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Inhaltsverzeichnis Nie betrat Eynhuf sein Amt anders, als mit einem Gefühl aus freudigem Stolz und gebührender Ehrfurcht gemischt. Im Amtszimmer des Hofrates Sauerpfister, seines gestrengen Vorgesetzten, hing ein schönes Gemälde mit vielen tausend Figürchen, "Die Wallfahrt des gesammten erbländischen Hochadels nach Maria Taferl an der Donau", das er täglich abstauben musste, da Sauerpfister diese heikle Aufgabe dem Amtsdiener nicht anvertraute. Sorgsam entfernte er jede frisch dazugekommene Fliegenspur, besonders wenn dieselbe Ordenssterne oder dergleichen ungültig zu machen schien, und zwar mit Semmelschmolle, die er nach Gebrauch seinem zweiten Vorgesetzten, Sekretär Wanzenhengst, einem passionierten Zeisigzüchter, für dessen Mehlwurmhäferl überreichte. Das Gemälde sah er nie ohne tiefen Respekt, ja selbst mit leichtem Schauer an. War ihm doch bekannt, dass kein Nachkomme von denen, die damals bei dem Freudenzuge fehlten, je eine Ministerstelle in Österreich bekleiden konnte. So stand zu lesen im "Clavis absconditarum rerum, seu liber de bicepitis Austriae acquilae confuso quasi, sed tamen directissimo volatu voluntate Domini Dominorum Septemcollis Urbis Dominique directo", das ist "Der Schlüssel zu den Rätseln der verborgenen Dinge oder Das Buch über den scheinbar wirren, dem österreichischen Doppeladler jedoch vom König der Könige, auch Herrn der Siebenhügeligen Stadt vorgeschriebenen Fluge".
Ungeheuer selten war das Buch, angeblich in Hauzenpichl gedruckt, aber jedes Kind wusste, dass in Hauzenpichl niemand drucken konnte. Übrigens hätte es Eynhuf selber nie zu lesen gewagt, da solcherlei Schriften strenge verboten waren. Im "Hortulus voluptatis dementiae praecocis" dagegen, dem "Vergnüglichen Trottelgärtlein" zu blättern, war ihm geradezu ein Hochgenuss. Belehrung hinwiederum sowie nützliche Aufmunterung schöpfte er reichlich aus dem jetzt schon hübsch teuer gewordenen Drucke "Reiseerlebnisse eines Handgängers oder Curieuse Beschreibung einer von Wien bis Passau, sowohl zur persönlichen Zerstreuung als auch zur Erweiterung seiner Bildung, jedoch nicht ohne Mühe, durchaus auf den Händen zurückgelegten sommerlichen Erholungsreise, benebst historischen und botanischen Adnotationen, sowie volkstümlichen Musikeinlagen, mit den bloßen Füßen auf dem Waldhorne zu blasen von Peregrinus Klebel von Pratzentanz, Landesfürstlich befugten, auch geprüften und beeideten bürgerl. Handgänger", einem bekannten Sonderling, der übrigens das Vorbild war, das unsern unsterblichen Schubert zu seinem "Wanderer" begeisterte, was nur sehr wenige wissen dürften. Aber all dies war Eynhufs größte Freude nicht. Nur mit Wonneschauern konnte er an dieses sein Privatlätitzerl, selbstredend reinster, jungfräulichster Natur, denken, an seine Milchzahnsammlung, die größte, vollständigste in den gesamten Erblanden, wie ihm alle Kenner versicherten. Was gab es auch Keuscheres als diese Perlenzähnchen der Unschuld, dieses Schmuckkästchen der Demut? Schien es ihm doch immer, als ob in rosa Wolken blaubebänderte Lämmer unter Leitung eines ernst blickenden Oberlammes ein sanftes Konzert auf kristallenen Triangeln schlügen, so oft er das Kästchen öffnete. Und nicht etwa aus schmutzigem Geiz oder spinnefingriger Habgier gab er sich so unsägliche Mühe, nein, für seinen Kaiser! Ihm war die Frucht so vieler Jahre zugedacht, Ihm sollten eines Tages die Zähnchen, appetitlich zum Tableau arrangiert, entgegenlachen, zur Jubiläumszahl seiner Thronbesteigung anmutig zusammengestellt.
