Schweitzer Fachinformationen
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Später sagte er immer, er hätte es bereits an dem Knarzen der Treppenstufen gehört, das in seinen Ohren wie das Wimmern eines Kindes klang. Und an den Schritten vor unserer Wohnungstür, die abrupt innehielten, um gleich darauf von einem energischen Klopfen abgelöst zu werden. An dem Zögern des Jungen, der ihm das Telegramm mit gesenktem Blick in die Hand drückte. Meine Schwester Isobel kämmte mir gerade im Wohnzimmer das lange Haar, das sie immer Drahtgeflecht nannte, weil es sich so schwer bändigen ließ und meistens aussah, als wäre ich in einen Sturm geraten. Meine Mutter lag auf dem Bett in der Nische: aufrecht mit dem Rücken gegen einen Berg Kissen gelehnt, blätterte sie in einer Zeitschrift, die auf der nun deutlich sichtbaren Wölbung ihres Bauchs lag und bei jedem Atemzug ein Stück zur Seite rutschte.
Mein Vater stand wie angewurzelt im schmalen Flur, selbst als der Botenjunge schon längst weg war. Sein Weggang hatte eine gespenstische Stille hinterlassen, die nicht einmal das Ticken der Küchenuhr durchbrechen konnte. Um Punkt sieben Uhr war sie stehen geblieben.
Isobel legte die Bürste beiseite und strich mir mit der flachen Hand über das Haar, etwas, das sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Es hatte etwas Tröstendes an sich, und als mein Vater sich zu uns umdrehte und ich den Schmerz in seinen Augen sah, wusste ich, dass wir alle Trost brauchen würden. Isobel zuckte ganz leicht zusammen, als Vater sich in den Türrahmen stellte, immer wieder den Kopf schüttelte, während seine grünen Augen sich mit Tränen füllten. Das Telegramm fiel geräuschlos zu Boden - wie ein Staubkorn.
»Arthur? Wer war das?« Meine Mutter legte die Zeitschrift neben sich, richtete ihren Oberkörper kerzengerade auf und runzelte die Stirn, weil sie keine Antwort bekam. »Arthur?«
Ich weiß noch, dass ich die Luft anhielt, weil mich der Anblick meines Vaters so erschreckte, wie er zitternd zu Boden ging, den Mund lautlos geöffnet, nach Worten ringend, die einfach nicht herauskommen wollten. Bis er einen Schrei ausstieß, spitz und durchdringend, der unser aller Herzen durchbohrte.
»Artie. Es ist Artie, oder?« Die Stimme meiner Mutter klang ruhig, als sie die Füße vorsichtig aus dem Bett schwang und sich, stöhnend den Bauch haltend, aufrichtete.
»Nicht, der Arzt hat gesagt -«, rief Isobel, doch meine Mutter brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. Trotz ihrer äußeren Ruhe wirkte sie so zerbrechlich wie nie zuvor in ihrem langen Nachthemd mit den weißen Rüschen am Kragen, die sie extra angenäht hatte, damit die Narbe am Hals verdeckt wurde, von der sie nie erzählt hatte, woher sie stammte. Das dunkelblonde Haar war zu einem Zopf geflochten und fiel ihr bis über die schmalen Schultern. Die Wangen waren blass und eingefallen, die Lippen spröde. Seit Beginn der Schwangerschaft übergab sie sich mehrmals am Tag und verlor stetig an Gewicht. Der Arzt hatte ihr Bettruhe verordnet und gesagt, sie würde das Baby vermutlich verlieren, wenn sie noch mehr abnahm. Seitdem hatte sie erneut fast zwei Pfund verloren.
Mein Vater wischte sich mit der Hand über Augen und Mund, holte tief Luft und erhob sich schwerfällig. Seine Nasenflügel blähten sich, der Schnurrbart zitterte, und ich hörte seine Zähne klappern, obwohl ein Feuer im Kamin brannte. Mit zwei Schritten war er bei meiner Mutter und drückte sie sanft aufs Bett zurück. Er legte vorsichtig seine Hand auf ihre Schultern, schluckte schwer und wandte sich von ihr ab, bevor er sprach. Seine Stimme klang wie das Knistern von Folie, einige Silben verschluckte er gänzlich.
»Ein Luftangriff der Deutschen .« Er ging zurück Richtung Flur, bückte sich nach dem Telegramm und hielt es zwischen zwei Fingerspitzen, so als wollte er es am liebsten gar nicht berühren. »Der Dachstuhl des Hauses fing Feuer, das Haus wurde zerstört. Sie sind beide tot.«
Ich weiß noch, dass ich nicht verstand, von wem er sprach. Wir kannten keine Deutschen, die ein Haus hatten. Als meine Schwester zitternd ihre Arme um meinen Körper legte und mich an sich zog, dämmerte mir allmählich, dass ich ihn falsch verstanden haben musste. Meine Kehle schnürte sich zu; ich begann zu zittern. Isobel drückte ihren Kopf gegen meinen, ihre Tränen tropften auf meinen Scheitel und in meinen Nacken. Artie, mein kluger, immer zu Späßen aufgelegter Bruder, war tot.
