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Die ersten deutschsprachigen Arbeiten, die explizit auf Tourismussoziologie eingingen, waren 1930 von Wieses »Fremdenverkehr als zwischenmenschliche Beziehung« und 1960 Knebels Dissertation »Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus«. Die beiden Titel zeigen deutlich die Bandbreite soziologischer Perspektiven. Während von Wiese auf die Beziehungen zwischen Reisenden und Gastgebenden einging, betrachtete Knebel die gesellschaftlichen Veränderungen und ihre Folgen für den Tourismus. Enzensberger schrieb 1958 ein Essay mit dem Untertitel »Theorie des Tourismus«. Auch wenn es sich nicht um eine wissenschaftliche Publikation handelte, hatte seine Theorie einen großen Einfluss auf den Tourismusdiskurs und wird auch heute noch regelmäßig (stellenweise falsch) zitiert. Die drei genannten Werke werden in Kapitel 2.2.1, 2.2.2. und 2.2.3 detaillierter vorgestellt.
Die systematische sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Tourismus begann in der Zeit zwischen 1950 und 1960 und erfolgte primär durch Kulturkritiker:innen und weniger durch Soziolog:innen (Spode, 2012). Sie verlief parallel zur Entwicklung des Massentourismus. Von daher ist es wenig überraschend, dass viele Publikationen sehr kritisch auf die Entwicklungen des Tourismus schauten. Im Mittelpunkt der Betrachtungen standen Tourist:innen, ihre Motive und Verhaltensweisen. Tourist:innen wurden entweder als ein Übel oder als eine leicht in die Irre zu führende Ansammlung von Menschen beschrieben. Gefangen in einer Blase hätten Tourist:innen nur oberflächlichen Kontakt zu ihrer Umgebung und ließen sich gerne und leicht täuschen. Es erfolgte eine Gegenüberstellung von Tourist:innen und echten Reisenden respektive Abenteuer suchenden Menschen. Beispiele für die Kritik am Tourismus und eine kritische Betrachtung derselben finden sich in Kapitel 2.2.4.
In den 1980er- bis 1990er-Jahren entstanden viele klassische Publikationen zur Tourismussoziologie. Zu den Autor:innen gehören u. a. Erik Cohen, Graham Dann, Marie-Françoise Lanfant, Dean MacCannell, John Urry, Michel Picard und Pierre van den Berghe. Hinzu kommen Autor:innen wie Joffré Dumazedier, Keith Hollinshead, Jens Christian Stehen Jacobsen, Scott McCabe, Chris Rojek, Tom Selwyn, Richard Sharpley, Jean Didier Urbain und Ning Wang, die tourismussoziologische Themen behandeln.
Literatur │ Tourismussoziologie
In der von Jafar Jafari editieren Reihe Tourism Social Science Series erschien 2008 The Sociology of Tourism - European Origins and Development. Wie der Titel vermuten lässt, werden Werke u. a. aus deutschsprachigen und nordischen Ländern, Frankreich, Spanien, Italien, Polen, den Niederlanden und Belgien vorgestellt. Im einleitenden und abschließen Kapitel findet eine Diskussion zentraler Themen statt. Zwei weitere Titel der Reihe beziehen sich ebenfalls auf die Tourismussoziologie.
Wichtige deutschsprachige Publikationen, die das Spannungsfeld von Tourismus und Gesellschaft thematisieren stammen von Vester, Scheuch und Hennig. Auch Krippendorf (1984) setzte sich in seinen Arbeiten stark mit den Wechselwirkungen zwischen Tourismus und Umwelt auseinander.
Hahn & Kagelmann (1993) haben zentrale tourismussoziologische Themen in einem Sammelband thematisiert. Pagenstecher (1998) zeigt in seiner Analyse von Enzensbergers Essay ein Forschungsprogramm auf.
Die Untersuchung der »nicht-alltäglichen Wirklichkeiten« ist vor allem im angelsächsischen Raum intensiv erforscht worden. In Frankreich finden Imaginationen eine besondere Berücksichtigung. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Konstruktion von (Urlaubs-)Wirklichkeiten.
Nachfolgend werden die Werke einiger zuvor genannter Autor:innen detaillierter dargestellt und in Zusammenhang mit zuvor gemachten soziologischen Aussagen gebracht. Einen Schwerpunkt bilden die Arbeiten von Dean MacCannell und Erik Cohen. Beide haben über einen längeren Zeitraum regelmäßig zur Tourismussoziologie publiziert.
Leopold von Wiese (*1876 ┼1969) schrieb 1930 einen Artikel mit dem Titel »Fremdenverkehr als zwischenmenschliche Beziehung«. Dieser recht kurze Artikel, der in der ersten Ausgabe des Archivs für den Fremdenverkehr erschien, wird in vielen Publikationen zur Tourismussoziologie zitiert.