Zum minutiös symmetrischen Aufbau der erhabenen Zahl fehlte gerade ein Milchzahn, ein Umstand, der Eynhuf viel Kopfzerbrechen machte. Ein weniger pflichttreuer, oberflächlicher Mensch hätte einen x-beliebigen Milchzahn genommen, aus weiß Gott was für einem missgeborenen Munde, und das Tableau dem nächstbesten Papparbeiter zur Fertigstellung übergeben. Wie ganz anders dachte da unser Hofsekretär. Er musste, das stand bei ihm fest, der schönste sein, sozusagen der Fürst aller Milchzähne, ein Zahn der größten lebenden, allgemein anerkannten Schönheit. Das war doch klar. Aber wer war das nur? Oft und oft hatte er angestrengt nachgedacht und sich sogar beim Nasenbohren erwischt. Nichts fiel ihm ein. Da plötzlich - wie ein Wunder - stand es sonnenklar vor seinem geistigen Auge: gestern Abend im Theater - die Höllteufel!
"No, da hat man's! Die Höllteufel! Jetzt war's gelöst, was mich beunruhigt und mir selbst die Erledigung des seit vielen Tagen so sehnlich erwarteten Verdauungsaktes versagt hat." Freudig tanzte er auf seinen schwarzen Storchenbeinen um den grünen Diplomatenschreibtisch herum, nicht achtend, dass er dabei den in Tragbuttenform gehaltenen mächtigen Papierkorb umschmiss. Zu allem Unglück öffnete sich die Türe, Hofrat Sauerpfister trat ein und musterte das tolle Treiben seines Untergebenen mit ernstem Blicke. "Verzeihung", murmelte Eynhuf, "ich gab nur meiner Freude submissest darüber Ausdruck, dass Seine Majestät, der König von Portugal, die Schafblattern glücklich überstanden hat, wie ich dem Amtsblatte soeben entnehme." Diese loyale Kundgebung befriedigte den gestrengen Amtsvorstand sichtlich und ließ ihn ganz vergessen, warum er gekommen war. Gemessenen Schrittes ging er in sein Sanctissimum zurück, um zum dritten Male zu frühstücken. Die Diurnisten Kuscher und Schluckentritt ließen, als er durch das Vorzimmer schritt, emsig die Gänsekiele übers Papier rascheln, hatten sie doch, da das Amt fast ressortlos war, alle vorhandenen Akten nochmals in grüner Tinte mit schwarz-gelben Anfangsbuchstaben zu kopieren.
Berauscht von der Eingebung, die ihm wie aus heiterem Himmel gekommen, saß Eynhuf still an seinem Schreibtisch und spielte ununterbrochen mit dem Falzbein bis Schlag drei Uhr, zu welcher Stunde der pflichttreue Beamte das Büro zu verlassen pflegte, um sich in sein gewohntes Speisehaus "Zur Flucht nach Ägypten" zu begeben.
Dort war ein feinsinniger Kreis von Gleichgesinnten versammelt, die, nachdem sie das gemeinsame schwere, jedoch ehrende Joch der Amtspflichten an den Nagel gehängt hatten, sich in maßvoll gehaltenen Gesprächen, ganz auf dem Boden des "Wiener Diarium" fußend, zu unterhalten pflegten. Um diese Stunde war auch Vater Zumpi ständiger Gast des Lokales. Er liebte es, sein Seidel schwarzen Kaffee zu schlürfen und spielte sein regelmäßiges Tarock mit noch zwei andern Hofzwergen, den letzten Überlebenden des einst so geachteten Standes, und dem gleichfalls pensionierten Hofriesen Simson Baumrucker, einem gebürtigen Tiroler, der seinerzeit wegen seines Rosenkranzes aus Sechspfünder Kanonenkugeln nicht mit Unrecht gefürchtet und geachtet war. Doch heute war der Mann harmlos, stocktaub und zitterte so arg, dass alles laue Bier im Lokale, der sogenannte Fensterschwitz, appetitlich schäumte. Das machte ihn in weiten Kreisen beliebt und sicherte ihm die Wertschätzung von Seiten des Wirtes.
