KAPITEL 1
Julia liebte ihren neuen Pelz.
Es war ihr, als hätte dieser Pelz ein eigenes Leben. Sie zog ihn dicht um sich, verkroch sich in ihm und spürte, wie seine Wärme eins wurde mit der Wärme ihres Körpers. Dabei hatte sie ein Gefühl des Geborgenseins, ein Gefühl, das weit zurückreichte in ihre Kindheit: damals, als sie eingehüllt gelegen hatte in weiche Decken wie eingesponnen in einen Kokon, und Stimmen in einem Ton, von dem ihr nur noch ein Echo geblieben, ihr Zärtlichkeiten zuflüsterten, deren Wortlaut sie lang schon vergessen.
Seit dem späten Nachmittag bereits hatte es geschneit; jetzt ließ der Schneefall nach. Die Flocken lagen glitzernd unter dem Schein der Bogenlampen, der die Straße und den Parkplatz vis-à-vis in eine silberne Fläche verwandelte, auf welche die Autos, die lautlos angefahren kamen, ihre Spuren zeichneten. Die Menschen, die sich über die Fläche bewegten, schritten wie auf einem dicken Teppich in Richtung der breiten Stufen zum Portal des Rathauses. Durch das Glas der Flügeltüren hindurch erkannte Julia den gewollt gleichgültigen Gesichtsausdruck der beiden jungen Leute In Schwarz, die diskret die Eintretenden musterten. Aber selbst dieses gehörte zu der festlichen Atmosphäre und paßte auffallend zu den bunten Lichtsegmenten, die durch die bleigefaßten Butzenscheiben der hohen gotischen Fenster schienen, und dem Rot und Gold der Fahnen, das sich so sauber von dem Weiß draußen abhob, und zu dem Rascheln des Tafts und der chinesischen Brokate der Damen, die solcherart bekleidet an ihr vorbeizogen.
Dann entdeckte sie Arnold; er winkte ihr vom Parkplatz her zu. Er trat vorsichtig auf, wollte offenbar vermeiden, daß ihm der Schnee in seine Lackschuhe geriet. Er trug keinen Hut; in der Tat besaß er gar keinen; an den wenigen Tagen im Jahr, wenn das Wetter in diesem Teil der Welt wirklich zu kalt wurde, um barhaupt ins Freie zu gehen, setzte er sich die alte Pelzmütze auf, die er aus Moskau mitgebracht hatte. Sein Haar war voll wie je; vor ein paar Jahren war es grau an den Schläfen geworden - sein Diplomatengrau, nannte er es, ohne mehr Wesens davon zu machen als von der Differenz zwischen ihrem Alter und seinem. Ihr Blick folgte ihm, wie er das Stück Straße überquerte, das für den allgemeinen Verkehr gesperrt war; die grünbemäntelten Polizisten, ob sie nun wußten, wer er war oder nicht, salutierten ihm, und mehrere der Gäste, die, in Anbetracht der Stunde, eine gewisse wohltemperierte Eile gezeigt hatten, blieben stehen, um ihn mit »Guten Abend, Genosse Sundstrom!« zu begrüßen oder »Wie geht's, Herr Professor?«
Julia war sich, während sie von der Vortreppe des Rathauses aus die Szene beobachtete, durchaus im klaren, wieviel Unterwürfigkeit sich in diesem Gebaren zeigte und wie deutsch das Ganze war; dennoch verschaffte es ihr auch Genugtuung: Schließlich gab es in dieser Stadt genug steinerne und zementene Zeugnisse für ihres Arnolds berechtigten Anspruch auf Anerkennung. Sie liebte ihn von ganzem Herzen in diesem Moment, und nicht so sehr um des Respekts willen, den man ihm allgemein entgegenbrachte, sondern weil er so überzeugt war von sich und seiner Tatkraft, so stark, so selbstsicher. Und so völlig der ihre, als er jetzt auf sie zutrat, seine Hand auf die Innenseite ihres Ellbogens legte und ihr sagte: »Du strahlst ja geradezu, Liebste.«
Die zwei schwarzgekleideten jungen Männer hielten die Tür auf für sie und ihn. Er bestätigte den kleinen Dienst mit einem freundlichen Kopfnicken und führte sie zur Garderobe im Parterre. Die kleine alte Frau hinter dem Tresen ließ die anderen Gäste stehen und eilte zu ihnen beiden, um seinen Mantel in Empfang zu nehmen, und wartete dann, bis er Julia den Pelz von der Schulter gestreift hatte. Ein kurzer, prüfender Blick im Spiegel auf das Geblink der Orden an seinem Smoking; dann bot er Julia seinen Arm, wiederholte: »Du siehst strahlend aus, wirklich!«, und führte sie die weite, teppichbelegte Treppe hinauf.
Sie spürte die Blicke, die ihn und sie musterten und schließlich auf ihr haftenblieben. Sie hatte beabsichtigt, eher unauffällig zu bleiben, und versuchte, die natürliche Bewegung ihrer Hüften so gut es ging zu unterdrücken.
»Glücklich?« fragte er.
»Sehr.«
Er betrachtete sie. War ihr klar, wie verführerisch sie war?
»Glücklich«, sagte sie. »Sollte ich etwa nicht glücklich sein? Heute ist dein Glückstag.«
Er verzog das Gesicht, als traute er seinem Glück nicht so ganz.
