Schweitzer Fachinformationen
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Freitag, 11. Oktober
An diesem Morgen machte ich mich schon um halb zehn mit dem Fahrrad zum Laden auf. Ich wollte noch in aller Ruhe einen Kleiderschrank reinigen und frisch verleimen.
Er war aus Eiche, hatte in einer seiner beiden Türen einen geschliffenen Spiegel und geschnitzte Jugendstilornamente in der Krone. Ein hübsches Stück, das sich bestimmt gut verkaufen lassen würde. Doch bevor es nach vorne in den Laden konnte, war einige Arbeit nötig.
Von unserer Wohnung am Kiehlufer waren es kaum fünf Minuten mit dem Fahrrad zum Laden. Einmal den Kanal überqueren, die Wildenbruchstraße hoch und dann nach links in die Weserstraße. Nach ein paar hundert Metern kam auf der linken Seite mein Geschäft.
Von Weitem sah ich bereits Polizeiautos, die in zweiter Reihe die Straße zustellten. Sie parkten vor dem eingerüsteten Nachbarhaus, dessen Hoftor einen Spalt geöffnet war. Ich stieg vom Fahrrad und warf einen Blick hindurch. Im Hof huschten zwei Männer in weißen Overalls herum. Spurensicherung. Das sah nicht gut aus.
Jetzt fiel mir auch der Kleinbus auf, der etwas entfernt ebenfalls in zweiter Reihe stand.
Den kannte ich nur zu gut.
In einem solchen Bus gleichen Modells und gleicher Farbe vernahmen Hauptkommissarin Sylvia Neidel und ihr Partner, Oberkommissar Lars Kramer, immer ihre Zeugen. Und auch die Tatverdächtigen.
Als hätten sie auf mein Eintreffen gewartet, kamen die beiden in diesem Moment aus dem Hof geschlendert. Neidel war eine Blonde in meinem Alter, die eigentlich recht hübsch war, aber mit ihren tiefen Augenringen immer erschöpft und überarbeitet wirkte. Ich hatte damals vor zweieinhalb Jahren, als sie im Fall des toten Baustadtrats ermittelte, eine gewisse Sympathie für sie gehabt und mir eingebildet, dass es ihr mit mir ähnlich ging.
Ganz anders verhielt es sich mit ihrem Kompagnon. Kramer und ich hatten uns von Anfang an gegenseitig gefressen. Er war zehn Jahre jünger als Neidel, groß, aufbrausend und nicht die hellste Kerze auf der Torte - fand ich jedenfalls. Er erinnerte mich an einen Kommissar aus einer Vorabendserie, die ich allerdings vor vielen Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Wer hatte schon Zeit für Vorabendserien?
Als Kramer mich entdeckte, sah ich, dass sich an seiner Abneigung mir gegenüber nichts geändert hatte. Also beschloss ich sofort, dass es bei mir auch nicht anders war.
Kramer wollte nach rechts, weg von mir in Richtung Kleinbus, obwohl er den wohl kaum fuhr. Die Kommissare hatten sicher einen standesgemäßen Dienstwagen. Oder saß in dem Bus bereits ein Verdächtiger, den sie vernehmen wollten? Hinten hatte er getönte, blickdichte Seitenscheiben.
Kramer wollte also nach rechts, Neidel hingegen strebte auf mich zu.
Wir hatten uns seit damals nicht mehr getroffen. Ihre Augenringe waren eher noch dunkler geworden, die Falten neben dem Mund etwas tiefer.
Fast hätte ich mich gefreut, sie zu sehen. Wenn Kramer nicht dabei gewesen wäre.
Zu meiner Überraschung streckte sie mir die Hand hin.
»Tag, Herr Keppler. Ist lange her. Wie geht es Ihnen?«
Ich schlug ein.
»Mir geht's gut. Und Ihnen?«
Sie zuckte die Achseln. Kramer war ihr gefolgt, aber er hielt mir keine Hand hin, sondern beschränkte sich darauf, mich ablehnend anzuglotzen.
»Und die Geschäfte, was machen die?«
Sie deutete mit dem Kopf zu meinem Laden.
Ich schnaubte.
»Geht schon. Wie überall läuft heutzutage mehr übers Internet als über den Laden.«
Neidel nickte.
Ich verkniff mir, sie zu fragen, was nebenan los war. Entweder würde sie es mir gleich sagen oder eben nicht. Auf meine diesbezüglichen Fragen hatte sie noch nie geantwortet. Kramer sowieso nicht.
»So früh hier, Herr Keppler? Macht Ihr Laden nicht erst nachmittags auf?«
Neidel musterte mich. Gar nicht unfreundlich, wie ich mir einbildete.
»Ja, das stimmt. Aber ich bin oft früh hier. Zur Arbeit gehört ja, wie gesagt, nicht nur der Verkauf im Laden. Ebay, Social Media, Bürokram. Außerdem müssen die Stücke geputzt und einige Möbel restauriert werden.«
Kramer wollte zu einer Bemerkung ansetzen, verkniff es sich jedoch.
Besser so, dachte ich.
»Und gestern Abend, waren Sie da im Laden oder der Herr Schmitz? Wenn der überhaupt noch für Sie arbeitet.«
Das war eine gute Frage. Im Prinzip arbeitete Gerry schon noch für mich. Wenn er mal Zeit hatte. Doch das ging die Kommissare nichts an.
