langsam die Tür und brummte zurück: »Was ist denn schon wieder los?«
Der Barkeeper holte Atem. Jetzt würde er diesem Janoschik endlich mal die Meinung sagen. »Immer treibst du dich oben herum, wenn ich dich nicht brauche. Aber wenn ich dich brauche, kann ich mir den Hals heiser schreien. Los, mach mal 'n bißchen rasch! Und bring Eimer und Besen mit!«
Janoschik knurrte etwas und warf die Tür zu.
Ihm gefiel die Ruhe hier unten. Jedesmal, wenn ein Gast die Tür aufmachte und an ihm vorbei in die Toilette ging, fühlte Janoschik sich gestört durch den Schwall von Lärm, den der Gast von oben mitbrachte - Stimmen und Melodienfetzen aus dem Grammophon.
Ihm gefiel die Ruhe hier. Er brauchte Ruhe und Zeit, denn er war ein ordentlicher und etwas langsam denkender Mann, der seine oder eines anderen Eindrücke und Ideen vornahm und sie umwandte und drehte und von allen Seiten betrachtete, bevor er sie in genau bestimmten Fächern seines Gehirns verstaute. Hatte er aber einmal etwas dort verstaut, so war er in der Lage, es zu jeder Zeit herauszuholen und es geschickt und systematisch in der Praxis anzuwenden.
Janoschik beeilte sich nicht. Er beeilte sich nie. Von all den Menschen, die ihn kannten, konnte keiner sich erinnern, ihn je in Eile gesehen zu haben. Sogar unten in der Grube in Kladno, als der Schacht einsackte und die Kumpel verzweifelt aufschrien oder wie Mäuse in der Falle herumliefen, beeilte er sich nicht. Er suchte sein Werkzeug zusammen, weil er glaubte, es vielleicht noch brauchen zu können. Er stellte das Licht in der Lampe so ein, daß die Batterie möglichst geschont wurde. Dann wartete er, bis die Männer um ihn die Lage begriffen hatten und aufhörten mit dem Lärm. Und in dem schrecklichen Schweigen, das auf die Katastrophe folgte, trat er vor, bereit, die Führung zu übernehmen.
Janoschik beeilte sich nicht. Er hörte, wie der Barkeeper schon wieder nach ihm rief.
Er holte Besen, Eimer und Scheuerhader aus dem Abstellraum, dann füllte er den Eimer mit Wasser aus der Leitung über dem Ausguß und begab sich nach oben, langsam, mit schwerem, gemessenem Schritt.
Es war gut, daß seine Füße gewohnt waren, fest auf dem Boden zu stehen, denn die Treppe heruntergetorkelt kam ein Mann in deutscher Offiziersuniform. Der Offizier, verglasten Auges und käsig blaß, angelte nach Halt. Seine Hand fand Janoschiks breite Schulter.
»Immer schön langsam, mein Bester!« sagte Janoschik. »Halten Sie sich nur geradeaus - Sie können gar nicht dran vorbeigehen.«
Aber der Betrunkene rutschte an Janoschiks Leib entlang nach unten, bis er auf der Treppe saß. Dann begrub er sein Gesicht in den Händen und fing an zu schluchzen - ein lautes, wimmerndes, lächerlich weibisches Schluchzen.
Ein heulendes Stückchen Elend - aber Janoschik empfand keinerlei Mitleid. Er zuckte die Achseln und ging weiter.
»Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr kommen!« begrüßte ihn der Barkeeper. »Ich bitte um Verzeihung, die Herren!«, und er bewegte entschuldigend die Hände.
Die Gäste an der Bar machten Platz für Janoschik, der sich die Bescherung besah. Der Betrunkene, dem er auf der Treppe begegnet war, hatte sich offenbar hier oben erbrochen.
Janoschik drückte seine Mißbilligung durch ein halbes Kopfschütteln aus.
»Also los, aufwischen!« Die Stimme war scharf, und sie sprach deutsch.
Janoschik blickte auf, blickte direkt in das Gesicht eines Nazi-Offiziers.
»Aufwischen!« wiederholte der Barkeeper auf tschechisch und sprach weiter - laut, offensichtlich, damit die anderen Gäste es hören sollten: »Warum hast du so lange getrödelt? Von Rechts wegen müßtest du all die Herren hier um Verzeihung bitten, weil sie so lange auf dich warten mußten! Schließlich sind Bar und Grill im Café Parnaß doch kein Schweinestall!« Er lachte nervös.
Janoschik begann aufzuwischen. Der Offizier wandte sich an einen zweiten und sagte: »Faule Bande, diese Tschechen - verdreckt, liederlich, undiszipliniert. Brauchst dir nur den Kerl anzusehen.«
Der zweite Offizier zeigte kein Interesse für die Weisheiten des ersten. »Wir hätten den Glasenapp nicht mitnehmen sollen«, murmelte er. »Mit dem ist nichts los. Ein paar Schnäpse - und er wird sentimental und kotzt die ganze Bude voll.«
Der erste ließ sich nicht von seinem Thema abbringen. »Soll er kotzen, soviel er will. Die Tschechen wissen ganz genau, was ihnen passieren würde, wenn sie hier eine Lippe riskierten. Schau dir an, wie respektvoll und manierlich sie sind - sagen kein Tönchen, wagen nicht mal zu verduften. Mein lieber Marschmann, die haben wir großartig abgerichtet. Angst haben die, alter Junge, Angst, daß wir beleidigt sein könnten, wenn sie wagten, sich zu verdrücken!«
Er schrie: »Bäh!« und fing an hysterisch zu lachen, daß es ihn schüttelte.