»Und da sind die vielen Lichter«, fuhr sie fort, »die Farben, die Menschen . Es ist schon ein Unterschied zwischen den Entwürfen eines Architekten und wie der Raum dann wirkt, wenn er mit Leben erfüllt ist. Dann erst kannst du erkennen, ob deine Arbeit gut war oder nur Mittelmaß.«
Sie war zu eifrig, dachte er - oder naiv, nach Art jener Jugend, die dem Ruf der Partei gefolgt war, um Neuland unter den Pflug zu nehmen in Sibirien oder die zerstörten Städte der Ukraine wiederaufzubauen. Diese simplen, aber äußerst nützlichen Reaktionen waren das Resultat der Erziehung, die man den jungen Leuten ganz bewußt hatte angedeihen lassen, immer die gemeinsame Sache im Auge, das gemeinsame Ziel. »Und dieses hier«, fragte er, »fügt sich ein in das Ganze, glaubst du?«
Sie blieb ein paar Stufen unterhalb des Treppenabsatzes stehen und blickte in die Runde. Sie hatte mitgearbeitet an der Einteilung und Gestaltung der Räumlichkeiten bei der Rekonstruktion des Rathauses, das zum erheblichen Teil zerstört worden war im Kriege. Hinter dem Marmor und den Bronzedekorationen sah ihr geistiges Auge die Präzision der Linien auf ihren Zeichnungen und Entwürfen; aber er ließ ihr nicht die Zeit, eine Antwort auf seine Frage zu finden; fast schien es, als habe er die Frage selber bereits vergessen - in der oberen Vorhalle, ihr Lächeln festgefroren auf steifen Gesichtern, warteten die Gastgeber des Abends, sie zu begrüßen.
Der Oberbürgermeister, Genosse Riedel, betrachtete Julia unter schweren Lidern hervor; seine bläulichen Lippen bewegten sich, als wolle er etwas sagen, während sein schlaffer Händedruck sie berührte. Julia schob sich weiter zur Genossin Tolkening. Untersetzt und fleischig wie sie war, machte Elise Tolkening die Bemühungen selbst der besten Maßschneiderinnen, staatlicher wie privater, zuschanden; trotz ihrer wenig attraktiven Figur aber war sie imstande gewesen, den Genossen Tolkening all diese Jahre hindurch an sich zu binden, während derer andere Genossen, gleich ihm zurückgekehrt aus dem Exil oder aufgestiegen aus den niederen Positionen im Lande, sich abwandten von den altersgezeichneten Kameradinnen ihrer vergangenen Kämpfe, um ihre Sekretärinnen zu ehelichen oder gar irgendwelche Damen vom Theater.
»Vielleicht, Genosse Sundstrom«, sagte Tolkening, »können wir heute abend ein paar Minuten finden füreinander.«
Wenn er wollte, hatte Tolkening ein schlaues, beinahe konspiratives Lächeln parat, das den Eindruck schuf, als verbinde ihn ein gemeinsames Herzensgeheimnis mit seinem jeweiligen Gesprächspartner. Diesmal schloß sein Lächeln auch Julia ein. Ihr Herz schlug schneller: Berlin hatte entschieden! Wie durch einen Nebel hindurch sah sie neue Gäste in den Bankettsaal strömen - war da nicht John Hiller mit seinem sarkastischen Mund und den schmalen, fast knabenhaften Schultern? - hatte Arnold ihm eine Einladung beschafft? . Dann wurde auch sie in den Bankettsaal gedrängt und geriet in ein Gewirr von Leibern, die auf dem Parkett einem gemeinsamen Ziel zustrebten.
Dies war keineswegs der erste offizielle Empfang, an dem sie teilnahm. Das anfängliche Gedränge, wußte sie, würde sich bald geben, sobald die üblichen Reden gehalten und die üblichen Toasts getrunken waren; jetzt jedoch widerte der Druck sie an, der würdelose, in Richtung der langen weißgedeckten Tische, die mit tranchierten Rehrücken beladen waren und großen Platten, auf welchen Hummer und Räucherschinken prangten, und mit Schalen voller Orangen und Bananen, besonders importiert für den Abend. Arnold, ein Veteran öffentlicher Veranstaltungen der Art, stemmte sich gegen die Phalanx von Uniformen, um die zwei Gläser Wein, die er erobert hatte, wenigstens noch halb voll zu Julia zu bringen. Julia ihrerseits strebte ihm entgegen, erreichte aber nur, daß die nächste Tischkante sich ihr in die Hüfte bohrte. Vor ihren überraschten Augen entnahm eine blaugeäderte, mit roten Fingernägeln und schweren Ringen bestückte Hand drei, vier, fünf Orangen aus einer der Schüsseln und ließ diese in einen bauchigen goldbestickten Abendbeutel gleiten. Dann begann der Lautsprecher Unverständliches zu quäken; der Diskant und das periodische An- und Abschwellen der Stimme waren deutliche Indizien der Rhetorik des Genossen Tolkening. Die Antwortrede des Leiters der sowjetischen Delegation, dessen Gestalt Julia hinter der Menge der Anwesenden verborgen blieb, war kürzer als Tolkenings, aber nicht kurz genug; ein beträchtlicher Teil der Gäste hatte sich Messer und Gabeln und Teller gegriffen und auf das Buffet gestürzt.
»Fütterungszeit im Zoo!« kommentierte jemand. Julia wandte sich um und erkannte Axel von Heerbrecht, der sie angrinste. Was wußte Heerbrecht, dachte sie - verwöhnter Kerl, der sich soviel auf seine Feuilletons am Rundfunk einbildete -, was wußte er von dem Hunger, den andere - darunter sie, Julia - so lange erfahren hatten; wie viele Jahre war es her seit dem Kriege? Zehn, fast elf. Und von diesen zehn, wie viele waren magere Jahre gewesen? Und von den Menschen, die sich an den Tischen dort ihre Bäuche vollstopften, wie viele...