Kapitel I
Es hatte bereits zwei Uhr nachts geschlagen, als die Sänfte in die Hill Street einbog. Der Wächter, der gerade auf seinem Gang um den Berkeley Square war, wünschte monoton eine gute Nacht. Der Vollmond wanderte über den wolkenlosen Himmel, und neben ihm wirkte das Licht der Straßenlaternen trübe, selbst, wie der einsame Reisende festgestellt hatte, in Pall Mall, wo die Öllampen schon durch Gaslaternen ersetzt worden waren. Die Fackelträger und die Kutschen, die aus einem geöffneten und beleuchteten Tor an der Ostseite des Berkeley Square strömten, verrieten, dass nicht alle Vertreter der Gesellschaft London verlassen hatten. Doch ging nun im Juni die Saison zu Ende, und es überraschte den Reisenden nicht, dass die Hill Street menschenleer war. Es hätte ihn auch nicht überrascht, wenn der Klopfer der Tür eines bestimmten Hauses an der Nordseite der Straße abgenommen gewesen wäre. Als die Sänfte jedoch näher kam, überzeugte ihn ein kurzer prüfender Blick davon, dass der Earl of Denville seine Stadtwohnung noch nicht gegen seinen Landsitz eingetauscht hatte. Der Reisende, ein junger Mann, der einen mit Schnüren und Quasten versehenen polnischen Überrock und einen niedrigen Biberhut trug, sprang aus der Sänfte, zog einen vollgepackten Koffer aus der Sänfte heraus und stellte diesen auf dem Gehsteig ab. Er kramte seine Geldtasche hervor und bezahlte die Träger. Dann nahm er sein Gepäck, schritt die Stufen zum Haupteingang hinauf und zog an dem eisernen Glockenstrang.
Als das letzte Echo der Glockenschläge verstummte, war die Sänfte bereits verschwunden, niemand aber hatte auf das Läuten geantwortet. Der Reisende zog noch einmal und stärker an dem Strang. Er hörte die Glocke irgendwo im Erdgeschoss anschlagen, musste aber, nachdem er einige Minuten gewartet hatte, annehmen, dass keiner von Mylords Dienern sie gehört hatte.
Er überlegte kurz. Es war möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass die Bewohner London verlassen hatten, ohne den Klopfer von der Tür zu nehmen und die Fenster zu verschließen. Um sich zu überzeugen, ob die Läden wirklich nicht geschlossen wären, trat er auf den Gehsteig zurück und überblickte das Haus. Er stellte fest, dass nicht nur alle Läden unverschlossen waren, sondern dass sogar ein Fenster zu ebener Erde ein paar Zentimeter weit offen stand. Dieses Fenster gehörte, wie er wusste, zum Esszimmer. Es zu erreichen, war für einen sportlichen und fest entschlossenen jungen Mann keine Schwierigkeit. Er entledigte sich seines Überrockes, hoffte im Stillen, dass kein Wachmann vorbeikommen möge, um seinen Einbruch zu bemerken, und begann dem teilnahmslosen Mond zu zeigen, dass Colonel Dan Mackinnon von den Coldstream Guards einen Rivalen im gefährlichen Klettern hatte.
Dem hochwohlgeborenen Christopher Fancot selbst lagen solche Gedanken fern. Er kannte weder Colonel Mackinnon, noch betrachtete er das Erklimmen des Fensterbrettes als gefährlich oder schwierig. Hatte er es einmal erreicht, so war es eine Kleinigkeit, den unteren Teil des Fensters hochzuklappen und sich in das Zimmer hineinzuschwingen. Kurz darauf stand er in der Halle. Dort fand er auf einem Wandtisch mit Marmorplatte eine schwach brennende Lampe und daneben eine unangezündete Kerze in einem Silberleuchter vor. Mr. Fancot betrachtete diese Dinge mit kundigem Blick und gelangte zu dem Schluss, dass der vornehme Besitzer seinen Dienern aufgetragen hatte, nicht auf ihn zu warten. Seine nächste Entdeckung, nämlich dass die Eingangstür nicht verriegelt war, bestätigte seine Vermutung. Als er die Tür öffnete, um seine Sachen vom Treppenaufgang hereinzuholen, überlegte er mit heimlichem Lachen, dass Seine Lordschaft bei seiner späten Heimkehr sein Bett von einem unerwarteten Besucher besetzt finden und sehr wahrscheinlich denken werde, dass dieser um vieles frecher sei, als er erwartet hätte.
Diese Vorstellung belustigte Mr. Fancot so sehr, dass ein boshaftes Lächeln um seine Mundwinkel zu spielen begann. Er zündete die Kerze an der heruntergebrannten Flamme der Lampe an und begab sich zum Treppenaufgang.
