Schweitzer Fachinformationen
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DER FUND
Die Tote wurde am frühen Nachmittag entdeckt. Verfangen im Gebüsch lag sie am Hang neben der Lippebrücke, deren geschwungene Auffahrt direkt auf die Weseler Rheinbrücke führte. Sie war teilweise bekleidet, ihre Beine waren bis auf die Socken nackt. Es waren braune Socken mit blau-gelb-weiß geringeltem Bündchen. Einige Kleidungsstücke hatten sich in Ästen verhakt, andere wirkten wie Schwemmgut am Rande eines kleinen Wiesenstücks. Der Pullover und das T-Shirt mit geknöpftem Ausschnitt und langem Arm waren blutdurchtränkt und von der Nässe aufgeweicht.
Das Wasser, das früher von der kanalisierten Lippemündung geradewegs stramm in den Rhein geflossen und nun künstlich zu einer behäbigen, seenartigen Auenlandschaft aufgestaut war, hatte den Körper des Mädchens wohl bei höherem Wasserstand an einer kaum einsehbaren Stelle abgelegt. Es wirkte, als habe die Natur eine feierliche Zeremonie vollzogen und ein paar angeschwemmte Äste und Blätter um den schmächtigen Körper drapiert. Keiner der zu Tausenden hier vorbeirauschenden Autofahrer hatte von der höher gelegenen Straße die unter dem Gebüsch hervorlugenden Turnschuhe des Mädchens gesehen.
Die beiden Jugendlichen, die vom Brückengeländer aus Steine auf dümpelnde Enten geworfen hatten, waren sofort alarmiert gewesen, als ein fehlgeleitetes Wurfgeschoss das Wasser in Ufernähe aufspritzen ließ. Eine dadurch verursachte kleine Welle war langsam verebbt und an einem weißen, verquer an einem Fuß hängen gebliebenen Schuh mit einem neonfarbenen Zierstreifen ausgelaufen. Die Halbwüchsigen redeten aufgeregt aufeinander ein, rannten um einen Zaun herum zur Böschung am Ende der Lippebrücke und stiegen den Hang hinunter. Einer von ihnen trat bei der atemlosen Aktion auf die Brille des Mädchens, als er sich zu dem Schuh hinunterbeugte und einen Ast des Gebüschs zur Seite drückte. Bei seiner Aussage gegenüber dem beruhigend lächelnden Kommissar hatte er nun mehrfach wiederholt, dass er in diesem Augenblick gecheckt habe, was los sei. Echt und total.
Michael Weniger nickte und schickte die beiden, die in plötzliches Schweigen versanken, zur Aufnahme ihrer Personalien in den Einsatzwagen. Der Kommissar hatte sich diesmal besser im Griff als beim letzten Hinweis in der Vermisstensache Lucia de Bertolli.
Vor drei Wochen, als die Vierzehnjährige verschwunden war, hatte er sofort unter Erfolgsdruck gestanden. Er mochte es nicht, wenn kaum lösbare Aufgaben in sein geordnetes Leben als Kriminalkommissar einbrachen. Er, der Pedant, war lieber für Dienstpläne und Berichtswesen zuständig. Er war geschaffen für den Innendienst. Niederlagen hasste er sowieso, und anders ließen sich die bisher erfolglosen Ermittlungen nicht bewerten. Deshalb war es für ihn ungemütlich geworden in der niederrheinischen Provinz, wo man sich kannte und ein ungewöhnlicher Kriminalfall die Leute ausdauernd beschäftigte.
Beim letzten Fest in Nachbars Garten war ihm das Tuscheln über seine angebliche Untauglichkeit nicht entgangen. Allerdings, das musste er zugeben, hatte ihn der Fall des Mädchens jetzt gepackt. Deshalb versagte Michael Weniger in seinem Bemühen, professionelle Distanz zur Kritik an seiner Person und seiner Arbeit zu schaffen. Beim überraschenden Anruf, dass zwei junge Leute einen Leichnam gefunden hatten, hatte ihn ein seltsames, in gewisser Hinsicht perverses Hochgefühl beschlichen. Er war sich sofort sicher, dass Lucia endlich entdeckt worden war. Er fühlte die Notwendigkeit, das Rätsel ihres Todes zu lösen.
Der Kommissar lud auf seinem Laptop die sorgfältig von ihm selbst archivierten Daten hoch. In seiner eigenen Logik hatte er hier Fakten konzentriert und Anhaltspunkte kombiniert. »Weniger ist mehr«, diese Ansage setzte er schon immer den Kollegen entgegen, die in der Angst, ein Vorgesetzter könnte ihnen einen Fehler vorwerfen, lieber in einer Flut von ungefilterten Informationen untergingen. Man muss sich entscheiden können, dachte er, erinnerte sich aber schmerzlich daran, dass ihn seine mitunter kleinliche Genauigkeit schon an Entschlüssen gehindert hatte.
»Hier ist verzeichnet, was in Lucias Tasche war, die wir kurz nach ihrem Verschwinden gefunden haben. In einem Wäldchen hinter Wesel und der Autobahn 3, im Polizeibericht Ortslage am Postweg zwischen Drevenack und Marienthal. Weit draußen auf dem Land weggeworfen vor etwa drei Wochen«, sagte Weniger zu Dr. Reinhold Terheyden, der in den Streifenwagen, einen VW-Bulli, stieg.
