Schweitzer Fachinformationen
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1952, Köln
VIELLEICHT war es das Licht. Sanft, in sich gekehrt verlieh es dem kargen Raum eine gewisse Andacht, wie sie nur jenen frühesten Tagen im Jahr innewohnt, in denen die Welt, zögernd noch, ihre Augen aufschlägt.
Dieses Licht beschien nun auch die Frau und den Jungen, die sich dort im Türrahmen dicht beieinander hielten, als sei ihnen nicht recht klar, wer wen zu schützen hatte.
»Eine Wand, hier?« Wilhelm war bemüht, sich seine Verwirrung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Nicht ahnend, dass an diesem stillen Januarmorgen gerade etwas Folgenreiches seinen Anfang nahm, verspürte er doch eine gewisse Anspannung; eine Sprachlosigkeit, die er nicht verstand. Dies war weiß Gott nicht die erste schöne Frau, die er in seinem Leben vor sich sah. Wobei, in diesem Licht .
Wilhelm hatte eine Schwäche für gute Lichtverhältnisse. Allerdings kam es ihm dabei in erster Linie auf Helligkeit an. Scharfe Umrisse, die für Klarheit sorgten, die die wahre Beschaffenheit der Dinge zutage treten ließen. Zufriedenstellend oder unzureichend. Ja oder nein.
Die Werkzeugtasche fester umfassend, versuchte er, den Raum nun so in Augenschein zu nehmen, wie es sich gehörte. Immerhin war er hergekommen, um ein Geschäft abzuwickeln.
Wilhelm Koch, Willi genannt, war ein auffallend großer Mann. Beim Reden hielt er sich daher stets leicht nach vorne gebeugt. Eine Haltung, die seinem Umgang mit Kundschaft, dem Gespräch auf angestrebter Augenhöhe gut bekam. Seinem Rücken allerdings nicht.
Die öffentlichen Bauaufträge waren zur Jahreswende vorübergehend eingestellt worden, angeblich wegen der Witterung. Dabei war der Winter vergleichsweise mild, es lag noch nicht einmal Schnee. Stattdessen häuften sich in der Innenstadt die Trümmer. Wenigstens, sagte sich Willi, wurde der Schutt noch vom Kölner Dom überragt. Sanierungen und die Umbauwünsche einiger Privatiers bestimmten derzeit das Tagesgeschäft und erhoben den »Aufschwung« über den Status eines Gerüchts. »Materialknappheit« hingegen war ein Wort, das nur hinter vorgehaltener Hand weitergegeben wurde.
Seit die Großbaustellen brachlagen, hatten Willis Rückenschmerzen wieder zugenommen. Keine Frage, er hielt sich lieber im Freien auf. Geschlossene Räume, Enge, nein, das war nichts für ihn. Ebenso wenig Stille. Sie machte ihn nervös, war der Hohlraum, in den Dinge einsickern konnten.
Sieben Jahre waren seit dem Ende nun vergangen; dem Ende des Krieges. Und alle sieben Jahre, sagte sich Willi zuversichtlich, wächst einem eine neue Haut.
Er liebte Redeweisen und Sinnsprüche, kleine Volksweisheiten wie diese. Hier und jetzt aber, so viel stand fest, war es nicht die Haut, alte oder neue, war es nicht der Rücken, der ihm zu schaffen machte.
»Die wird Ihnen da aber viel Helligkeit wegnehmen, die Wand. Frau De Boer?« Diesen Namen hatte er sich im Auftrag notiert. Auf der Leiste mit den Klingelschildern allerdings hatte er vergeblich nach einer Familie De Boer gesucht. Womöglich war ihre Auskunft deswegen so präzise gewesen: »In die dritte Etage müssen Sie, in die Wohnung ganz rechts. Bei Heider.«
»Frau De Boer?«
Die Frau im Türrahmen rührte sich nicht.
»Das macht nichts. Mit der Helligkeit«, sagte sie schließlich und ließ seine Nachfrage hinsichtlich ihres Namens unbeantwortet. Der Junge an ihrer Seite sah Willi an. Nicht unangenehm; mehr auf eine Weise, die Willi das diffuse, aber dringliche Gefühl eingab, dieses so sorgsam gescheitelte Haar zerwühlen zu wollen. Ihn hochzuheben, das dünne, bleiche Kerlchen da vor ihm, hoch hinaus zu Wind und Licht, ihn auf seinen Schultern reiten zu lassen. Aber momentan fiel es ihm schwer, sich überhaupt zu regen.
Die Frau, ihr Gesicht: ebenmäßig, umrahmt von offenbar naturblondem Haar, war ebenso wie ihre ganze Gestalt (schlichter Rollkragenpulli, Caprihose) von jener ruhigen Schönheit, die Willi normalerweise registrierte, ohne sich davon angesprochen zu fühlen. Doch nun - da war etwas an ihr; ihre Haltung, ihr Blick, der nicht warb, nicht kokettierte und der dennoch eine unterschwellige Aufforderung - was zu tun? - barg. Willi, seltsam betroffen, verspürte den absurden Drang, sich der Welt im Nahkampf zu stellen, jetzt gleich.
»Geh bitte in die Küche, Fred.« Der Junge, an derlei Anweisungen offensichtlich gewöhnt, löste sich umgehend von der Mutter. Ohne Willi aus den Augen zu lassen, griff er im Vorbeigehen nach einem Buch, das auf der Ablage im Flur bereitlag.
Donnerlittchen, das Kerlchen kann doch nicht etwa schon lesen, fuhr es Willi durch den Kopf, während sich Fred mit seinem Buch in die Küche zurückzog, deren Tür er weit geöffnet ließ.