Mit der Kerze in der einen Hand, seinen Koffer in der anderen und dem über die Schulter geworfenen Überrock ging er leise hinauf. Kein Knarren der Stufen verriet ihn. Als er jedoch in den zweiten Stock einbog, öffnete sich ein Stockwerk höher eine Tür, und jemand rief ängstlich: »Evelyn?«
Er sah empor und erblickte im Licht einer von zarter Hand hochgehaltenen Schlafzimmerkerze eine weibliche Gestalt in einer Wolke von Spitzen, die durch blassgrüne Satinbänder zusammengehalten waren. Unter einem Nachthäubchen von bezaubernder Form war es mehreren goldgelben Ringellöckchen gestattet, hervorzuschauen. Der Herr auf der Treppe sagte: »Welch faszinierendes Käppchen, meine Teure!«
Die Angesprochene atmete auf, sagte jedoch lachend: »Du verrückter Junge! Ach, Evelyn, ich bin so froh, dass du gekommen bist, aber was, um Himmels willen, hat dich aufgehalten? Ich stand Todesängste aus!«
In den Augen des Ankömmlings zeigte sich ein spöttischer Schimmer, als er vorwurfsvoll sagte: »Aber, aber, Mama!«
»Du kannst leicht sagen: >Aber, aber, Mama<«, antwortete sie. »Aber da du hoch und heilig versprochen hast, nicht einen Tag später zu kommen als ...«, sie unterbrach sich und starrte plötzlich zweifelnd auf ihn hinunter.
Der Kavalier entledigte sich des Koffers, schüttelte den Überrock von der Schulter, nahm seinen Hut ab und eilte die restlichen Stufen mit großen Schritten hinauf. Er sagte noch vorwurfsvoller: »Nein, wahrlich, Mama! Wie kannst du nur eine so instinktlose Mutter sein?«
»Kit!«, stieß die überraschte Mutter mit einem unterdrückten Schrei hervor. »Oh, mein Herzblatt, mein liebster Sohn!«
Mr. Fancot zog seine verwitwete Mutter an die Brust, umarmte sie fest, sagte aber ein wenig lachend: »Welch eine fromme Lüge! Ich bin doch nicht dein liebster Sohn!«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um seine magere Wange zu küssen, und tropfte dabei ein wenig geschmolzenes Wachs auf seinen Mantelärmel. Dann antwortete Lady Denville mit Würde, dass sie nie einen ihrer beiden Zwillingssöhne auch nur im Geringsten bevorzugt habe.
»Natürlich nicht! Wie solltest du auch, wenn du uns nicht einmal auseinanderzuhalten vermagst!«, sagte Mr. Fancot und nahm ihr vorsichtig die Kerze aus der Hand.
»Ich kenne euch sehr wohl auseinander!«, erklärte sie. »Wenn ich dich erwartet hätte, so hätte ich dich sogleich erkannt! Nur dachte ich, du wärest in Wien.«
»Nein, ich bin hier«, sagte Mr. Fancot und lächelte liebevoll auf sie herab. »Stewart gab mir Urlaub. Freust du dich?«
»Aber nicht im Geringsten!«, sagte sie, schob ihre Hand in seine Armbeuge und zog ihn mit sich in ihr Schlafgemach. »Lass dich ansehen, du Böser! Ach, ich kann dich nicht ordentlich sehen! Zünde alle Kerzen an, Lieber, dann können wir es uns gemütlich machen. Welche Summen in diesem Haus für Kerzen ausgegeben werden! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wenn mir Dinting nicht die Kerzenzieherrechnung gezeigt hätte. Ich muss sagen, mir wäre lieber gewesen, sie hätte es nicht getan, denn was, frage ich dich, Kit, hat man davon, wenn man die Ausgaben für Kerzen kennt? Man muss sie ja haben, und nicht einmal dein Vater hat von mir verlangt, Talgkerzen zu kaufen.«
»Ich glaube, man könnte weniger anzünden«, bemerkte Kit und hielt den Kerzenanzünder an ein gutes halbes Dutzend Kerzen, die in zwei Kerzenständern auf dem Toilettentisch standen.
»Nein, nein, nichts ist schrecklicher als ein schlecht erleuchteter Raum. Zünde die auf dem Kaminsims an, mein Lieber! Ja, so ist es viel besser! Nun komm her und erzähle mir, was du erlebt hast.«
Sie war zu einem eleganten Sofa hingeschlendert und klopfte es einladend zurecht, Kit jedoch folgte nicht sogleich der Aufforderung. Er stand da und musterte das Zimmer, das nun hell erleuchtet war.
»Ja, wie sieht es denn hier aus, Mama? Du pflegtest doch in einem Rosengarten zu leben, und nun könnte man meinen, sich auf dem Meeresgrund zu befinden«, rief er aus.
Da sie genau diesen Eindruck zu erwecken gehofft hatte, als sie mit unheimlichem Kostenaufwand das Zimmer in verschiedenen Grünschattierungen neu ausstatten ließ, sagte sie zustimmend: »Genau! Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich diese gewöhnlichen Rosen so lange aushalten konnte, besonders da mir der arme Mr. Brummell vor Jahren sagte, dass ich eine der wenigen Frauen sei, der Grün besser als jede andere Farbe stünde.«
»Das ist wahr«, stimmte er zu, und sein Blick heftete sich auf das Bett. Sofort bildeten sich kleine Lachfalten in seinen Augenwinkeln, als er sah, dass die Vorhänge aus Gaze waren. »Sehr verwegen und unschicklich dazu!«
Sie gab ein bezauberndes Lachen von sich. »Unsinn! Findest du das Zimmer schön?«
Er setzte sich neben sie, führte ihre Hand an seine Lippen und drückte einen Kuss auf ihre Hand. »Ja, wie du selbst: schön und verrückt!«
»Wie du!«, gab sie zurück.
Er...