Von Wiese fokussiert in dem Artikel auf beziehungswissenschaftliche Aspekte des Tourismus. Grundlage für seine Überlegungen sind seine eigenen Arbeiten zur Menschlichkeit (von Wiese, 1915) sowie Simmels Konzept des Fremden (Simmel, 1908). Leopold von Wiese war ein Schüler von Simmel. 1915 und inmitten des ersten Weltkriegs stellt er fest, »dass alles Wollen und Handeln zwar Unterschiede in den Ausdrucksmitteln bei diesen und bei jenen aufweisen, im Grunde jedoch überall das Eine und Selbe sind« (von Wiese 1915, S. 91). Dementsprechend ist das Fremde auf einer zivilisatorischen Kulturstufe nicht mehr - wie in primitiven Kulturen - etwas Feindliches. Die Beziehung zwischen Fremden - von Wiese verwendet den Begriff des Tourist:innen nicht - und Einheimischen umfasst drei Typen.
Der Fremde als Eroberer oder Besetzer ausgehend davon, dass er eine Macht vertritt.
Der Fremde als zufällig an einem Ort anwesende Person.
Der Fremde als Händler, Forscher, Vergnügungsreisender, Verkehrsfreund, der Interesse an dem Ort und den Einheimischen hat.
Typ III ist nach von Wieses Ermessen der eigentliche Gast. Dieser hat verschiedene Möglichkeiten der »Äußerungsweisen«. Er kann imponieren, um Sympathie werben, überreden oder auch täuschen. Dasselbe gilt für die Einheimischen. Die Kombination der Verhaltensweisen ist sehr vielfältig und abhängig von der Situation.
Von Wiese stellt Besonderheiten fest, die sich daraus ergeben, dass Menschen sich in der Fremde befinden. Demnach neigen sie dazu, das Augenblickliche als charakteristisch zu sehen. Zweitens findet eine Verallgemeinerung des Individuellen hin zum Typischen statt. Schließlich führt die kritiklose Übernahme solcher Urteile dazu, dass diese falschen Eindrücke soziale Geltung erlangen.
Zitat
»Im allgemeinen ließe sich als eine dringend zu empfehlende Norm für den Fremdenverkehr der Satz aufstellen: Beobachtet viel und genau; aber urteilt langsam und vorsichtig.« (von Wiese, 1930, S. 3)
Von Wiese hat damit schon sehr früh den Fokus auf die Interaktion zwischen Fremden (Tourist:innen) und Einheimischen und auf die Besonderheiten der Wahrnehmung und Deutung einer Situation gelegt. Mit seinen Aussagen zu den Besonderheiten des Aufenthalts in der Fremde erfasst er wesentliche Aspekte des Tourismus. Dazu gehört vor allem die stereotype Wahrnehmung des Gegenübers. Sein Mahnung, zu beobachten ohne zu werten, ist aktueller denn je.
Hans Magnus Enzensberger (*1929 ┼2022) bezeichnet seine Publikation »Die vergebliche Brandung der Ferne« (1958) als eine Theorie des Tourismus. Sie basiert auf philosophisch-historischen Betrachtungen. Tourist:innen sind nach Enzensberger auf der Flucht vor der "selbst geschaffenen Realität" (S. 709). Die Flucht und die damit verbundene Suche sind jedoch vergeblich, da die Ferne, wenn sie einmal erreicht ist, als Täuschung erkannt und durch eine neue Suche nach der Ferne ersetzt wird.
Im Gegensatz zu kritischen Stimmen ( Kapitel 2.2.4) klagt Enzensberger die Tourist:innen jedoch nicht an. Vielmehr entlarvt er Tourismuskritik (am Beispiel von Gerhard Nebel) als "auf einem Mangel an Reflexion, der an Torheit grenzt" und moralisch auf Einbildung beruhend (Enzensberger, 1958, S. 704). Er stellt eine Verbindung zwischen der Entwicklung der Industriegesellschaft und des Tourismus her. So basiert der Tourismus auf den Logiken der Massenfertigung. Diese sind Normung, Montage und Serienfertigung. Normierte Elemente sind beispielsweise Sehenswürdigkeiten, die in Reiseführern (1836 erschien Murrays Red Book) und heutzutage auf Instagram und TikTok genannt werden. Die Nennung beinhaltet eine Verpflichtung zum Besuch. Somit ist die durch die Reise gewonnene Freiheit durch verpflichtende Besuche und Aktivitäten eingeschränkt. Enzensberger spekuliert, dass damit eine Schuld abgegolten wird: Es wird eingestanden, "daß er [Tourist:in] die Freiheit, auf die er aus zu sein...
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