Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Nora Hespers wächst mit vielen Geschichten über ihren Opa auf: den Widerstandskämpfer Theo Hespers, der von den Nazis gejagt und hingerichtet wurde. Ihr Vater erzählt sie bei jeder Gelegenheit. Immer und immer wieder. So oft, dass die jugendliche Nora irgendwann auf Durchzug stellt. Dann verlässt der Vater die Familie, und mit ihm verschwindet auch der Großvater aus ihrem Leben. Jahre später, Nora Hespers arbeitet inzwischen als freie Journalistin für Hörfunk und TV, wird sie wieder mit ihrem Großvater konfrontiert. Und das zu einer Zeit, in der die freiheitlich-demokratischen Werte, für die er gekämpft hat und für die er gestorben ist, bedroht werden wie lange nicht mehr. Für Nora Hespers ist es der Startpunkt, sich mit der Geschichte ihres Opas auseinanderzusetzen. Doch was kann man aus dem Widerstand damals für das Heute lernen?
Nora Hespers' Buch ist eine Auseinandersetzung mit dem Leben ihres Großvaters Theo Hespers. Außerdem ist es die berührende Geschichte einer Wiederbegegnung mit dem Vater - fünfzehn Jahre nachdem er seine Familie über Nacht verließ und sie den Kontakt zu ihm abbrach. Dabei richtet Hespers einen leidenschaftlichen Appell an uns alle: Unsere demokratischen Freiheitsrechte, für die Menschen wie Theo Hespers sich aufgeopfert haben, müssen heute mehr denn je gegen Angriffe von rechts verteidigt werden.
Jede Geschichte ist ein Prozess. Eine Aneinanderreihung von Ereignissen. Eine Abfolge von Entscheidungen, die durch Individuen getroffen werden. Wenn diese Abfolge von Ereignissen und Entscheidungen einen besonders großen, kollektiv spürbaren Einfluss hat, dann sprechen wir davon, etwas Historisches erlebt zu haben. Dann erleben wir uns selbst als Teil dieser Geschichte. Dann sind wir zum Beispiel Weltmeister geworden. So entstehen historische Daten. All die kleinen Entscheidungen auf dem Weg dorthin - und besonders die vielen kleinen Momente des Scheiterns - treten dahinter zurück. Oder werden in der Retrospektive als Heldengeschichten erzählt. Meistens. Manchmal gibt es auch Heldinnengeschichten. Die wurden bislang allerdings deutlich seltener erzählt.
Am Ende aber ist jedes einzelne Leben durch die persönlichen und individuellen Entscheidungen unserer Vorfahr:innen geprägt. Wir sind jetzt hier an diesem Punkt, weil zu jedem anderen Zeitpunkt davor Menschen Entscheidungen getroffen haben. Die Entscheidung, etwas zu tun, oder auch die Entscheidung, etwas zu lassen. Und es ist schon einigermaßen erstaunlich, dass wir trotz aller Grausamkeiten, trotz all der Gewalt, die wir uns als Menschen gegenseitig Tag für Tag überall auf der Welt antun, so weit gekommen sind. Die Optimistin würde sagen: Ist doch alles in allem gut gelaufen! Die Pessimistin würde zurückblicken und fragen: Aber war es das wert? All diese Menschenleben? Ich frage mich: Wie weit sind wir wirklich gekommen? Und wo in diesem ganzen Prozess stehen wir eigentlich heute?
Warum ich mich das frage? Nun, die jüngere deutsche Geschichte ist hinlänglich bekannt. Für alle jene, die eine kleine Zusammenfassung brauchen: Nach einer kurzen Phase der Demokratie während der Weimarer Republik (1918 bis 1933) riss im Januar 1933 die Nationalsozialistische Partei Deutschlands (NSDAP) die Macht an sich und ernannte den gebürtigen Österreicher Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler. Es folgten die grausamsten, unmenschlichsten und zerstörerischsten zwölf Jahre in der deutschen und europäischen Geschichte. Ja, ja, ich weiß, das haben wir alle mal im Geschichtsunterricht gelernt. Ich auch. Und ich kann eins verraten: Ich hatte genau null Interesse an Geschichte und habe aus dieser Zeit ungefähr nichts behalten. Bis auf diesen einen Satz einer älteren Geschichtslehrerin, den ich damals als Pubertierende absurd lustig fand und deswegen bis heute zitieren kann: »Die russische Revolution ist auch mal lecker ins eigene Auge gegangen.« Ich habe immer noch nicht die leiseste Ahnung, was dieser Satz konkret bedeuten soll.
Ich bin keine Historikerin. Ich bin Journalistin. Eine, die Sportwissenschaften studiert hat. Im historischen Fach bin ich komplette Quereinsteigerin. Mit einem allerdings sehr besonderen Zugriff auf die jüngere deutsche Geschichte: Denn mein Großvater Theo Hespers war Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Regime in Deutschland. Und sein Sohn Dietrich Franz Hespers ist nicht nur mein Vater, sondern auch Zeitzeuge. Denn er wurde am 21. Februar 1931 geboren. Zum Zeitpunkt der sogenannten Machtergreifung der Nazis ist er gerade mal zwei Jahre alt. Bereits wenige Monate danach, im Frühjahr 1933, muss sein Vater Theo Deutschland verlassen. Was Theo damals nicht weiß: Es wird keinen Weg zurück geben. Er wird die Stadt, in der er aufgewachsen ist, nie wiedersehen. Er wird als Gefangener der Nazis zurück nach Deutschland gebracht werden. Inhaftiert, verhört, gefoltert, zum Tode verurteilt und am 9. September 1943 in einer Garage der Haftanstalt Berlin-Plötzensee erhängt werden. Über 250 politische Gefangene werden in den Blutnächten von Plötzensee zwischen dem 7. und 12. September 1943 im Akkord hingerichtet.1 Bei vielen läuft das Begnadigungsverfahren noch. Jeweils acht Menschen werden mit Drahtschlingen an den Fleischerhaken aufgeknüpft, die an einem schwarzen Balken im hinteren Teil der Garage befestigt sind. Weil bei Angriffen durch die Alliierten das Fallbeil zerstört wurde. Aber der Reihe nach.