Der Riese schlug dröhnend mit den Karten auf den Tisch, die Zwerge quäkten und krächzten, doch Eynhuf ließ sich nicht stören, schlürfte seine Suppe und blätterte mit einem Zahnstocher in einem sogenannten Fingernagelkalender hin und her, einem winzigen Büchlein, in dem er so gerne las, waren doch alle Geburtstage der höchsten Herrschaften darin verzeichnet, Hof-Normatage und alles, was sonst ein loyaler Mensch wissen muss.
Der Lärm am Zwergentisch wurde immer ärger. Sie hatten zu spielen aufgehört. Verständnislos glotzte der taube Hofriese seine Partner an und schleifte verlegen mit seinen klobigen Händen, die mit krapfengroßen Hühneraugen reich besetzt waren, am Fußboden hin und her.
Achtungsvoll grüßend setzte sich Eynhuf an den Spieltisch und konnte allmählich dem erregten Gespräch entnehmen, dass es eine hitzige Debatte ob der Anmaßung der neuen Hofbediensteten gegeben hatte. So viel stand fest: Zumpi hatte einen Todfeind. "Was glauben S', was ist heute geschehen?", wandte er sich an Eynhuf. "Wir haben eine Neujahrskollekte für den Waisenfonds der Hofspaßmacher und Hofkünstler eröffnet, und da hab ich mich an einen gewissen Beethoven, einen Mann, der zur Zunft der Hofpfeifer gehört, gewendet. Der grobe Ding der, stocktaub ist er, hat mich zuerst gar nicht gesehen, dann hat er mir mit der Fliegenklappe gedroht, und heut auf der Straße hat er mich sogar mit 'm Stock schlagen wollen. Ein unfriedlicher Mann das, der nie a Köchin hat, muss sich selber kochen, hat jeden Tag an Mordsbahöl am Aschenmarkt, wann er einkauft. Alle drei Tag ziegt er aus, nächstens kommt er wieder ins Querulantenhaus."
"Oho, da werd ich bitten!", verwahrte sich Eynhuf. "Mit so unmusikalischen Menschen wie der kann ich als gottlob geschmackvoller Musiker nicht unter einem Dache leben. Übrigens hat er die Noten für den Futzler, hör ich, schlecht kopiert und der Herr Hofrat Unklar hat ihm die Violinstunden für seinen Herrn Sohn längst entzogen. Aber warten Sie! Der Beethoven isst jetzt schon öfter bei der Schmauswaberl um sieben Kreuzer zu Mittag, brütet dumpf vor sich hin und hat unlängst mit einem Indianknochen die ganze Zeit Takt geschlagen. Hat gar nicht gemerkt, wie die Bubenzopfmädeln dürren Hundsmist in seinen am Boden stehenden Zylinder gegeben und ihm mit Kreide eine grobe Unanständigkeit auf den Rücken gemalt haben. Hab da ausnahmsweise ein Auge zugedrückt."
"Recht ham S' g'habt", murrte der Zwerg, "aber die Rabenviecher sollt man dem Schinder geben."
"So, haben Sie vielleicht auch üble Erfahrungen gemacht, Herr von Zumpi?", erkundigte sich teilnehmend der Sekretär. Doch Zumpi erhob sich, sah Eynhuf misstrauisch an, griff murmelnd nach seinem struppigen Zylinder und entfernte...