Schweitzer Fachinformationen
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Dieses Buch ist ein Experiment. Es unternimmt den Versuch, eine Geistesgeschichte der geistigen Beeinträchtigung zu schreiben, indem es die Debatten über den Wert behinderten Lebens nachzeichnet, wie sie in den letzten 150 Jahren geführt wurden. Abgrund dieser Epoche war ein schier unvorstellbares Massenmordprojekt, das eine komplexe Vorgeschichte hat und eine erstaunlich lange Nachgeschichte. Die Eugenik zu verlernen, hat sich in Deutschland als ein außerordentlich zäher Prozess erwiesen, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
Dem nationalsozialistischen »Euthanasie«-Mordprogramm fielen zwischen 1939 und 1945 annähernd 300??000 Menschen zum Opfer, von denen die meisten als psychisch krank, geistig behindert oder verhaltensauffällig eingestuft waren - schätzungsweise 210??000 Menschen im Deutschen Reich und weitere 80??000 in den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion. Zu ihrer Ermordung wurden verschiedene Methoden eingesetzt: sechs mit Kohlenmonoxyd betriebene Gaskammern, Massenerschießungen, Überdosierung von Medikamenten, Gift und systematisches Aushungern. Nachdem der damalige katholische Bischof von Münster, Clemens August von Galen, im August 1941 die Tötungen in einer Predigt, die internationale Resonanz fand, eloquent angeprangert hatte, beendete Hitler die anfängliche Gaskammerphase (die sogenannte T4-Phase) des »Euthanasie«-Programms.1 Aber schon bald wurden 121 Männer, die für die Ermordung von Menschen mit Behinderung ausgebildet waren und praktische Erfahrung gesammelt hatten, in das besetzte Polen geschickt, um dort im Zuge der »Aktion Reinhardt« die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka zu errichten. Mit viel Energie und Einfallsreichtum begingen diese Männer ein Viertel der gigantischen, sechs Millionen Opfer fordernden Verbrechen, die heute summarisch als Holocaust bezeichnet werden.2 Nicht zuletzt, weil Aktivistinnen und Aktivisten sowie engagierte Forscher:innen hartnäckig auf dieses Schlüsseldetail in der Abfolge und den personellen Überschneidungen zwischen der Ermordung von Menschen mit Behinderung und den Morden an der europäischen Judenheit hinwiesen und weitere Verbindungen zwischen den beiden Massentötungsprogrammen aufzeigten, gelang es ihnen schließlich, sowohl in Fachkreisen 8als auch in der Öffentlichkeit einen Konsens herzustellen, dass die nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde die Anerkennung als Genozid verdienten.3
Im englischsprachigen Raum wird die Bedeutung, die der Massenmord an Menschen mit Behinderung hat, bis heute auffallend oft vor allem durch den Hinweis auf die sequenzielle Verknüpfung zwischen »Euthanasie« und dem Genozid an den Juden artikuliert. Der mittlerweile verstorbene Historiker und Auschwitz-Überlebende Henry Friedlander erzählte mehrfach, dass er wiederholt heftig dafür kritisiert wurde, die Verknüpfungen zwischen »Euthanasie« und Holocaust zu erforschen, und man ihm vorwarf, sein Ansatz sei falsch. »Wie können Sie Juden mit Verrückten vergleichen?«, fragte ihn ein hochrangiger Vertreter einer amerikanisch-jüdischen Organisation verärgert.4 Seine Antwort auf diese Frage gab er in seinem bahnbrechenden Buch Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Im Vorwort erklärte er, er sei aufgrund seiner eingehenden Beschäftigung mit den Primärquellen - vor allem mit den Dokumenten zu den Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegszeit - im Laufe der 1980er und der frühen 1990er Jahre zu der Erkenntnis gelangt, »daß die Euthanasie nicht einfach eine Einleitung, sondern das erste Kapitel des Genozids war«. Nach Einschätzung Friedlanders, der insofern in Fachkreisen ungewöhnlich war, als er sich auch eingehend mit der Verfolgung und Ermordung der Roma und Sinti beschäftigte, diente die Ermordung von Menschen mit Behinderung »als Modell für sämtliche NS-Vernichtungsaktionen«.5 Seine Einordnung war weithin überzeugend. In seinen Bemühungen, die Geschichte der »Euthanasie« angemessener in seine Präsentation der Holocaust-Geschichte zu integrieren, bezeichnete das US Holocaust Memorial Museum auf einer kürzlich erstellten Webseite das »Euthanasie«-Mordprogramm als »eine Probe für die umfassendere NS-Völkermordpolitik«.6 Der Autor Kenny Fries (jüdisch, homosexuell und körperbehindert) schrieb 2020 in der New York Times über den Zusammenhang zwischen den beiden Massenmordprogrammen unter der Überschrift: »Vor der >Endlösung< gab es einen >Probelauf<. Zu wenige kennen die Geschichte 9des systematischen NS-Massenmords an Menschen mit Behinderung. Deshalb schreibe ich.«7
Die Wechselbeziehungen zwischen »Euthanasie« und Holocaust hervorzuheben, so asymmetrisch ihr Ausmaß auch war und obwohl die Zusammenhänge anfangs eher intuitiv als anhand tatsächlicher Verknüpfungen erfasst wurden, erfüllte in Deutschland in den Jahren um das Ende des Kalten Krieges jedoch weitere wichtige Funktionen. Dazu gehörte nicht zuletzt die unerlässliche Unterstützung, die solche Hinweise boten, um das - so lange zurückgewiesene - generelle Anliegen der Behindertenrechte voranzubringen.8 Denn in Bezug auf die Misshandlung und Ermordung von Menschen mit Behinderung hatte es in den Nachkriegsjahrzehnten eine (rückblickend schlicht erschütternde) breite öffentliche Unterstützung für die Täter gegeben, wohingegen die Opfer und ihre Familien weiterhin geschmäht wurden.