»Gerry ist noch dabei, aber gestern war ich da.«
»Wann haben Sie zugesperrt?«
Ich hob die Schultern. »Wie immer, um 19.30 Uhr.«
»Und dann sind Sie gleich nach Hause?«
»Ja«, sagte ich und musterte sie. »Was ist das hier, ein Gespräch oder eine Zeugenbefragung?«
Mit Letzterem hatte ich ja meine Erfahrungen gemacht, damals, als ich den toten Baustadtrat in meinem Kleingarten gefunden hatte. Den ermordeten Baustadtrat. Zuerst schien ich sogar zum Kreis der Verdächtigen zu gehören und Kramer war am Ende enttäuscht gewesen, dass ich rein gar nichts mit der Sache zu tun gehabt hatte.
Ich war also auf der Hut.
»Wir hören uns in der Nachbarschaft um«, sagte Neidel und wies mit dem Kopf auf das offene Haustor nebenan. »Und dazu gehören Sie ja.«
»Was ist passiert?«, fragte ich jetzt doch.
»Kennen Sie den Herrn Möchtling von der Hausverwaltung Laumann?«
Ich hob wieder die Schultern. »Sagt mir nichts.«
Neidel sah zu ihrem Partner. Der zog ein Foto aus der Seitentasche seiner braunen Wildlederjacke und hielt es mir hin. Es zeigte das Porträt eines blonden Mannes mit Jungsgesicht und Dreitagebart.
»Kenn ich nicht. Nie gesehen, jedenfalls nicht bewusst.«
»Und unbewusst?«, wollte Kramer wissen.
Er hatte schon wieder so was Herausforderndes.
Das Wesen des Unbewussten ist, dass es einem eben nicht bewusst ist, man weiß es also nicht, versuchte ich ihm in Gedanken zu erklären. Äußerlich beließ ich es bei einem vielsagenden Blick und schüttelte den Kopf.
Vielleicht hob ich ein ganz klein wenig die Augenbrauen.
»Was ist mit Herrn Möchtling passiert?«, präzisierte ich meine Frage.
»Der ist tot«, sagte Neidel knapp. »Er wurde im Hof Ihres Nachbarhauses gefunden.«
»Ermordet?«
Überrascht schaute ich sie an.
»Wissen wir bislang nicht«, antwortete die Kommissarin.
Dann standen wir noch ungefähr zehn Sekunden stumm beieinander. So, als wüsste keiner mehr etwas zu sagen und es wäre trotzdem nicht die rechte Zeit, sich zu trennen und alleine nach Hause zu gehen. Da wir alle drei Nichtraucher waren, konnten wir keine letzte Zigarette miteinander rauchen und hatten nichts zu tun.
Geraucht wurde ja sowieso nur noch wenig. Gerry war eigentlich der einzige verbliebene Raucher in meinem Freundes- und Bekanntenkreis.
Mich störte es nicht, einfach rumzustehen, das machte ich im Laden oft genug. Aber Neidel wurde es schnell zu dumm. Sie nickte mir zu.
»Das war 's erst mal. Wiedersehen, Herr Keppler.«
Sie wirkte, als wollte sie was nachschieben, ließ es aber sein und drehte ab.
Die Schlussbemerkung übernahm dafür Kramer. »Finger weg, Freundchen«, zischte er mir zu, als Neidel schon ein paar Meter weg war.
»Von was?«, erwiderte ich und versuchte den allerunschuldigsten Rehblick aufzusetzen.
»Von irgendwelchen Privatermittlungen!«
Er spie mir die Worte entgegen und folgte seiner Partnerin.
Ich grinste ihm hinterher, dann schloss ich den Laden auf und gleich hinter mir wieder zu, ohne noch einmal in den Hof des Nachbarhauses zu schauen.
Nichts anderes als diese Bemerkung von Kramer hätte mich mehr zu Nachforschungen animieren können.
Kurz nach 17 Uhr schneiten Sabine und Manuel in den Laden. Sabine Wieczorek und Manuel Flamm wohnten im Nachbarhaus und waren in meinem Alter, vielleicht auch ein wenig älter. Sabine war eine etwas mollige Blonde mit Brille und hübschem Gesicht. Manuel dagegen war ein großer Schlaks, der immer leicht hängende Schultern hatte, als wollte er sich - wie so viele hochgewachsene Menschen - kleiner machen.
Sabine arbeitete als Buchhändlerin bei Hugendubel im Karstadt am Hermannplatz. Manuel hatte mal Soziologie studiert und nebenbei bei der Post gejobbt. Irgendwann hatten die ihm eine Festanstellung geboten, da hatte er sein Studium abgebrochen. Jetzt arbeitete er bei einer der wenigen verbliebenen Filialen in den Neukölln Arcaden.
Früher waren das beides richtig gute Jobs gewesen, Buchhändlerin und Postangestellter, zwar nicht mit hohem Gehalt, aber sicher. Heute waren sie prekär wie fast alle Arbeitsplätze. Ständig konnte alles vorbei sein, und wer gab einem schon mit über 50 eine neue Chance? Das würde erst besser werden, wenn unsere Jahrgänge in Rente gegangen oder gestorben waren.
Trotzdem waren die beiden meist gut drauf und versuchten, sich ihr Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Das gefiel mir an ihnen. Außerdem konnte man oft mit ihnen lachen. Dazu kam, dass sie in ihren 20ern durch Indien gereist waren, so wie ich. Das verband uns.
»Hi.« Manuel grinste zur Begrüßung, aber es lag ein Schatten Resignation auf seinen Zügen, wie so oft in letzter Zeit, als wüsste er, dass es besser nicht mehr werden würde. Sabine lächelte maliziös, als wollte sie genau diesem Wissen den Mittelfinger entgegenstrecken.
»Wollt ihr 'nen Kaffee?«
Sie wollten.
Es...
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