1919/?20: Mein Großvater Theo (2. v.r.) als Schüler des Stiftisch Humanistischen Gymnasiums in Mönchengladbach mit Mitschülern und Lehrer. So lässig, wie nur ein Teenager in eine Kamera guckt.
Mein Großvater Theodor Franz Maria Hespers wurde am 12. Dezember 1903 in Mönchengladbach geboren. Einer mittelgroßen Stadt am Niederrhein, nahe der niederländischen Grenze, in der heute etwas mehr als 260000 Menschen leben. Als mein Großvater geboren wird, ist Mönchengladbach eine Stadt mit einer florierenden Textilindustrie. Theo geht dort aufs Stiftisch Humanistische Gymnasium, das auch ich über siebzig Jahre später besuchen werde. Tradition ist Tradition. Im Gegensatz zu mir darf mein Großvater dort aber nicht sein Abitur machen. Denn sein Vater erlaubt ihm das nur, wenn er ein Theologiestudium anschließt. Was zur damaligen Zeit heißt: Priesterweihen und Zölibat. Denn die Familie meines Großvaters ist streng katholisch. Zwei seiner Onkel - Pater Alvaro und Pater Bruno - dienen dem Papst in Rom. Seine Tante Maria ist als Schwester Christophera Priorin eines Klosters in der Nähe von Venlo. Auch mein Großvater Theo ist überzeugter Katholik. Nur von der Kirche als Institution ist er nicht ganz so überzeugt. Und die Aussicht auf ein Leben im Zölibat - nun ja -, die schien ihm wohl nicht allzu attraktiv.2
Also macht mein Großvater kein Abitur, geht demzufolge auch nicht studieren und absolviert stattdessen eine Ausbildung. Eine kaufmännische Lehre bei einer Buntweberei. Und, was soll ich sagen, auch mein Lebensweg wird diesbezüglich ähnlich verlaufen. Das soll natürlich nicht heißen, dass ich die Reinkarnation meines Großvaters bin - das wäre eine sehr tragische Geschichte. Aber es tauchen bei meiner Recherche immer wieder Parallelen auf, die mich stutzig werden lassen. Von den meisten dieser Überschneidungspunkte hatte ich bis vor kurzem nicht die leiseste Ahnung, weil ich bei den sich immer und immer wiederholenden Geschichten meines Vaters über »den Krieg« die Ohren auf Durchzug stelle. Denn, mal ehrlich, wenn man sowohl zu Hause als auch in der Schule ständig mit den historischen Ereignissen aus dem »Dritten Reich« beschallt wird, dann stellt sich bei aller künstlerischer Performance eine Art Abnutzungseffekt ein.
Nach seiner Ausbildung geht mein Großvater an die Preußische Höhere Fachschule für Textilindustrie und macht dort einen Werkmeister-Kursus. Heute wäre das ein Studium zum Textilingenieur. Auch ich werde nach der Ausbildung studieren - Sportjournalismus ist allerdings wirklich was komplett anderes. Während ich in meinem Studium mit Anfang zwanzig gegen Hürden, Stoppuhren und Bänderrisse kämpfe, wird damals mein gerade neunzehn Jahre alter Großvater Theo politisch aktiv - und macht das erste Mal Bekanntschaft mit einer Gefängniszelle. Denn im Oktober und November 1923 kommt es in einigen größeren Städten im Rheinland zu Auseinandersetzungen mit separatistischen Gruppen.3
Für alle, die in Geschichte genauso wenig aufgepasst haben wie ich: Zu dieser Zeit, also nach Ende des Ersten Weltkrieges, waren große Teile des Rheinlandes von Frankreich und Belgien besetzt. Und es gab separatistische Bestrebungen, die das Rheinland und auch Teile des Ruhrgebiets komplett unter französischer Führung wissen wollten. Da die französischen und belgischen Soldaten die deutsche Bevölkerung massiv drangsalierten, waren nicht alle so begeistert von der Idee einer Abspaltung unter französischer oder belgischer Führung. Auch meinem Großvater gefiel das nicht, und so beteiligte er sich »aktiv und führend« am Widerstand gegen die Separatisten.4 Als eine separatistische Gruppe die Fahne der »Rheinischen Republik«5 auf dem Mönchengladbacher Rathaus Abtei hisst, holt mein Großvater sie wieder runter - und wird dafür von den belgischen Behörden ins Gefängnis geworfen. Nach drei Tagen kommt er wieder frei und hat großes Glück, dass er nicht vor einem Kriegsgericht angeklagt wird. Funfact: Auch der spätere Reichspropagandaminister...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.