Zwischen Erinnerungspolitik, Pflegepraxis und den Einstellungen der breiten Öffentlichkeit gab es komplexe Überschneidungen, aber Fortschritte an allen Fronten erfolgten nur quälend langsam, und Bemühungen, Menschen mit Behinderung als gleichberechtigt und Respekt verdienend anzuerkennen, stießen auf heftigen Widerstand. Nicht nur ehemalige Nazis mit ihrer unermüdlichen Findigkeit, die unmittelbare Vergangenheit umzuschreiben, sondern auch Nichtnazis und Nazigegner hatten erhebliche Schwierigkeiten, sich dem zu stellen, was geschehen war. Nur wenige der an den Verbrechen beteiligten Ärzte wurden je zur Rechenschaft gezogen, vielmehr machten sie in der Nachkriegszeit brillante Karrieren und fungierten häufig weiterhin als Experten, die zu unzähligen Fragen rund um den Themenkomplex Behinderung ihr Urteil abgaben. Nach wie vor grassierten Vorurteile und Verachtung. Bis weit in die Nachkriegszeit hinein wurden Personen mit allen möglichen - körperlichen, geistigen und psychischen - Beeinträchtigungen ganz offensichtlich nicht als Menschen im vollen Sinn angesehen, und ihr Leben, ihr Körper und ihre Seele galten als weniger wertvoll als die Leben, Körper und Seelen ihrer Mitmenschen ohne Beeinträchtigungen. Mehr oder weniger unhinterfragt, wenn auch in sorg10fältiger abgewogenen Formulierungen hielt sich »eugenisches« Denken in seinen vier Ausprägungen: als Hackordnung des menschlichen Werts, als Überzeugung, dass vor allem geistige Beeinträchtigungen primär auf Vererbung und nicht auf Zufall oder äußere Schädigungen zurückzuführen seien, als überzogenes Gefühl der eigenen Überlegenheit und als Einstellung, die als minderwertig Eingestuften für gefährlich, abstoßend oder bestenfalls bedauernswert zu halten.
Es dauerte bis in die 1980er und 1990er Jahre, bis nicht nur die »Euthanasie«-Morde als Massenmord ernst genommen wurden, sondern auch die annähernd 400??000 »eugenischen« Zwangssterilisationen - die meisten vorgenommen an Personen, die man als »schwachsinnig« bezeichnete - überhaupt als Unrecht offiziell anerkannt wurden und man den Zigtausenden (oft zutiefst traumatisierten) Überlebenden auch nur ein beleidigend geringes Maß an Anerkennung und Entschädigung zugestand.9 Erst nach der Wiedervereinigung wurde Mitte der 1990er Jahre der Zusatz, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, in das deutsche Grundgesetz aufgenommen.10 Nahezu ebenso lang dauerte es, bis sich eine neue, wenn auch fragile Vereinbarung durchsetzte, auch Personen mit schwersten Beeinträchtigungen als gleichberechtigt anzusehen, mit allem, was ein derart verändertes Verständnis für die erforderlichen Finanz- und Infrastrukturinvestitionen in das Bildungswesen und die Wohlfahrtspflege auf allen Ebenen nach sich ziehen sollte.11 Und erst im 21. Jahrhundert wurde die Anerkennung aller Verbrechen an Menschen mit Behinderung umfassender in staatliche Erklärungen, Gesetze und die nationale Erinnerungskultur einbezogen. Die Eugenik zu verlernen, erwies sich als ungemein langwieriger postfaschistischer Prozess, der noch immer nicht abgeschlossen ist. Das Ringen um würdevolle, respektvolle Behandlung im Alltag einschließlich qualitativ hochwertiger pädagogischer und unterstützender Dienste, aber auch um das Recht, »draußen« sichtbar zu sein und an allen Aspekten des Gemeinschaftslebens umfassend teilzuhaben, geht weiter.12
Menschen mit Behinderung waren...
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