Die Tschechen, alle Zivilisten, sowohl die an den Tischen wie auch die an der Bar, hatten aufgehört zu sprechen. Wie unter den besseren Bürgern Prags üblich - und die Stammkundschaft des Parnaß gehörte zu dieser Klasse -, verstand fast jeder Deutsch.
Ein gutgebauter junger Mann, der an einem Ecktisch gesessen hatte, erhob sich. »Kellner, die Rechnung!« Und zu seinem Begleiter gewandt, sagte er: »Ich denke, wir gehen, Prokosch. Stickige Luft hier.«
Der Offizier mit der ausgeprägten politischen Haltung ging unsicheren Schritts auf den jungen Mann zu. Am Tisch angekommen, richtete er sich auf: »Gestatten, Hauptmann Patzer. Und Sie sind?«
Der junge Mann verharrte in Schweigen.
»Wer Sie sind, habe ich gefragt!« wiederholte Patzer lauter.
»Mein Name ist Peter Lobkowitz.«
»Also, Herr Lobkowitz, Sie wollen uns doch nicht etwa verlassen, weil ich oder Leutnant Marschmann oder der arme Leutnant Glasenapp, der den lausigen Schnaps hier nicht vertragen konnte, Ihnen unsympathisch sind?«
Lobkowitz wußte nicht recht, wie er die provokatorische Frage beantworten sollte. Dieser Hauptmann Patzer war offensichtlich angetrunken. Was man auch immer sagte, es würde zu Unannehmlichkeiten führen, und Unannehmlichkeiten dieser Art führten zu raschem Eingreifen der Polizei - und die Polizei griff immer zugunsten der Deutschen ein.
»Ich habe eine Verabredung«, sagte er.
Patzer grinste. »Aber vorhin haben Sie doch gesagt, daß Ihnen die Luft zu stickig wäre.« Er hörte auf zu grinsen und trat dicht an Lobkowitz heran. »Wenn die Luft gut genug ist für mich und Leutnant Marschmann, dann ist sie auch gut genug für euch Tschechen. Klar?«
»Bitte schön«, sagte Lobkowitz.
»Na, sehen Sie, das ist schon besser.« Patzer wurde freundlich. »Ich würde mich freuen, wenn Sie darauf mit mir und Leutnant Marschmann einen trinken würden. Sehen Sie« - und er machte eine große Geste, durch die er sich an alle Anwesenden wandte -, »wenn ihr Tschechen euch vernünftig verhaltet, dann kommen wir schon miteinander aus - sehr gut sogar.« Der Hauptmann nahm Lobkowitz beim Arm und stolperte zurück zur Bar.
Janoschik, der den Fußboden immer noch säuberte, beobachtete das Ganze mit wachsendem Unbehagen. Niemand konnte voraussagen, was geschehen würde, wenn deutsche Offiziere es sich in den Kopf setzten, die tschechische Bevölkerung zu erziehen.
Außerdem befand sich unter den Gästen heute abend auch Breda, mit dem er zu sprechen hatte und der wohlbehalten wieder verschwinden mußte. Wie, wenn sich dieser Hauptmann Patzer jedesmal, wenn ein Gast gehen wollte, persönlich beleidigt fühlte?
Breda stand am Ende der Bar, so weit wie möglich von den deutschen Offizieren entfernt. Er nippte ruhig an seinem Bier.
Janoschik bückte sich nach dem Eimer. Als er sich wieder aufrichtete, begegneten seine und Bredas Blicke einander. Janoschik bewegte den Kopf leicht in Richtung der Tür zur Toilette, ein Zeichen, das nur für Breda wahrnehmbar war.
Auf dem Weg nach unten erinnerte sich Janoschik plötzlich, daß der betrunkene Offizier wahrscheinlich immer noch auf der Toilette war. Janoschik fluchte leise. Breda würde nach unten kommen, und sie würden nicht einmal miteinander reden können.
Aber zu seiner Überraschung fand Janoschik die Toilette leer. Er sah überall nach, aber der Betrunkene war tatsächlich nicht mehr da. Obwohl Janoschik das Schicksal des Kerls höchst gleichgültig war und sein ganzes Denken sich auf die Meldung richtete, die er von Breda erwartete, konnte er doch nicht völlig von dem Bild dieses Offiziers loskommen. Schließlich mußte dieser Glasenapp ja irgendwo sein!
Vielleicht war er durch die kleine Seitentür hinaus auf die Mole gegangen.
Sollte man nachsehen? Die Mole war nicht sehr breit, und es gab auch kein Geländer, das einen vor einem Sturz in die Moldau schützte.
Dieser kleine Seitenausgang zur Mole war einer der Gründe gewesen, die Janoschik veranlaßt hatten, die Stellung als Toilettenwärter und Faktotum im Café Parnaß anzunehmen. Ein weiser Mann, dachte Janoschik, sichert sich stets eine Rückzugslinie.
Überhaupt paßte so ziemlich alles am Café Parnaß zu Janoschiks Plänen. Er mußte eine Operationsbasis haben, wo man ihn besuchen und unauffällig mit ihm sprechen konnte. Und es ließ sich schon einiges besprechen und arrangieren, während man dem Besucher die Schuhe...