Schweitzer Fachinformationen
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I Ein juristisches Vorspiel
In letzter Zeit hatte der Fickel nicht zuletzt zu seiner eigenen Überraschung einen gewissen beruflichen Erfolg als Strafverteidiger erlebt beziehungsweise überlebt. Manch einer an seiner Stelle hätte daraus womöglich voreilige Schlüsse gezogen. Aber erstens brachte der Fickel nur ein geringes Interesse für fremder Leute Mord und Totschlag auf und zweitens war ihm das Strafrecht irgendwo viel zu stressig, ganz zu schweigen von den nicht gerade pflegeleichten Mandanten. Dafür war das Leben einfach zu kurz.
Immerhin hatte er sich auf Anraten des Kollegen Amthor inzwischen eine eigene Visitenkarte zugelegt, mit hübschem Goldrand und einem kleinen Paragrafensymbol direkt neben seinem Namen. Natürlich reine Hochstapelei, denn das Gesetz erschien ihm nach wie vor als ein Buch mit sieben Siegeln. Leider war dem Amthor bei der Bestellung, ob vorsätzlich oder nicht, ein kleiner Zahlendreher in der Handynummer unterlaufen, weshalb den Fickel bis auf Weiteres niemand in seinen gewohnten Abläufen störte, weder als Terminhure[1] am Meininger Amtsgericht noch beim Kakteenzüchten in der Gartenanlage Werratal II noch beim feierabendlichen Skatdreschen in der Goetzhöhlenbaude.
Doch wie immer, wenn das Schicksal besondere Widerwärtigkeiten im Tank hat, fing alles ganz harmlos an. Eines schönen Tages im Juli, der dank des Jahrhunderthochs »Gunther« für mitteldeutsche Verhältnisse mal wieder viel zu heiß war, saß der Fickel gemütlich im klimatisierten Anwaltszimmer des Meininger Amtsgerichts und trank genüsslich eine Tasse Filterkaffee mit Kondensmilch und drei Spritzern Süßstoff. Die nackten Füße bequem auf den Nachbarstuhl gebettet, schmökerte er im lokalen Boulevardmagazin und genoss die beinahe vollkommene Ruhe an seinem Arbeitsplatz.
Seit die Gerichtsferien offiziell abgeschafft worden waren, hatte nämlich jeder Anwalt das Recht, eine im Juli oder August terminierte Verhandlung formlos und ohne nähere Angabe von Gründen in den Herbst verlegen zu lassen - und davon wurde von den Damen und Herren Advokaten auf schamlose Weise Gebrauch gemacht. Wie einem geheimen Abkommen gehorchend, herrschte während des Hochsommers eine Art juristischer Burgfrieden. Viele Richterinnen und Richter nutzten die Zeit, um ihre Aktenberge abzuschmelzen und/oder sich fachlich weiterzubilden, zum Beispiel im Schwimmbad. Anwältinnen und Anwälte entdeckten plötzlich ihre Familien wieder, fuhren mit Kind und Kegel an die Ostsee oder an den Gardasee und lebten ihre professionelle Streitsucht zur Abwechslung im Kreise ihrer Liebsten aus.
Da im Moment sowohl in den benachbarten Bundesländern Hessen und Bayern als auch in Thüringen selbst die Schulferien ausgebrochen waren, bildete Anwalt Fickel im Meininger Amtsgericht gewissermaßen den letzten Notnagel des Rechtsstaates oder, je nach Blickwinkel: den Sargnagel. Meistens jedoch gab es nicht einmal für ihn etwas zu tun, und eigentlich erschien er nur zur Arbeit, um gemeinsam mit der gerichtlichen Serviceeinheit Therese und dem Justizwachtmeister Rainer Kummer in der Kantine zu Mittag zu essen, manchmal auch in Begleitung seines Kollegen und ewigen Widersachers Amthor. Aber wenn es so heiß war wie heute, dann klebte selbst der lieber daheim auf seinem Kunstledersessel und ließ sich vom Schreibtischventilator hypnotisieren.
Ausgerechnet, als der Fickel mitten in den Sportmeldungen war und ein aufschlussreiches Interview mit dem Thüringer Landesbobtrainer las, kam die Therese mit dramatisch wehenden Haaren hereingeeilt und verschluckte sich beinahe vor Aufregung. »Zimmer hundertzwoundzwanzig, schnell«, hechelte sie.
Jetzt dauerte es natürlich eine kleine Ewigkeit, bis der Fickel die Zeitung fein säuberlich zusammengefaltet hatte und in seine brandneuen Badelatschen aus dem Ein-Euro-Shop geschlüpft war. Die Serviceeinheit zog die Augenbrauen hoch und stöhnte noch immer schwer atmend: »Menschenskind! Da ist ja sogar der Amthor schneller!«
Aber der Fickel ließ sich durch solch durchschaubare Provokationen keineswegs aus der Ruhe bringen. »Worum geht's denn da eigentlich?«, erkundigte er sich sicherheitshalber. Man wollte schließlich nicht in irgendwas hineingeraten, Arbeit zum Beispiel.
»Eine alte Dame braucht dringend einen Anwalt. Der Richter hat gemeint, wenn in fünf Minuten keiner da ist und den Antrag stellt, weist er die Klage ab.« Sie blickte kurz auf die Uhr. »Das heißt, jetzt sind es eigentlich nur noch zweieinhalb Minuten. Also bloß keine Eile!«
Bei der Hektik, die die Therese verbreitete, konnte man meinen, es ginge mal wieder um Leben und Tod, dabei ist das erfahrungsgemäß in einem Amtsgericht so gut wie nie der Fall, schon gar nicht in Meiningen. Fickels Entscheidung stand natürlich längst fest: »Ich deichsel das schon«, brummte er und drückte der Therese seine angelesene Zeitung in die Hand. Schließlich hatte er als Timurhelfer[2] gelernt, sich Senioren, Schwangeren und anderen benachteiligten Personen gegenüber stets aufmerksam und zuvorkommend zu verhalten.