»Schülerausweis, ein kleiner Bär als Glücksbringer, ihr Handy in einer pinken Hülle, ein paar Süßigkeiten, klumpiges Papier, dazu Sportsachen. Ich stelle mir die Situation vor. Am Nachmittag des 5. September geht eine fröhliche Vierzehnjährige mit Zahnspange und welligem dunkelblonden Haar in die Rundsporthalle der sechzigtausend Einwohner großen Stadt, um mit anderen Mädchen Badminton zu trainieren. Sie ist gut, ehrgeizig, technisch versiert, sie beherrscht das schnelle Spiel. Andere Mädchen reißen sich darum, mit ihr im Doppel anzutreten. Dann geht es in die Umkleide und unter die Dusche. Es wird viel gekichert und pausenlos geplappert. Irgendjemand macht noch Witzchen über Lucias blau-gelb-weiß geringelte Socken im schrägen Zusammenspiel mit den neonleuchtenden Sportschuhen. Dann geht sie los, erst in einer kleinen Gruppe, später allein. Doch anders als sonst kommt sie nicht zu Hause an. Irgendwo zwischen der Sporthalle und den gerade mal achthundert Metern bis zum Haus ihrer Familie verschwindet Lucia.«
Weniger saß versunken da, als erzählte er sich die Geschichte zum ungezählten Mal selbst. Dr. Reinhold Terheyden blickte auf den Kommissar, der da vornübergebeugt hockte, an sich zweifelte und an einem zermürbenden Fall krankte, und verstand.
Der Tatortspezialist war auch ausgebildeter Rechtsmediziner. Er hatte das Opfer ausgiebig untersucht und sagte: »Hey, Mann, reiß dich zusammen. Wir haben seit heute gute Ansatzpunkte. Ich weiß schon eine Menge. Sie ist durch Messerstiche schwer verletzt, wahrscheinlich auch getötet worden. Vielleicht haben auch die nächtliche Kälte, die am Tag des Verschwindens herrschte, oder das kühle Wasser zum Tod geführt. Ertrunken ist sie nicht, das steht fest.«
»Das .«
»Das wirft Fragen auf. Von ihrem Weg nach Hause wird Lucia kaum einen Abstecher in die zu dieser Dämmerstunde düstere Lippeaue gemacht haben. Andererseits trennt nur ein Bahndamm die Rundsporthalle von den Lippewiesen. Von hier ist es nicht weit bis zur Flussmündung in den Rhein. Zwischen Halle und Aue liegt die Bahnstrecke nach Holland beziehungsweise in die andere Richtung nach Oberhausen. Du weißt, die Strecke, die als Betuwe-Linie gigantisch ausgebaut werden soll. Daneben führt die Bundesstraße 8 über Dinslaken und Voerde ins Ruhrgebiet.«
»Das wäre dann die übliche Geschichte«, folgerte Weniger. »Unbekannter lauert jungem Mädel auf, verschleppt und vergewaltigt es. Um seine Tat zu verschleiern, legt er das Opfer so ab, dass es nicht gefunden werden kann. War es zwangsläufig so?«
»Könnte sein. Wobei wir aufgrund der Spuren an der Leiche nun tatsächlich von einer Vergewaltigung ausgehen müssen. Ob ausreichend DNA oder sogar Blutspuren vom Täter vorhanden sind, müssen wir untersuchen. Wir müssen auch schauen, ob sie mit denen übereinstimmen, die wir kurz nach der Tat gefunden haben. Er muss jedenfalls wie von Sinnen gewütet haben, dreißig Messerstiche haben wir gezählt.«
»Das Schwein wollte sie vernichten, sie auslöschen. Wenn der Mörder aus Lucias Umfeld stammt oder zumindest in der Stadt lebt und sein Name bekannt wird, dann wird ihn der Hass treffen. Das wird ein Kesseltreiben. Also halt bloß die Schnauze, erst mal nicht mehr als nötig an deine Spezis von den Medien.«
»Langsam, langsam.« Terheyden war überrascht von diesem Ausbruch. »Wir gehen davon aus, dass das Mädchen nicht im Bereich des Flusses getötet wurde, sondern hierher transportiert wurde. Slip und Leggins haben wir kurz nach ihrem Verschwinden in der Nähe der Niederrheinhalle gefunden. Der Täter hat sie weggeworfen und sich nicht die Mühe gemacht, alle Kleidungsstücke und sonstigen Spuren zu beseitigen. Gefunden haben wir dann ein paar Tage später ihre Tasche. Weit entfernt an der Autobahn.«
»Wir müssen vorankommen. Schnell, bevor der Sturm der vermeintlich Aufrechten gegen die Kriminellen und am Ende gegen uns wieder losbricht.«
»Du hast bisher alles getan in der Vermisstensache. Suchhunde, Hubschraubereinsatz, Großbefragung, DNA-Untersuchung. Jetzt ist endlich die Leiche gefunden worden. Du hast alle Chancen, den Fall zu lösen. Konzentrier dich darauf. Und lass deine Pedanterie sein, rücke die Zusammenhänge in den Vordergrund. Ich rechne mit genügend DNA-Spuren, die gleichen wir ab. Der Ausgangspunkt dürfte gut sein. Wir haben gute Chancen, das Rätsel schnell zu lösen.«
Weniger blickte aus dem Fenster des Streifenwagens, vor dem die Fahnder vor idyllischer Landschaftskulisse herumwuselten. Der Leichenwagen rollte an den Rand der befestigten Straße. Hinter Flatterband hatte sich eine heftig diskutierende Zuschauergruppe eingefunden. Wenigers Magen krampfte sich zusammen, schon wieder spürte er den Druck. Die da hinter der Absperrung würden ihn öffentlich schlachten, wenn er Lucias Mörder nicht schnell überführte. Ein Blick in Facebook oder den örtlichen Lokalkompass im Internet genügte, um zu wissen, dass die Stimmung seit Lucias Verschwinden und erst recht jetzt beim Leichenfund brodelte.
Der Kommissar konnte keinen klaren Gedanken zum Fortgang der Aufklärungsarbeit fassen. Sein Blick ins...
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