Und endlich, als wäre durch den Rückzug des Jungen etwas aufgehoben worden, ein bislang unbekanntes Element der Schwerkraft vielleicht, konnte auch Willi sich wieder regen. Sein gewohntes Tempo, seine Sicherheiten aufnehmen, die in der Tätigkeit, der sich vergewissernden Rede lagen: »Nicht mehr hausen, wieder wohnen - was sich die Stadt da mal wieder für Fisimatenten einfallen lässt. Wissen Sie, ich bin kein Theoretiker, ich bin Praktiker. Für Wärme- und Schallisolierungen, für Deckengeschosse hat man zurzeit offenbar nichts übrig, aber den Rundfunk unbedingt bis zum Sommer fertig bauen. Eines der modernsten Funkhäuser Europas solls angeblich werden. Und auf dem Weg dorthin, durch all den Schutt, macht man am besten die Augen zu, oder wie stellen die sich das vor? Also, wenn Sie mich fragen, lächerlich!«
Ihm wurde zusehends wohler, die Wirklichkeit kehrte zurück. Frau De Boer - oder war es Frau Heider? - strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. Sie selbst, sagte sie, höre gern Radio, das sei so tröstend. Willi, der darauf nichts zu erwidern fand, empfahl ihr das Radiogeschäft »Simons«, »gleich hier in direkter Nachbarschaft«. Ein Geschäft, das weit und breit die besten Röhrengeräte anbot. Mit Garantie sogar: »Da wissen Sie genau, was Sie für Ihr Geld bekommen. Der Simons nimmt auch gebrauchte Geräte in Zahlung. Falls Sie, na, Sie wissen schon - und nun zu Ihrer Wand .«
Willi stieg über einige verstreut liegende Teile von Freds Eisenbahn und legte seine Unterlagen auf das hübsch lackierte Nierentischchen. Er streifte die zwei umstehenden zierlichen Sessel mit einem kurzen, geradezu seufzenden Blick und ließ sich dann auf der alten, aber recht stabil wirkenden Couch gegenüber nieder, die bis auf einen Stoffbären unbesetzt war.
Seine recht ausführliche Darlegung des Arbeits- und Kostenaufwands ließ Frau De Boer/Heider unkommentiert. Auf seine Frage nach dem Sinn und Zweck einer zusätzlichen Wand in diesem »doch so schön übersichtlichen Raum« erwiderte sie unter kaum merklichem Erröten: »Privatsphäre«.
Privatsphäre war ein Wort, das Willi eher selten zu Gehör bekam. Wenngleich dessen Bedeutung: Intimität, Ungestörtheit, bei all seinen Innenraummaßnahmen auf die eine oder andere Art Thema war.
Nun fiel ihm erstmals auch der leichte Akzent der Frau auf. De Boer - dieser Name ließ eine niederländische Herkunft vermuten. Die Holländer, die Willi von Berufs wegen kannte, sprachen Deutsch allerdings ganz anders als diese Frau. Auf eine, wie er fand, unverkennbare Hollandweise. Nämlich bemerkenswert korrekt und holpernd zugleich. Als hielte sie irgendetwas davon ab, sich ungezwungen in dieser Sprache zu bewegen. Frau De Boer/Heider hingegen, die soeben erwähnte, dass sie erst seit Kurzem hier wohne, sprach weder holpernd noch mit einem erkennbaren Dialekt. Allerdings hob sie ihre Stimme am Satzende beiläufig um eine Nuance an; französisch klang das, charmant. Er hatte das noch gut im Ohr. Saint Denis, 1944 - irgendetwas an dieser Erinnerung ließ Willi von der Couch hochfahren. Er ging zur Kopfseite des Raums und klopfte sie so sorgsam ab, wie es der Arzt neulich mit seiner Brust getan hatte.
»Also, in die tragende Wand hier lässt sich kein Durchbruch machen. Außerdem laufen da ziemlich viele Stromleitungen durch .«
Willi liebte Wände. Ihr stoisches und daher umso nachhaltigeres Versprechen von Standfestigkeit. Ein Versprechen, auf das (wenn nicht gerade Bomben auf sie niederfielen) Verlass war, an das man sich lehnen konnte. Auch ihren so offensichtlichen, fraglosen Daseinszweck liebte er. Ihre Duldsamkeit, mit der sie mancherlei Pfusch von unsachgemäßer Hand in sich ausglichen.
Nach der Bautechniker- und Maurerlehre war es für ihn mit siebzehn gleich in den Krieg gegangen. Und direkt nach dem Krieg kam, verstörend nahtlos, die Ausbildung zum Maurermeister.
In den ersten Nachkriegswochen hatten seine Hände, Soldatenhände, unter dem Schutt Schädel und Knochen hervorziehend, so unkontrollierbar gezittert, dass er seinen Gliedern schließlich nur noch hilflose Kommandos zumurmelte.
»Do kann man nit hinlore.« Jochen Schäffer, der Poliermeister und vormalige MG-Schütze, schickte ihn heim. Zu Willis Mutter aber sagte er: »Et hätt halt nit immer jot jejange. Aber der Willi, der wird schon werden.«
Und tatsächlich, nach einer Weile, in der die besorgte Mutter ihren Jüngsten nicht von den Fenstern wegbekam, die er weit aufriss, um dann reglos davorzustehen, als warte er auf irgendetwas, das sich nie einstellte, sah es ganz so aus, als würde »der Willi schon werden«. Eines Tages hörte der Schäffer ihn wieder scherzen und mit den anderen vom Trupp »verzälle«. Auch Willis Hände schienen zu genesen, sich mehr und mehr an ihr Tun vor dem Krieg zu erinnern. Die...
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