Als Anwalt Fickel keine anderthalb Minuten später auf den Flur des Amtsgerichts einbog, saß dort vor dem Sitzungsraum eine fein zurechtgemachte alte Dame mit schlohweißem, im Stil der 1920er-Jahre frisiertem Haar, die dem Fickel auf Anhieb irgendwie bekannt vorkam. Sie umklammerte die Henkel einer ledernen Einkaufstasche, die sie auf ihren Schoß gebettet hatte. Der Rollator stand in griffbereiter Nähe. Neben ihr saß eine streng aussehende hagere Dame mittleren Alters, ungefähr der gleiche Jahrgang wie der Fickel, in einem einfachen, aber trotz der Hitze hochgeschlossenen Kleid Marke »Alte Jungfer«[3]. Ihr überwiegend brünettes Haar war zu einem strengen Dutt zusammengebunden. Ihr Schopf war bereits mit vereinzelten grauen Haaren gespickt, die jedoch eher einen spielerischen Flirt mit dem Alter suggerierten als eine dramatische lebenslange Verbindung.
»Wo bleibt denn jetzt dieser Anwalt?«, fragte die jüngere der beiden Damen ungeduldig. »Ich glaube, der Richter verliert gleich die Geduld.«
»Sie sind .?«, erkundigte sich der Fickel vorsichtshalber.
»Mein Name ist Kemmerzehl, ich bin die persönliche Assistentin von Frau Langguth. Auf der Geschäftsstelle hat man mir versichert, dass gleich jemand kommt«, sprach die jüngere Frau in leicht genervtem Tonfall. Der Klang ihrer Stimme wirkte einschüchternd.
»Langguth?« Der Fickel blickte leicht irritiert zur alten Dame hinüber. »Etwa wie die Rote Elfriede?«
Frau Kemmerzehl bestätigte mit einer kurzen Bewegung ihrer Augenlider. »Aber sie wünscht, nicht so angesprochen zu werden«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Jetzt war der Fickel erst mal baff. Denn die Rote Elfriede war in Meiningen nicht mehr und nicht weniger als eine Legende: Verfolgte des Naziregimes, Vorzeigekommunistin und zig Jahre Meiningens Bürgermeisterin. Der Fickel erinnerte sich verschwommen an eine ältere Dame, die am 1. Mai oder 7. Oktober, dem Tag der Republik, ebenso glühende wie langweilige Reden über die Wonnen des Aufbaus des Sozialismus gehalten hatte. Sie galt damals in der Bevölkerung als eine Überzeugte, also praktisch nicht zurechnungsfähig. Dennoch richteten die Meininger gern ihre Eingaben[4] an sie, weil sie sich für die Stadt und ihre Bürger wirklich einsetzte und denen da oben in Suhl oder Berlin so richtig Dampf machte. Seit der Wende hatte man nichts mehr von ihr gehört.
»Dass die noch lebt«, sagte der Fickel fast ehrfürchtig, denn selbst in seinen nicht mehr ganz taufrischen Jugenderinnerungen kam sie ihm fast wie eine Greisin vor.
»Sie wird bald achtundneunzig, und sie erfreut sich bester Gesundheit«, berichtete ihre persönliche Assistentin. »Biologisch gesehen ist sie erst achtzig.«
»Warum flüstern Sie denn so, Astrid?«, erkundigte sich die Rote Elfriede mit einer hohen, aber keineswegs dünnen Stimme. »Sie wissen doch, dass ich auf dem Ohr nicht mehr so gut höre.«
»Nichts Wichtiges«, wiegelte ihre Assistentin ab und blickte erneut auf die Uhr. »Ich glaube, die Verhandlung fängt gleich an«, sagte sie. »Wir sollten mal langsam da reingehen. Wir beide schaffen das auch ohne Anwalt.«
Spätestens jetzt war es für den Fickel an der Zeit, sich zu erkennen zu geben. Er stellte sich den Damen höflich vor und deutete sogar eine leichte Verbeugung an. Astrid Kemmerzehl ließ ihren Blick skeptisch über Fickels Latschen, seine Shorts und schließlich auch das Sahnehäubchen in Fickels Garderobe wandern: das nigelnagelneue Hawaiihemd, das vorne mit einem Sonnenaufgang und am Rücken mit einem Sonnenuntergang bedruckt war. Als Anwalt wurde man nicht unbedingt für seinen Style oder seinen Geschmack bezahlt.
»Aber Sie haben ja nicht mal einen Binder um, junger Mann«, beschwerte sich die Rote Elfriede dennoch. Der Fickel hatte für solche Fälle natürlich vorgesorgt. Umständlich zog er eine vorgeknotete Notkrawatte aus der Hosentasche und zwängte sie eilig unter den speckigen Hemdkragen - farblich gesehen natürlich: information overload. Frau Langguth nickte zufrieden. »Diesen Halsabschneidern zeigen wir's, gell?«
Aber jetzt wollte der Fickel zumindest der Form halber gerne wissen, worum es in dem Rechtsstreit denn nun eigentlich gehe. Astrid Kemmerzehl setzte ihm den Sachverhalt mit eiligen Worten auseinander: Die Rote Elfriede hatte dem Historischen Verein von Meiningen eine Notenpartitur aus ihrem familiären Erbe zur Ansicht gegeben. Doch als sie es zurückforderte, hatte man sich im Historischen Verein blöd gestellt und die Herausgabe verweigert....
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