Ich kannte Zeppeline nur von Fotografien. In der Buchhandlung unseres Vaters lagen ein paar Postkarten aus, die diese - in meinen kindlichen Augen - seltsam geformten Flugschiffe zeigten. Während mein Bruder Artie meinen Vater mit Fragen über Geschwindigkeit und die Ausstattung löcherte, jagte mir deren Anblick Angst ein. Ich empfand sie als bedrohlich und konnte nicht verstehen, wie so ein Ding in die Luft steigen konnte, wieso Menschen freiwillig damit fliegen sollten. Mir wurde bereits schwindelig, wenn ich auf einen Hocker steigen musste. Ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, dass man Zeppeline dazu benutzen könnte, Brandbomben auf Häuser abzuwerfen.
»Damit kann man Ozeane überqueren, Emma«, sagte Artie eines Tages mit leuchtenden Augen und wedelte mit der Postkarte vor dem Tresen herum, bevor mein Vater sie ihm vorsichtig abnahm und zurück auf den Stapel neben die Kasse stellte.
»Das kann man auch mit einem Schiff«, war meine Antwort, woraufhin Vater mir über das Haar strich und zustimmend brummte. »Aber stell dir nur vor, wie aufregend es sein muss, so hoch über dem Boden zu fliegen.« Artie, der mit seinen fünfzehn Jahren fast genauso groß wie unser Vater war, stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen weiteren Blick auf den Stapel Postkarten zu werfen. Manchmal durften wir uns eine Karte aussuchen und an die Pinnwand in die Küche hängen. Es hingen schon welche aus Paris und London und zwei von einem Automobil dort. »Na, schön, nimm dir schon eine«, sagte Vater seufzend. Ich erinnere mich, dass Artie fast einen Luftsprung gemacht hatte, bevor er die Karte vom Stapel nahm und vorsichtig in seiner Westentasche verstaute. Später hing die Postkarte mit dem grässlichen Zeppelin über seinem Bett. Oft starrte er sie minutenlang nach dem Aufwachen an und verpasste dadurch beinahe das Frühstück. Mehrmals wurde ich von unserer Mutter in sein Zimmer geschickt, um ihn zu holen. Da saßen wir oft noch ein paar Minuten auf seinem Bett, und er schwärmte vom Fliegen oder erzählte mir, welche Abenteuer er später erleben wollte. Mal war es eine Safari in Afrika, dann die Erforschung eines Ureinwohnerstammes auf einer Pazifikinsel. Artie las unheimlich viele Bücher und hielt sich anschließend nicht mit seinem neuen Wissen zurück, was Isobel mitunter dazu verleitete, ihn einen »unausstehlichen Besserwisser« zu nennen.
»Man fährt in einem Zeppelin und fliegt nicht, wusstest du das?«, fragte er eines Morgens, als wir nebeneinander auf seinem Bett lagen und die Postkarte an der Wand anstarrten.
»Nein, es fliegt doch«, sagte ich und wandte schnell wieder meinen Blick von dem monströsen Ding ab. Es verursachte mir eine Gänsehaut. Je länger ich die Karte anstarrte, umso bedrohlicher kam es mir vor. »Ich finde Flugzeuge schöner. Aber damit fliegen möchte ich auch nicht«, meinte ich.
»Zeppeline sind so viel besser als Flugzeuge«, erwiderte Artie verträumt, verstrubbelte mir das Haar und stand endlich auf, damit wir zum Frühstück gehen konnten. Obwohl ich die Postkarte hasste - und später nach seinem Tod noch viel mehr -, liebte ich diese zwei, drei Extraminuten mit meinem Bruder, in denen er mir das Gefühl gab, ein Teil seiner Welt zu sein, in die er sonst kaum jemanden ließ. Wir hatten nicht viel gemein. Er war vier Jahre älter und verbrachte seine Freizeit am liebsten mit Lesen und dem Zeichnen von Automobilen. Manchmal spielten wir Verstecken zwischen den Regalen in der Buchhandlung, Isobel, Artie und ich, aber meistens war er für sich alleine. Unsere Mutter nannte ihn immer liebevoll ihren kleinen Einsiedler.
An dem Tag, an dem wir das Telegramm mit der Todesnachricht erhielten, rannte ich in sein Zimmer und riss die Postkarte von der Wand. Mit zittrigen Fingern zerriss ich sie in der Mitte, dann noch einmal und noch einmal, während heiße Tränen meine Wangen hinabrollten und auf den Kragen meines Kleides tropften. Am Ende war die Postkarte ein Meer aus grauen Schnipseln, einige wellig von meinen Tränen. Es hatte etwas Triumphales - wenn auch nur für einen sehr kurzen Moment -, die Überreste des Ungetüms mit der Hand auf den Boden zu fegen, wo sie wie Konfetti auf den Teppich rieselten. Doch dieses Aufflackern von Befriedigung verschwand mit einem Schlag, als mein Blick die kahle Stelle an der Wand streifte. Mir wurde bewusst, dass ich Arties wertvollsten Besitz zerstört hatte.
Das ist nicht nur eine Karte, Emma, es ist der Eintritt in eine andere Welt. Eine aufregende Welt.
Mit der flachen Hand strich ich über den rauen Putz an der Wand, malte mit dem Zeigefinger die Konturen der Karte nach und brach in Tränen aus. Mein Vater fand mich Minuten später auf dem Fußboden, wie ich verzweifelt...
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